Klaus-Rüdiger Mai: "Der Vatikan"
Geschichte einer Weltmacht im Zwielicht
Der
Genius Loci - der Geist
des Ortes - des "Transitraums der Ewigkeit"
"Der Vatikan - das ist eine außerordentlich vitale
Einheit von
menschlichem Leben und lebender Architektur, genauer, der einzige Ort,
an dem
mit Stein, Mörtel, Macht, menschlichen Schicksalen und
Weltpolitik gebaut wurde
und wird. Den Vatikan verstehen zu wollen heißt, ihn in all
diesen
unterschiedlichen Materialien, die ihn ausmachen wahrzunehmen",
so
beginnt Klaus-Rüdiger Mai sein Sachbuch über eine
Weltmacht: die des Glaubens,
die jedoch wegen mangelnder Transparenz und einer mehr als
wechselvollen
Geschichte heutzutage in einem schummrigen Zwielicht steht.
"Klar" sind eigentlich nur die Konturen dieses vierundvierzig Hektar
großen Zwergstaates, die zwar hinter einer großen
Mauer verborgen gelegen,
aber von der Kuppel des Petersdomes für jedermann einsehbar
sind. Dieser überschaubare
Gebäudekomplex scheint in einem geradezu umgekehrten
Verhältnis zu seiner
Macht zu stehen, über die sich die meisten von uns keine
Vorstellungen machen können.
Unbestritten jedoch haben die Vorgänge im Vatikan deutliche
Auswirkungen auch
auf das Leben von Nichtkatholiken.
Dunkel-schauriger Verschwörerzirkel alter
Männer
Klaus-Rüdiger Mai, der bereits ein Buch über Joseph
Ratzinger, den derzeitigen
Papst Benedikt XVI. schrieb und zu einer "ARD"-Dokumentation
über
selbigen das Drehbuch lieferte, ist dem Mythos zumindest näher
gekommen. Er
wirft einen fundierten, kritischen, aber doch wohltuend
unabhängig-nüchternen
Blick auf den Staat, "der ganz aus einem
unauflöslichen Gewebe aus
Gestern und Heute, aus Geschichte und Gegenwart, aus Ewigkeit und
Endlichkeit
besteht" und dessen Genius Loci, der Geist des Ortes, all
jene
erwartet, die hierher kommen, egal ob berufen oder beworben, denn
geboren wird
hier niemand. Und eben jener Genius Loci lässt vielleicht dem
einen oder
anderen Menschen, der hier arbeitet, eine Frage des russischen Dichters
Boris
Pasternak gar nicht so unglaubhaft erscheinen: "He, ihr da
draußen,
welches Jahrhundert haben wir eigentlich?"
Nicht zuletzt haben zahlreiche Romane oder Thriller,
die in den Mauern
des Vatikans spielten, ihn zum Ort von List, Intrige und
rücksichtslosem
Machtmissbrauch eines anonymen, dunkel-schaurigen
Verschwörerzirkels alter Männer,
zum erstickenden Gefängnis und Grabmal für lebende
Tote gemacht. Doch dem
Autor gelingt es - immer an der Wahrheit interessiert -, dass man sich
von
diesen Märchen löst und das päpstliche
Verwaltungszentrum als "eine
zuweilen höchst unvollkommene Bürokratie, die in
seltsamer Parallelität zu
ihrer Zeit lebt" wahrnimmt.
Spekulationen schließt Mai von vornherein aus. Er ist sich
sicher, dass man den
Vatikan nur aus seiner Geschichte heraus verstehen kann, und diese
entblättert
er fundiert und akribisch vor dem Leser. Auch wenn einem auf Grund der
Vielzahl
an Namen und Daten zuweilen der Kopf schwirrt, so ist sein Sachbuch
eine Reise
von "der Stunde Null", von der Kreuzigung Jesu und der
Verbreitung
seines Glaubens durch seine Jünger, besonders jedoch des
Shim'ôn, eines galiläischen
Landsmanns - seines Zeichens Fischer (Ursprung des päpstlichen
Fischerringes)
-, dem Jesus den Beinamen Kephas (griechisch Petros, lateinisch Petrus)
verlieh
und dessen Gebeine letztendlich die Errichtung des Petersdoms
bewirkten, bis hin
in die aktuelle Gegenwart.
Anstrengend, aber gut strukturiert
Der Autor nimmt den Leser mit auf einen Weg, der manches Mal ein
äußerst gefährlicher
Pass, ein anderes Mal eher ein schlammiger Trampelpfad war,
gesäumt bisweilen
mit Grausamkeiten wie der Hexenverbrennung im Namen der Heiligen
Inquisition,
Auftragsmorden, Vetternwirtschaft und Fälschungen, Inzest,
Sodomie oder den fürchterlichen
Glaubenskriegen, die Europa über Jahrhunderte hinweg
erschütterten.
Jahrhundert für Jahrhundert schreitet der Lesende diesen
mitunter literarisch
anstrengenden, zuweilen ermüdenden, aber gut strukturierten
historischen Weg
und lernt so die einzelnen
Päpste - neben der Entstehung und
der Entwicklung
des katholischen Glaubens - beinahe persönlich kennen.
Ein zwanzigseitiger Anhang, der die Hauptzweige der christlichen Kirche
schematisch darstellt und ihre größten
Glaubensrichtungen kurz erläutert,
sowie eine chronologische Liste aller Päpste ergänzen
das opulente Sachbuch.
Letztendlich gestattet sich Klaus-Rüdiger Mai noch einen
Ausblick in die
Ewigkeit des Vatikans und stellt sich die hypothetische Frage, ob diese
alte
Institution in Zukunft noch einen Platz hat. Eines ist auf alle
Fälle belegt,
und so endete Mais "Geschichte einer Weltmacht im Zwielicht":
"...
der Vatikan ist immer für eine Überraschung gut."
Fazit:
"Der Vatikan ist der Ort der Geschichte und der Geschichten
schlechthin.
Seine Wände haben alles gesehen, was man sehen kann, seine
Türen alles gehört,
was man hören kann, und seine Fußböden
alles ertragen, was man ertragen kann:
Glück und Gier, Macht und Schwäche, Hurerei und
Enthaltsamkeit, Treue und
Verrat, Liebe und Hass, Triumph und Verzweiflung,
Gleichgültigkeit und
Sorgen." Klaus-Rüdiger Mai hat versucht, in dessen
steinernem Buch zu
lesen und es kompetent, spannend, abenteuerlich und
ausführlich zu entziffern
und zu analysieren. Eine vollständige Dechiffrierung wird wohl
keinem
weltlichen Bürger möglich sein.
(Heike Geilen; 07/2008)
Klaus-Rüdiger
Mai: "Der Vatikan. Geschichte einer Weltmacht im Zwielicht"
Gustav Lübbe Verlag, 2008. 512 Seiten.
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