Murat Uyurkulak: "Zorn"


"Zorn" ist das Romandebüt Murat Uyurkulaks, der nach einigen anderen Dingen, mit denen er das Leben bestritt, heute Auslandskorrespondent der Tageszeitung "Bir Gün" ist. Sechs Jahre nach dem Erscheinen des Buches in der Türkei ist "Zorn" im August 2008 nun auch als gebundene Ausgabe im Rahmen der "Türkischen Bibliothek" des Unionsverlages erschienen. Der Roman umfasst mitsamt dem Nachwort von Jens Peter Laut 345 Seiten und verlangt seinen Lesern einiges ab.

Der junge Ich-Erzähler ist erst kurze Zeit innerhalb des Romans unterwegs, als er sich plötzlich in einem Zug wiederfindet. Ihm gegenüber sitzt ein ihm grob bekannter älterer Mann, der unter dem Beinamen "der Dichter" bekannt ist. Nach kurzer Zeit ist klar, dass der Erzähler sich auf Wunsch seines nicht zufälligen Gefährten auf dem Weg nach Diyarbakır befindet, und plötzlich zieht "der Dichter" eine Reihe Geschichten hervor und fordert den jungen Mann auf, sie nach und nach zu lesen. So verbringen sie die Fahrt, immer unterbrochen von Gesprächen zwischen der Lektüre.

"Zorn" ist ganz klar ein Roman, der sich an Kenner der türkischen Geschichte wendet. Ohne profunde Kenntnisse derselben ist der Leser schon nach kurzer Zeit aufgeschmissen. Man kann zwar dennoch weiterlesen, spontan einige Lücken mit Hilfe des umfangreichen Nachwortes zu schließen versuchen, aber letzten Endes wird man doch vornehmlich ein Buch lesen, bei dem man das Gefühl hat, ständig die Pointe zu verpassen - und genau genommen ist es auch so.

Die "inoffizielle Geschichte" der Türkei, die 1960 beginnt, ist zudem keineswegs eine kontinuierliche Erzählung, sondern aus einer Vielzahl von Fragmenten zusammengesetzt. Die Zugfahrt und die Geschehnisse im Zug selbst, die Inhalte der Gespräche zwischen den beiden Fahrgästen, Erinnerungen an Menschen und Begebenheiten, immer wieder abgelöst von Fantasien und den zu lesenden Geschichten, die "der Dichter" dem Anderen reicht, all dies sind immer wieder lediglich Puzzlestücke auf dem Weg, die es zu sammeln und selbst zusammen zu setzen gilt; wirklich keine leichte Aufgabe.

Dass die Sprache ebenfalls keiner klassischen Erzähltradition folgt, sondern vielmehr ihrerseits fragmentarisch, verstört und verstörend, zumeist derb, brutal oder lakonisch ausfällt, setzt dem Ganzen noch einmal die Krone auf.

Wer den Wald vor lauter Bäumen noch erkennt, wird von diesem Roman sicherlich begeistert sein. Unpolitische Menschen oder solche, die zumindest von Geschichte und Politik der Türkei keine oder nur wenig Ahnung haben, werden von Uyurkulaks Debüt enttäuscht sein. In jedem Fall jedoch sollte man sich für die Lektüre sehr viel Zeit nehmen und das Buch am besten gleich mehrfach lesen. Sie werden feststellen, dass Sie auch beim vierten Mal noch nicht alle Details des Buches erfasst haben.

(Tanja Thome; 11/2008)


Murat Uyurkulak: "Zorn"
(Originaltitel "Tol")
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Nachwort von Jens Peter Laut.
Unionsverlag, 2008. 345 Seiten.
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Murat Uyurkulak, geboren 1972 in Adin, studierte zunächst Jura, dann Kunstgeschichte in Izmir, brach jedoch beides ab und zog schließlich nach Istanbul. Er hat Bücher u. a. von Edward Said und Mikhail Bakunin ins Türkische übersetzt. Sein erster Roman wurde 2002 veröffentlicht und erregte sofort größtes Aufsehen, seither gilt Murat Uyurkulak als eine wichtige literarische Stimme in der zeitgenössischen türkischen Literatur. Theaterfassungen liegen von "Zorn" bereits auf Deutsch und Polnisch vor. Sein zweiter Roman "Har" wurde von der Literaturkritik ebenfalls enthusiastisch rezipiert.

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Dieser Band vereint Kostbarkeiten aus dem reichen Erzählschatz Anatoliens. Im deutschen Sprachraum Bekanntes wie ein Tischlein, das im Handumdrehen die herrlichsten Leckereien herbeizaubert ist darin ebenso anzutreffen wie für den türkischen Raum Typisches, beispielsweise der kahlköpfige Junge aus ärmlichen Verhältnissen, der mit List und Verstand seine Umwelt überrumpelt. Böse Drachen, aber auch gute, mit Zauberkräften ausgestattete Helfer aus dem Tierreich sind vertreten: "Kamertaj", das Mondross, das die Heldin oder den Helden überall hinfliegen kann, oder "Der Smaragdphönix", dessen majestätische Flügel die Sonne verdecken können. Im Zentrum der Geschichten steht immer wieder die Schlauheit der Frauen, die im türkischen Märchen erstaunlich emanzipiert auftreten und ihren männlichen Widersachern in nichts nachstehen.
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Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Petra Kappert und Tevfik Turan.
Dreißig türkische Autoren der Gegenwart präsentiert dieser Band. Er spiegelt damit das breite Spektrum der türkischen Erzählliteratur seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts wider.
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Mit Texten von Sait Faik, Orhan Kemal, Aziz Nesin, Yasar Kemal, Adalet Agaoglu, Nedim Gürsel, Orhan Pamuk u.v.a. (Insel)
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Leseprobe:

Ich, Yusuf, arbeitete als Korrektor in einem Verlag, der Mainstream-Bücher herausgab. Ich korrigierte Bücher, die aus Lexikoneinträgen und Geschichtschroniken zusammengeschustert wurden. Jeden Tag sah ich zu, wie dunkelhaarige Männer und Frauen, die mit Stößen von feuchtem, schlechtem Papier unterm Arm zur Tür hereinkamen und aus ihren Bärten, Haaren und sämtlichen intimen Stellen vor Wut geradezu rauchten, hochkant wieder hinausgeschmissen wurden.
Der Verleger, dem das Gewissen unter die Gürtellinie gerutscht war, konnte sich in seiner honorigen Art wohl nur schwerlich vorstellen, dass er auf meiner Todesliste einen der fünf ersten Plätze einnahm. Bei dem Tod, den ich mir für ihn ausgedacht hatte, spielten nicht nur ein Scheiterhaufen aus seinen eigenen Büchern, sondern auch eine Guillotine und ein Katapult eine Rolle.
Als Korrektor ist man eine Art Triebtäter. Korrektoren sind Leute, die plötzlich von einer frischgedruckten Seite aufblicken und in das Gewand eines Serienkillers schlüpfen können. Zumindest alle, die ich kannte - mich eingeschlossen - waren so.
Gefunden hatte ich diese Arbeit durch einen seltsamen Zufall: Eines Tages hörte ich in einer Kneipe am Nebentisch jemanden lauthals lachend erzählen, wie in irgendeinem Verlag ein altgedienter Korrektor entlassen worden sei, weil er abends am Schreibtisch seinen Arbeitstag masturbierend ausklingen ließ. Ich wiederum masturbierte damals zwar oft, aber auf meinem Hotelbett und höchstens unter Zuhilfenahme einer schmutziggelben Boulevardzeitung. So hatte ich Zeit und Geduld mehr als genug, um einen Arbeitstag auf anständige Weise hinter mich zu bringen.
Am nächsten Tag wurde ich bei dem Verlag vorstellig, blickte der Frau, die mich empfing, treuherzig in die Augen und wurde genommen. Irgendwann hieß es dann, ich sei ein intelligenter Mensch. Ich arbeitete mich ein, ohne je einen Rüffel zu bekommen, schuftete wie ein Verrückter, sah nicht nach rechts und nicht nach links, und schließlich hatte ich den Bogen raus. Bei fünfhundert korrigierten Seiten entging mir kein einziges falsch gesetztes Komma. Alle Zeichen und Wörter hatten wie Ziegelsteine ihren bestimmten Platz; es genügte, sie dort einzupassen.
Daher war es wohl tatsächlich echtes Bedauern, was ich auf dem Gesicht meines Chefs las, als er eines Morgens heftig paffend in dem abgerissenen grünen Aktenbündel auf seinem Schreibtisch blätterte und mir schließlich bedeutete, ich sei entlassen. Ich war ein fleißiger, stiller, folgsamer Mitarbeiter. Seit Jahren arbeitete ich für ein Butterbrot, ohne je aufzumucken. Warum sollte der Mann mich entlassen? Es waren doch alle Verfahren gegen mich eingestellt worden, und ich dachte, dass die Polizei sich für mich nicht mehr interessierte.
Nun hatte aber mein Chef die grüne Akte vor sich liegen, deren Papiere ich damals, als sie noch nagelneu war, mit blutigen Unterschriften besudelt hatte. So stimmte also, was in manchen Zeitungen immer wieder angedeutet wurde: Sie ließen einen auch dann nicht los, wenn alles schon vorbei zu sein schien. Und die Akten, die sie in Händen hielten, hetzten sie wie einen Fluch hinter uns her. Sie merkten sich einen, vergaßen nichts, und brachten so tausende Menschen um ihre Arbeit.
Der Chef gab liebend gerne zum besten, wie er einmal zwei Tage in Untersuchungshaft gesteckt und dabei Prügel bekommen hatte, so als ob er der Einzige wäre, dem man übel mitgespielt hatte, aber er war eben ein ausgemachter Feigling. Er hatte sich in eine gute Stellung hochgemogelt, es ging ihm prächtig, und daran sollte sich nach Möglichkeit nichts ändern.
Er fand bei meiner Entlassung recht deutliche Worte: Ich sei ein Separatist, ein Terrorist, ein Verdächtiger, und an eine weitere Zusammenarbeit sei unter diesen Umständen nicht zu denken. Ich fragte mich, ob er zwischendurch ein klitzekleines "tut mir leid" unterbringen würde. Tat er nicht. Er sah mir ins Gesicht wie ein blitzblanker weißer Nachttopf, wünschte mir noch "viel Erfolg" und versenkte sich wieder in die vor ihm liegenden Papiere.
Als ich aufstand, war mir zum Kotzen zumute. Ich sammelte meine Habseligkeiten zusammen, murmelte ein paar Leuten einen Abschiedsgruß zu, kaufte mir dann gleich an der nächsten Straßenecke eine kleine Flasche Cognac und setzte sie an die Lippen.
Ich versuchte den Heimweg so lang wie möglich hinauszuzögern und mir die Einzelheiten einer notgedrungen vorgezogenen Abschiedszeremonie zurechtzulegen. Ich durfte keine Spuren hinterlassen. Zuerst musste ich aus dem karierten Heft die Seiten mit den freibleibenden Kästchen herausreißen und verbrennen. Dann musste ich die Pornokassetten in eine möglichst weit entfernte Mülltonne werfen. Und es mussten noch ein paar mit unsinnigen Sätzen vollgekritzelte Blätter vernichtet werden.
Ich durfte keine Spuren hinterlassen. Niemand sollte wissen, dass ich noch lebte. Ich wollte diesem Schlamassel entrinnen und schlimmstenfalls in irgendeiner Zeitung unter einer einzeiligen Überschrift in einer Schriftgröße von elf Punkt in einem so kleinen Artikel vorkommen, dass für ein Foto kein Platz mehr war.
Ich hatte aber mit der Zeremonie zu lange gewartet. Als Letztes kann ich mich noch erinnern, dass ich bei Tagesanbruch wieder eine Flasche Cognac kaufte und mich dann auf jenem ständig von Taxis belagerten Platz auf eine Bank legte, neben einen schmutzigen Köter, der fortwährend an mir herumleckte.
Ich glaube, bevor ich einschlief, sagte ich zu dem Hund noch etwa folgendes: "Früher war ich mal eine Schlagzeile, heute bin ich gerade noch elf Punkt groß."

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