Dubravka Ugrešić: "Baba Jaga legt ein Ei"
Literarischer Hexenspaß im Kurort
"Zuerst sehen Sie sie nicht ... Ja, zunächst sind sie unsichtbar, gehen wie Schatten an Ihnen
vorbei ... Es gibt auch Rüstige unter ihnen, in einem tief dekolletierten
Sommerkleid ... Sie kullern an Ihnen vorbei wie ein Haufen verschrumpelter
Äpfel ..."
Dubravka Ugrešić hat sich für ihren Beitrag zur
Mythenserie des britischen Verlags Canongate Books den Mythos der Baba
Jaga ausgesucht und beweist eindrucksvoll, dass die Baba Jaga eine mythische Figur ist und erst in einer veränderten Form in der Märchenwelt gelandet ist.
Sie weist darauf hin, dass einige Forscher der Meinung sind, "dass sie die Große Göttin, die Mutter Erde, war; dass andere sie für die einstige slawische Totengöttin (Jaga zmeja bura) halten; dass Dritte glauben, dass sie die Herrscherin über die Vögel (wovon die Hütte aus Hühnerbeinen und die lange Nase, die an einen Schnabel erinnert, übrig geblieben sind) ist und dass Vierte sogar meinen, dass sie die Rivalin der slawischen Göttin Mokosch war und sich
mit der Zeit zu einem Androgyn wandelte, dass zur Göttin der Vögel und der Schlangen mutierte, danach zu einem anthropomorphen Wesen, das schließlich auch weibliche Züge
bekam ..."
Mit diesen Gedanken als Ausgangspunkt entwickelt Dubravka Ugrešić ein geistreiches, funkelndes Kammerspiel vor des Lesers Augen.
Nach einem einleitenden Prolog beginnt der erste Teil "Gehe nach Ich-weiß-nicht-wo, bringe Ich-weiß-nicht-was" wie die autobiografische Erzählung einer Ich-Erzählerin, die Dubravka
Ugrešić sein mag, oder auch nicht. Diese Erzählerin kümmert sich im ihre alte Mutter, und der Erzählfluss strömt scheinbar harmlos und weit vom Thema entfernt vorbei.
Unter dieser vermeintlich harmlosen und unterhaltenden Oberfläche schimmert jedoch permanent themabezogene Symbolik durch, schon die ersten paar Sätze strotzen nur so vor ornithologischer Symbolik. Wörter bröseln auseinander, man erfährt, wieso Sauberkeit die halbe Gesundheit ist und macht die Bekanntschaft der geheimnisvollen "kleinen Bulgarin" Aba, die plötzlich fast Mittelpunkt dieser Geschichte wird.
Virtuos baut sich Spannung auf, die sich in einer kuriosen Varna-Reise entlädt.
Im zweiten Teil "Du kannst fragen, aber nicht jede Frage bringt Gutes", den Dubravka
Ugrešić virtuos und mit schelmischem Augenzwinkern in einen tschechischen Kurort verlegt, werden bisherige Randfiguren plötzlich zu den Hauptprotagonistinnen. Sie schafft eine Szenerie, die entfernt an die Schauplätze verschiedener Romane
von Milan Kundera erinnert. Ein meschuggener Doktor mit seinen beiden frivolen Gehilfinnen, ein pensionierter Rechtsanwalt, ein geldgieriger (und nicht besonders heller) und reicher US-Amerikaner mit dem Namen Mr. Shake und ein eher dümmlicher Masseur sind die menschlichen Repräsentanten des mythologischen Umfelds der Baba Jaga, die hier als heiteres Damentrio Pupa, Beba und Kukla erscheint. Dieser Mittelteil "in sechs Tagen (inkl. Epilog)", der einem "Roman" am ähnlichsten ist, ist der längste Teil und damit auch Herzstück dieses Buches.
In diesem Teil trifft die Autorin einen herrlich märchenhaften Ton; trockener Humor rundet das vollendete Bouquet ab.
Im dritten Teil "Wer viel weiß, wird bald alt" zieht Dubravka
Ugrešić virtuos den perfekten Joker aus ihrer literarischen Trickkiste und lässt den Leser an einer unterhaltenden Lehrstunde "Baba Jaga für Anfänger" teilhaben, der auch die Leser aufklärt, die einen vielleicht offensichtlicheren Bezug zum Thema in den vergangenen Teilen suchen. Es zahlt wirklich sich aus, die teilweise eher umfangreichen Fußnoten genau zu verfolgen, da man sonst vieles kleine Wichtigkeiten verpasst, die einem eröffnen, wie blind man hinsichtlich bereits gelesener Seiten teilweise war.
Die Autorin hat ein brillantes literarisches Hexenspiel geschrieben, ein virtuoses Spiel mit themenverwandter Symbolik; ein kleines Beispiel - man verfolge erstaunt, wie die Akteure zahlenmäßig in den verschieden Teilen dieses Prosawerks verteilt sind, oder man vergleiche die Relationen der Seitenanzahlen der Teile. Wenn dann im dritten Teil vermeintlich eine Protagonistin (zur Erfüllung der "korrekten" Personenanzahl) fehlt, so sollte man nicht vergessen, wer hier die Fäden zieht ...
"Baba Jaga legt ein Ei" ist eine großartige Verbindung von
Literatur und
Mythologie, ein überragendes Beispiel der Kunst Dubravka
Ugrešić und ein "böses Hexenspiel" mit dem glücklichen Leser, der geistreich unterhalten, literarisch gefordert und an der Nase herumgeführt wird.
Faszinierende Prosa und ein Hexenspaß, der nach dem Zuklappen von "Baba Jaga legt ein Ei" sofort den Wunsch aufleben lässt, gleich noch einmal beim Prolog zu beginnen, was ich jetzt auch mit größtem Vergnügen tun werde ...
(Roland Freisitzer; 12/2008)
Dubravka Ugrešić: "Baba Jaga legt ein Ei"
(Originaltitel "Baba Jaga je snijela jaje")
Deutsch von Mirjana und Klaus Wittmann.
Berlin Verlag, 2008. 365 Seiten.
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Dubravka Ugrešić wurde 1949
im heutigen Kroatien geboren. Sie schreibt regelmäßig für "NRC
Handelsblad" und "Vrij Nederland", "DIE ZEIT" und
"Lettre International" und wurde mit zahlreichen Preisen
ausgezeichnet, darunter mit dem "Österreichischen Staatspreis für Europäische
Literatur 1999" und dem "Premio Feronio-Città di Fiano" in
Italien 2004. Dubravka Ugrešić lebt als Literaturwissenschaftlerin und
Schriftstellerin in Amsterdam.
Lien zur Netzpräsenz der Autorin:
https://www.dubravkaugresic.com/.
Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):
"Lesen verboten"
Die weitreichenden Veränderungen im Gefolge der Herausbildung eines globalen
Marktes für Literatur bis in ihre sprechenden Details schildert Dubravka Ugrešić
in ihren Essays. Ihr Befund lautet: Galten als zur Weltliteratur zugehörig
bisher Bücher, die qualitativen Maßstäben genügten, wird der Begriff gegenwärtig
quantitativ verstanden: Zur
Weltliteratur zählt nur noch, was sich auf der
ganzen Welt verkaufen lässt. Das hat zur Konsequenz: Autoren und Leser
sprachlicher Kunstwerke werden an den Rand der Kultur gedrängt, wie den
Rauchern sind ihnen die unvorteilhaftesten Reservate vorbehalten.
Die Zunahme von imaginären und realen Lesen-Verboten-Hinweisen bildet für die
Autorin jedoch keineswegs den Anlass zu einem kulturpessimistischen Lamento. Sie
kennt nämlich das Heilmittel gegen die Vorherrschaft der Marktgesetze innerhalb
der Literatur - und ihre Essays sind ein Beleg für deren Wirksamkeit: eine
kosmopolitische, transnationale Literatur, die souverän aus allen Kulturen schöpft,
dabei luzide ist und folglich ironisch sein muss. (Suhrkamp)
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"Keiner zu Hause"
Essays.
Mit trügerischer Leichtigkeit durchstreift Dubravka Ugrešić in ihren
Essays Orte und Kulturen, Zeitgeschichte und Politik, richtet des Lesers
Augenmerk auf die universelle Bedeutung scheinbarer Alltagsbanalitäten wie
"Evian"-Wasser und Vogelhäuschen und betrachtet umgekehrt die ganz
großen Themen mit nonchalanter Unverfrorenheit durch die allerkleinste Linse -
so zum Beispiel, wenn sie die Welt nach dem
11. September aus der Perspektive
der New Yorker Nagelstudios analysiert. Es entsteht ein ebenso scharfsinniges
wie humorvolles Bild der mentalen Koordinaten unserer Zeit.
(Berlin Verlag)
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"Das Ministerium der
Schmerzen"
Die junge Literaturwissenschaftlerin Tanja Lucic muss ihre Heimatstadt Zagreb
wegen des Krieges verlassen und landet als Dozentin für "serbo-kroatische
Literatur" an der Amsterdamer Universität. Ihre Studenten sind kaum jünger
als sie und stammen aus allen Teilen des ehemaligen Jugoslawien. Sie haben sich
immatrikuliert, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, nebenbei arbeiten
sie als Straßenmusiker, Servier- und Putzkräfte oder für eine Zuliefererfirma
der S & M-Ladenkette "Das Ministerium der Schmerzen".
Tanja entschließt sich, das Experiment einer "Katalogisierung" des
ex-jugoslawischen Alltags zu wagen, und die Ausgewanderten werden bald zu einer
verschworenen Gemeinschaft, die ihre bittersüßen Erinnerungen an Kindheit,
Sprache, Elternhaus und Lektüre zusammentragen. Die
persönlichen und
kollektiven Erinnerungen sind auch "Katalysatoren" in der angespannten
politischen Atmosphäre der Haager Kriegsverbrechertribunale, emotionale "Cocktails"
aus Verlust, Schuld und Traumata, mit denen sich diese Entwurzelten nun - im
Exil - konfrontiert sehen und die jeden Einzelnen von Ihnen vor die Frage
stellen, was von seinem zerbrochenem Leben noch zu retten ist. (Berlin Verlag)
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