Iwan S. Turgenjew: "Väter und Söhne"
Turgenjew
und der russische
Nihilismus
In den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in Russland
die
Denkrichtung des sogenannten russischen Nihilismus, einer vornehmlich
von der
Jugend getragenen Protestbewegung, die sich gegen die im Lande
bestehenden Verhältnisse
richtete, gegen die Rückständigkeit Russlands im
Vergleich zu anderen europäischen
Nationen sowie gegen die nur halbherzig durchgeführten
Reformen seitens der
Regierung. Die Bewegung ging ursprünglich von Vertretern der
jungen Generation
aus, die als Söhne gut betuchter Eltern an
ausländischen Universitäten ihren
Horizont erweitern konnten. Man lernte dort andere,
"fortschrittlichere"
Kulturen kennen, und so war die Auseinandersetzung zwischen
Vätern und Söhnen
nicht nur ein Generationenkonflikt, sondern in gewisser Weise auch ein
Kampf der
unterschiedlichen Kulturen. Für die konservative,
ältere Generation, die im
Nihilismus eine Untergrabung und Infragestellung alles Bestehenden sah,
stellte
dieser Nihilismus eine ungeheure Provokation, wenn nicht gar Bedrohung
dar.
Turgenjews "Vater und Söhne" war wohl der erste Roman, in
welchem
dieser Generationenkonflikt literarisch verarbeitet wurde, und die
Handlung des
Romans spielt auch in der Zeit des aufkommenden Nihilismus. Bei dem
Hauptprotagonisten, Jewgenij Basarow, handelt es sich um einen
typischen
Vertreter dieses russischen Nihilismus. Basarow ist ein nihilistischer
Don
Quijote, wie Jurij Murasov in seinem hervorragenden Nachwort sehr
treffend
bemerkt. Denn der Romanheld Basarow ist ein tragischer Held, er
scheitert an
seinem eigenen Selbstverständnis, das er in seinem Leben nicht
verwirklichen
kann und muss tatenlos zusehen, wie seine nihilistischen Ideale zu
Trümmern
verfallen.
Im ersten Teil des Romans erscheint Basarow dem Leser noch als ein
durch nichts
und niemand in seiner vorgefassten Meinung zu erschütternder,
polemisierender
Hochmutspinsel. Ein Mensch, der sich ganz an der damals rein
materialistischen
Haltung der Naturwissenschaft orientierte und allen romantisierenden
Ideen und
Vorstellungen ablehnend gegenüberstand. "Ein
ordentlicher Chemiker ist
zwanzigmal nützlicher als jeder Dichter." Doch im
zweiten Teil der
Geschichte wird der Romanheld selbst zum Spielball von Kräften
aus der
romantischen Vorstellungswelt wie beispielsweise der Liebe.
Dieses ambivalente Bild Basarows, das Turgenjew hier entwirft, spiegelt
seine
eigene unentschiedene Haltung zur Denkrichtung des Nihilismus wider.
Und so
fielen auch die Reaktionen von Turgenjews Zeitgenossen höchst
widersprüchlich
aus. Die Rezeptionsgeschichte seines Romans zeigt, dass sowohl die
Konservativen
als auch die von ihnen verächtlich als Nihilisten Bezeichneten
nicht mit Kritik
gespart haben. Die heutigen Leser werden ihm seine nicht eindeutige
Position zu
danken wissen, denn gerade daraus resultiert zum Großteil der
Reiz und die Überzeugungskraft
des Romans, der trotz seiner ganz in der damaligen Zeit verwurzelten
Handlung
Zeitlosigkeit für sich beanspruchen kann.
(Werner Fletcher; 07/2008)
Iwan
S. Turgenjew: "Väter und Söhne"
Mit einem Nachwort von Jurij Murasov.
Aus dem Russischen von Manfred von der Ropp.
dtv, 2008. 250 Seiten.
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Iwan
S. Turgenjew, geboren am 9.
November 1818
in Orel, gestorben am 3. September 1883 bei Paris, studierte Literatur
und Philosophie. Er
begann zunächst als Lyriker, schrieb dann sechs Romane und
zahlreiche Novellen.
Turgenjew gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des russischen
Realismus
und zählt zu den großen europäischen
Novellendichtern.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Unheimliche Geschichten"
Eine Neuauflage der besonderen Art: Entdecken Sie die unheimliche Seite
von
Turgenjews Werk.
Wahnvorstellungen, Somnambulismus, Trance und Hypnose - sechs
Erzählungen, die
den als Realisten bewunderten russischen Dichter auf ungewohntem
Terrain zeigen.
Die Novellen, die sich auf dem Grenzgebiet zwischen Realem und Irrealem
bewegen,
führen den Leser von den dunklen Seiten der menschlichen
Psyche bis hin zu den
Tiefen
okkulter
Erlebnisse. (dtv)
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"Faust"
Nach langer Zeit begegnet Pavel seiner Jugendliebe Vera
wieder, einer geheimnisvollen Schönheit, die mit einem Anderen
verheiratet ist
und dennoch mädchenhaft unberührt wirkt. Als Pavel
sie in die Welt der
Literatur einführt und ihr sein Lieblingswerk,
Goethes
"Faust",
vorliest, brechen die alten Gefühle erneut auf - was
Mächte weckt, die sich
bald nicht mehr kontrollieren lassen.
Auch Aleksej spielt leichtfertig mit den Gefühlen einer jungen
Frau, als er aus
Langeweile einen Briefwechsel mit Marja aufnimmt.
Die beiden Briefnovellen - die einzigen, die Turgenjew schrieb - sind
autobiografisch
gefärbt: In "Faust" spiegelt sich Turgenjews
Verhältnis zu Lew
Tolstojs Schwester Marja. "Ein Briefwechsel" nimmt Turgenjews
Beziehungen zu Tatjana Bakunina und zu Pauline Viardot auf.
(Dörlemann
Verlag)
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"Klara
Milič"
Angeregt durch den Selbstmord auf offener Bühne der
Opernsängerin Eulalia
Kadmina schrieb der große russische Gesellschaftsautor 1883
seine letzte und
wohl berühmteste Novelle "Klara Milič".
Der sensible Jakov Aratov lernt bei einer Gesellschaft die junge
Sängerin Klara
Milič kennen, die sich kurz darauf das Leben nimmt. Aratov bleibt
nichts als
eine Fotografie von ihr, die bald eine magische und noch
größere Faszination
auf ihn ausübt, als es die lebende Klara je vermocht hatte,
und er verfällt
dem Bildnis.
Auch "Das Lied der triumphierenden Liebe" erzählt von der
magischen
Macht der Liebe. Die schöne Valeria erliegt in einer
traumartigen Trance der
orientalischen Verführungskunst des Musikers Mucio. Als
Valerias Mann Fabio das
Geheimnis entdeckt, kommt es zur Tragödie. (Dörlemann
Verlag)
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"Aufzeichnungen eines Jägers"
Alles Andere als eine beschauliche Idylle ist das Landleben, wie es
sich den
Augen und Ohren des umherstreifenden Jäger-Chronisten
darbietet. Es wird
regiert von Verbohrtheit, Unmenschlichkeit und roher Gewalt. Turgenjews
meisterliche Komposition von zweiundzwanzig Novellen rundet sich zu
einem
eindringlichen Epochenbild Russlands zur Mitte des 19. Jahrhunderts.
Der Titel vermittelt in einer Art verharmlosender Camouflage, es
würde in
diesem Buch um landläufiges Jägerlatein gehen. Doch
die zaristische Zensurbehörde
ließ sich durch diese Finte nicht lange hinters Licht
führen und verbot die
"Aufzeichnungen eines Jägers" noch im Erscheinungsjahr. Die
Schilderung menschenunwürdiger Zustände, die
aufklärerisch-realistische
Figurenzeichnung, vom Leibeigenen bis zum Gutsbesitzer, vom Handwerker
bis zum
kleinen Beamten, wirkte trotz Verbots als Sprengstoff in der Diskussion
um die
Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland.
Mit der Novellensammlung von 1852 trat Turgenjew
die Erbschaft der Puschkinschen
Erzählkunst an. Die "Aufzeichnungen" begründeten im
Nu seinen Ruf
als Erzähler von europäischem Format. Die sanfte
Ironie, die die Erzählhaltung
wie in einem scheinbar absichtslosen Erlebnisbericht prägt,
erhöht die Drastik
des Geschilderten ungemein wirkungsvoll. Peter Urban,
maßgeblicher Kenner und
Vermittler russischer Weltliteratur, erschließt in seiner
Neuübersetzung den
Bedeutungs- und Nuancenreichtum des Werks mit der ihm eigenen
Meisterschaft. (Manesse)
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"Aufzeichnungen eines Jägers und andere phantastische
Erzählungen"
Turgenjew entstammte einer russischen Adelsfamilie.
Er studierte in Moskau, Sankt Petersburg und Berlin und lebte seit 1855
vorwiegend im Ausland - vor allem in Deutschland und Frankreich. 1863
wählte er
Baden-Baden
als ständigen Wohnsitz. Er war u.a. mit Theodor Storm, Eduard
Mörike und
Gustav Freytag befreundet. In Paris, wo er sich nach 1871
niederließ, traf er
u. a. mit
George
Sand, Gustave
Flaubert, Émile Zola, Prosper
Mérimée und
Henry James zusammen. Neben den
anderen beiden großen russischen Schriftstellern seiner Zeit,
Lew
Tolstoj und Fjodor
Dostojewskij, gehört Turgenjew zu den bedeutendsten
Vertretern des
russischen Realismus, dessen zentrales Thema das Leid der in
Leibeigenschaft
lebenden Bauern war, wie er es auf dem elterlichen Gut hatte beobachten
können.
Sein Erzählwerk zählt zu den literarischen
Höhepunkten des russischen
Realismus. (Marixverlag)
Buch
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Weitere
Buchtipps:
Gustave Flaubert, Ivan Turgenev: "Briefwechsel
1863-1880"
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Herausgegeben von
Peter Urban.
17 Jahre lang, bis zum Tode Flauberts, dauert diese Freundschaft, 235
Briefe
wandern in dieser Zeit zwischen den beiden Schriftstellern hin und her.
Sie
handeln von den Büchern und der Gicht, dem Altern und der
Dummheit - und immer
wieder von der gegenseitigen Zuneigung. (Diogenes)
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Josef
Rattner, Gerhard Danzer: "Der
Humanismus und der soziale Gedanke im russischen Schrifttum des 19.
Jahrhunderts"
In diesem Buch stellen Josef Rattner und Gerhard Danzer die
fortschrittlichsten Autoren Russlands im Zeitraum zwischen 1800 und
1900
hinsichtlich ihrer Biografie und ihrer kulturellen Wirkung vor.
Ausgehend von Alexander
Puschkin über Nikolai
Gogol, Wissarion Belinski,
Alexander Herzen, Michael
Bakunin, Iwan Gontscharow, Iwan Turgenjew, F.M. Dostojewski, Leo
Tolstoi, Peter
Kropotkin und
Anton
Tschechow bis hin zu Maxim Gorki reicht das
Spektrum jener
russischen Dichter, Schriftsteller und Kritiker, die zu die
bedeutendsten der
osteuropäischen Kulturgeschichte zählen. Die
Verfasser entfalten ein Panorama
kritischer Literatur und Geistigkeit, an das Russland und Europa
anknüpfen müssten,
wenn sie für die Gegenwart eine neue Aufklärung
initiieren wollen. Eine solche
Zielsetzung scheint den Autoren im höchsten Maße
wünschenswert, um den
Fortschritt der Kultur zu sichern und auszubauen. Der Beitrag Russlands
im 19.
Jahrhundert zu einem derartigen Anliegen war von großartiger
Relevanz, und kein
unbefangener Leser wird sich dem Eindruck entziehen können,
dass die
russische
Kultur trotz der damaligen politischen
Rückständigkeit des Landes einen
Gipfelpunkt des europäischen Geisteslebens darstellt. Das Buch
überzeugt durch
seine elegante Sprache, sein darin entfaltetes
außerordentlich breites Wissen
sowie durch die gekonnte Integration von literaturwissenschaftlichen,
historischen, psychologischen und anthropologischen Perspektiven, die
als
beispielhaft für die Kulturanalyse des 21. Jahrhundert gelten
kann. (Königshausen
& Neumann)
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Roland
Duhamel: "Die
Decke auf den Kopf. Versuch einer Deutung des Nihilismus"
Auch wenn wir es nicht immer wahrhaben wollen, leben wir seit
250 Jahren und in zunehmendem Maße im Nihilismus. Dieses Buch
begibt sich auf
die Suche nach Verständnis wie Definition und lässt
dabei Klassiker dieses
Denkens wie
Nietzsche,
Heidegger, Hermann Broch Revue passieren. Der
Nihilismus
scheint sich an einer tief verwurzelten und selbstgefälligen
Zirkelschlusskultur festmachen zu lassen. Dies wird in einem
historischen Abriss
veranschaulicht, der sowohl prominente literarische als auch
philosophische
Texte abklopft. (Königshausen
& Neumann)
Buch
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