Kurt Tucholsky: "Rheinsberg"

Ein Bilderbuch für Verliebte


Sehnsucht nach der Erfüllung

Sommer, Sonne, Lebenslust. Zwei junge Verliebte nehmen sich ein Zimmer am See, sie turteln, scherzen, necken sich. Heute alltägliche Realität. Skandal hieß es damals, 1912, in der Hoch-Zeit der wilhelminischen Prüderie, als der 22-jährige Kurt Tucholsky seine persönlichen Erlebnisse mit seiner Freundin Else Weil in der Komödie "Rheinsberg" veröffentlichte. Vorangegangen waren zahlreichen Absagen des angeblich zu frivolen Manuskripts, so dass Tucholsky die Rechte an den Verleger Axel Juncker für 125 Mark verkaufte. So konnte er leider am dennoch unerwarteten Erfolg des schmalen Bändchens nicht partizipieren.

Liest man heute die undramatischen, luftig lockeren Zeilen des Autors, die bereits den Duktus von "Schloss Gripsholm" erahnen lassen, kann man sich das damalige Entsetzen kaum vorstellen. Sie erzählen völlig harmlos von der Liebe eines jungen Paares. Die Medizinstudentin Claire entrinnt mit ihrem Freund Wolfgang für eine "Reihe leuchtender Tage" der Monotonie des Berliner Alltags. Unter Vortäuschung falscher Sachverhalte - angeblich verbringt sie das Wochenende bei einer Freundin - reisen sie als "Ehepaar Gambetta" mit der Eisenbahn ins Märkische Rheinsberg.

Völlig unbeschwert besichtigen sie den malerischen Ort mit der Jugendresidenz Friedrich des Großen, machen eine Bootsfahrt, übernachten in einer Gastwirtschaft. Man neckt, zankt und amüsiert sich. Vor allem Claire sprüht geradezu vor witzigen Ideen und umgurrt ihren zuweilen gnädig bevormundenden Beschützer mit eigenwilligen und verspielten Sprachschöpfungen, ein inhaltlich meist belangloses umgangssprachliches Kauderwelsch, das weit über die in Berlin übliche freie Verwendung von Artikeln und Personalpronomina hinausgeht. "Sehssu, mein Affgen, das is nu deine Heimat. Sag mal: würdest du für dieselbe in den Tod gehen?"

Noch ist die Unbeschwertheit der Vorkriegszeit zu spüren, angesiedelt in einer sorglosen Atmosphäre aus kess-kecker Erotik mit beschwingt-schwerelosem Esprit: "Glücklich sein, aber nie zufrieden. Das Feuer nicht auslöschen lassen, nie, nie! (...) Dies alles umarmen können, nicht, weil es gut oder schön ist, sondern weil es da ist, weil sich die Wolkenbänke weiß und wattig lagern, weil wir leben! Kraft! Kraft der Jugend! (...) eine Reihe leuchtender Tage - das kommt nie wieder! Heiter Glück verbreiten! - Wir wollen uns Erinnerung machen, die Funken sprühen! Wir haben alles voraus - heute!", sinniert Wolfgang beinahe euphorisch.
Und ebenso unbeschwert wie sie begann, klingt die Geschichte auch aus. Obwohl sich bei "Wölfchen" doch der eine oder andere melancholische Gedanke einschleicht. "Sehnsucht - Sehnsucht nach der Erfüllung! Hier war alles (...) und doch zog es weiter, der Fuß strebte vorwärts, irgendwo lag ein Ziel, nie zu erreichen!"
Die beiden Verliebten kehren nach diesen luftigen drei Tagen ins nahe Berlin zurück.

Zu dem heiteren Text hat Tatjana Hauptmann wunderschöne und entzückende Illustrationen beigesteuert. Die lockeren, beschwingten Tuschezeichnungen treffen absolut passend den heiteren Grundtenor des schmalen Büchleins und sind eine wertvolle Ergänzung des geschriebenen Wortes.

Kurt Tucholsky, der sich später als unbestechlicher politischer Journalist mit satirischem Talent auszeichnete, gelang mit "Rheinsberg" eine wunderbar leichtfüßige und beschwingte Erzählung voller Humor. Dass dieser Humor, der auch Bestandteil seiner nachfolgenden Werke sein wird, nicht unbedingt seine seelische Befindlichkeit beschrieb, zeigt sein Freitod im schwedischen Exil.
In der Vorrede zum fünfzigsten Tausend (1920) konnte der Autor jedoch rückblickend feststellen: "Was in dem Buch da ist, das weiß ich schon. Eine bessere Zeit, und meine ganze Jugend."

Fazit:
Auch wenn heutzutage die Scherze und die offen gelebte Verliebtheit von Wolfgang und Claire nicht mehr als unerhört freizügig gelten, so ist eines an Tucholskys "Rheinsberg" doch unvergänglich: die ungestüme Lebensfreude, die zwischen den Zeilen mitschwingt.
Das Büchlein ist auch heute noch eine Hommage an den Augenblick, gleichzeitig aber auch ein Erinnern an seinen Autor - den heiteren Kämpfer, verzweifelten Liebenden und ironischen Wissenden Kurt Tucholsky.

(Heike Geilen; 08/2008)


Kurt Tucholsky: "Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte"
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