Clarice Tartufari: "Ihr sehnlichster Wunsch"
Die
Wiederentdeckung eines
italienischen Klassikers
Clarice Tartufari, geboren am 14. Februar 1868 in Rom, schrieb
zunächst Lyrik
und wandte sich dann dem Theater zu, wo sie aber mit ihren
Komödien und Tragödien
ähnlich erfolglos blieb wie mit ihrem kaum beachteten
Romandebüt "Maestro"
und ihrer Lyriksammlung "Versi nuovi" (1894). Erst 1905 kehrte sie zu
den Romanen und Erzählungen zurück, von denen sie bis
zu ihrem Tod am 3.
September 1933 insgesamt sechzehn verfasste.
Immer wieder griff sie tagespolitische Fragen auf und zeigte starkes
Interesse
an sozialen Fragen. Die zeitgenössische Literaturkritik, u.a.
Benedetto Croce,
hat ihre Bücher mehr als wohlwollend aufgenommen. Clarice
Tartufari gehörte zu
den produktivsten Autorinnen im Italien des frühen 20.
Jahrhunderts, und so
scheint es verwunderlich, dass das vorliegende, bei Kinder verlegte
Büchlein
das einzige ihrer Werke ist, das zur Zeit in Italien, Frankreich und
Deutschland
in einer modernen Ausgabe verfügbar ist.
Man kann die Wiederentdeckung dieser Schriftstellerin nur
begrüßen. 1887, im
Alter von gerade einmal 19 Jahren, debütierte die ausgebildete
Grundschullehrerin mit diesem wunderbaren Buch, in dem sie sich nicht
nur durch
eine ausgesprochen sensible Beobachtungsgabe auszeichnet, sondern auch
viele
persönliche Erfahrungen verarbeitet. "Ihr sehnlichster
Wunsch", wie
das Buch im Deutschen heißt, ist die Geschichte einer jungen
Frau, die wie so
viele die Liebe sucht, die aber gebildet und selbstbewusst einen Beruf
ausübt
und das auch nicht aufgeben möchte.
Die junge Ginevra stammt aus ärmlichen Verhältnissen
im Rom. Dort wächst sie
auf, und so, wie für die meisten Mädchen ihrer Zeit
(ca. 1885) ist geplant,
dass sie den Beruf erlernt, den auch ihre Mutter ausübt:
Schneiderin. Doch
Maddalena, so heißt die Mutter, glaubt der Lehrerin Ginevras,
die ihr großes
Talent und ihre Begabung erkennt und der Mutter vorschlägt,
Ginevra solle doch
weiter zur Schule gehen und die dreijährige Ausbildung zur
Grundschullehrerin
machen. Maddalena stimmt zu, arbeitet noch mehr, und auch ihr Mann ist
überraschenderweise
bereit, für die Zukunft seiner Tochter große Opfer
zu bringen. Beide Eltern
versprechen sich davon nicht nur einen sozialen Aufstieg für
ihre Tochter,
sondern auch für sich selbst.
Ginevra besteht ihre Prüfungen mit Bravour, doch ihre ersten
Versuche, einen
Posten als Lehrerin zu bekommen, sind ernüchternd. Schon an
dieser Stelle sei
auf das aufschlussreiche Nachwort von Marc Föcking verwiesen,
der die Handlung
des Romans in die italienische Innen- und Kulturpolitik dieser Zeit
einordnet.
Endlich bietet man ihr eine Lehrerstelle in einem Dorf bei Frascati an.
Als sie
im Zug nach Frascati sitzt, scheint es ihr, als habe sich "ihr
sehnlichster
Wunsch" endlich erfüllt. Sie hofft auf ein
unabhängiges, freies Leben.
Die Bedingungen, die sie bei ihrer ersten Anstellung vorfindet, sind
katastrophal, doch sie beißt die Zähne zusammen und
findet auch für ihre
eigentlich unmögliche Position zwischen dem Ortspfarrer und
dem Bürgermeister
eine Lösung (vgl. auch hier wieder das Nachwort). Doch der
Bürgermeister lässt
nicht locker, um Ginevra immer wieder zu kompromittieren. Sie
verlässt voller
Zorn über die Demütigung, die sie erfahren hat, die
Stelle, und landet nach
einigem Suchen als Haushaltshilfe bei einem gebildeten Theaterautor,
Rodolfo.
Sie verliebt sich in diesen galanten und sympathischen Mann, er mag sie
auch,
doch irgendwann konfrontiert er Ginevra mit seinen
Heiratsplänen, die sie bei
seinen ersten Worten noch völlig falsch versteht:
"Es wird allerhöchste Zeit, mein liebes
Mädchen, es ist an der Zeit,
und du weißt, wie sehr mich dies schmerzt, doch in meinem
Alter muss man
Vernunft annehmen, und außerdem, Ginevra, außerdem
muss ich dir gestehen, dass
ich finanziell ziemlich ruiniert bin und nur eine vernünftige
Mitgift kann mich
wieder auf die Beine bringen."
Ginevra fühlt sich zum zweiten Mal verraten und verkauft. Als
ihr Cousin Carlo,
der Ginevra schon seit Jahren liebt, es ihr aber nie zu sagen wagte,
sie von
dort abholt, spürt sie, dass sie nun keine Alternative mehr
hat.
Oft denkt sie später an ihre Jugend und an Rodolfo, ist aber
immer wieder beschämt
von Carlos Großmut.
Glücklich wird sie nie mehr sein.
Es steht zu hoffen, dass in den nächsten Jahren noch andere
Romane dieser
Autorin auf Deutsch veröffentlicht werden.
Noch ein Hinweis: Lesen Sie das empfehlenswerte Nachwort erst nach der
Lektüre
des Romans. Ich machte es umgekehrt, und es hat mir das Lesen des
Romans doch
sehr intellektualisiert.
(Winfried Stanzick; 08/2008)
Clarice
Tartufari: "Ihr sehnlichster
Wunsch"
(Originaltitel "Avagliano")
Aus
dem Italienischen von Suse Vetterlein.
Mit einem Nachwort von Marc Föcking.
Gebundene Ausgabe:
Kindler, 2008. 126 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
rororo, 2010.
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