Mariusz Szczygieł: "Gottland"

Reportagen


Eine Sammlung von tschechischen Politmetamorphosen

Das Buch ist ein mitteleuropäisches Kuriosum: Ein polnischer Journalist beschreibt für ein deutschsprachiges Publikum den gemeinsamen Nachbarstaat Tschechien.

Ausgehend von einzelnen Menschen, die bis heute im kollektiven Bewusstsein Tschechiens präsent sind, erzählt Mariusz Szczygieł pointenreich die tschechische Geschichte des 20. Jahrhunderts anhand persönlich gehaltener, aber dennoch hochpolitischer Biografien nach: Lída Baarová war beispielsweise die tschechische Geliebte von Joseph Goebbels - bis Adolf Hitler die Liaison persönlich untersagte; Věra S., Nichte von Franz Kafka, entzieht sich sensationsgeilen Journalisten durch kafkaeske Manöver; Marta Kubišová, Sängerin und Teilnehmerin am "Eurovisionssongcontest", ist bis heute eine Ikone des Widerstands gegen die Normalisierung nach dem Einmarsch der Truppen der Bruderländer 1968.

Die Beziehung zwischen den Tschechen - Objekte dieser Sammlung an Reportagen - und den Polen, den Lesern von Mariusz Szczygiełs Beobachtungen lässt sich am besten in einem Bonmot aus den 1960er-Jahren aus dem Nachwort Martin Pollacks erklären: Ein Hund läuft in der zwischen Polen und der Tschechoslowakei geteilten Stadt Teschen (Cieszyn/ Český Těšín) mehrmals täglich zwischen beiden Ländern hin und her. Was tut er wo? In Polen kläfft er, in der Tschechoslowakei frisst er!

Wie dieser kleine Witz, so setzt auch die Lektüre des Buches einiges Wissen über die tschechische aber auch die polnische Geschichte voraus, übrigens auch bei der Übersetzung: Wenn man auf Polnisch über eine Zahlung in Mähren berichtet, die um 1880 stattfand, übersetzt man den Namen der Währung Gulden (tschechisch zlatý) zwar mit Złoty (złoto bedeutet Gold). In der deutschen Übersetzung sollte dann freilich nicht Złoty stehen, sondern Gulden. Immer wieder passierte es der Übersetzerin auch, dass Ortsnamen und andere tschechische Ausdrücke in polnischer Schreibung wiedergegeben werden. Ein genauerer Blick in einen Atlas - oder auch nur die Erkenntnis, dass es im Tschechischen kein w gibt - hätte die sonst respektable Übersetzungsleistung nicht geschmälert.

Was das Buch zu einem Leseerlebnis macht, ist die große Vielfalt an Reportageformen, an kurzen oft nur einseitigen Glossen bis hin zu Kurzbiografien und Interviews. Soweit dies überprüfbar ist, scheint alles im Laufe von jahrelangen Aufenthalten und Gesprächen in Tschechien gut recherchiert zu sein. Daraus ergeben sich unzählbare Schattierungen zwischen Kollaboration und Widerstand, sowohl zur Zeit des deutschen Protektorates als auch unter kommunistischer Herrschaft 1948 bis 1989, somit ein spannend zu lesendes Humanbestiarium mitteleuropäischen Typs.

(Wolfgang Moser; 04/2008)


Mariusz Szczygieł: "Gottland. Reportagen"
(Originaltitel "Gottland")
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky.
Suhrkamp, 2008. 271 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Mariusz Szczygieł, geboren 1966, ist seit 1990 Journalist bei der polnischen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza". Er lebt in Warschau.

Noch ein Buchtipp:

Martin Pollack: "Warum wurden die Stanisławs erschossen? Reportagen"

"Für mich begann der Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa am 18. August 1980. Ja, genau an diesem Tag."
Martin Pollack, einem damals nahezu unbekannten Reporter, der über die Streiks der Solidarność in der Danziger Leninwerft berichten wollte, wurde die Einreise nach Polen verweigert. Doch die bislang so selbstbewusst-arroganten Beamten am Flughafen von Warschau wirkten ganz anders als gewohnt, verunsichert, ja beinahe ängstlich. Irgendetwas war aus dem Gleichgewicht geraten. Für den vielfach ausgezeichneten Autor, Übersetzer und Reporter Martin Pollack waren es von Anfang an einzelne Erlebnisse und persönliche Begegnungen, die große Zusammenhänge und Entwicklungen besser verständlich machen. In seinen Reportagen versteht er es, ein vielgestaltiges Panorama des Übergangs zu schaffen - und ein Manifest gegen das Diktum vom Ende der Geschichte. (Zsolnay)
Buch bei amazon.de bestellen