Igor Štiks: "Die Archive der Nacht"
Tragödien
im Konjunktiv der
verschwiegenen Möglichkeiten
".. hätten sich die Umstände nur
ein klein wenig anders zusammengefügt,
alles hätte eine andre Wendung genommen.
Es hat keinen Sinn mehr, die Möglichkeitsformen zu
durchdenken."
(Seite 126)
Eigentlich hätte es sich der 50-jährige Richard
Richter gut gehen lassen können.
Der erfolgreiche Autor kehrt am im April 1992, einige Tage nach dem
Kriegsausbruch
in
Bosnien, nach dem Zerbrechen seiner Ehe, aus Paris in
seine
Geburtsstadt Wien zurück und könnte ganz gut von den
Tantiemen seiner Werke
leben. Bei Renovierungsarbeiten in der Wohnung seiner Tante, die ihn
nach dem frühen
Tod seiner Eltern aufgezogen hat, findet er einen Brief seiner Mutter
an die
Nachwelt. Nicht Heinrich Richter sei sein Vater gewesen, sondern Jakob
Schneider, ein jüdischer Kommunist aus Sarajevo, der 1941 von
der Gestapo
verhaftet wurde. Diesem Mann habe sie vor seiner Deportation
verschwiegen, dass
er einen Sohn gezeugt hatte.
Wider alle Wahrscheinlichkeit, dass Jakob Schneider die Deportation
überlebt
hat und nach dem Krieg in seine Heimat zurückgekehrt
wäre, macht sich Richter
unverzüglich auf den Weg nach Sarajevo. Kurz nach Ausbruch des
Krieges in
Bosnien gibt er vor, als Literat Kriegsreportagen und Dokumentarfilme
zu drehen;
von seinem Plan, nach seinem Vater zu suchen, wagt er niemandem zu
erzählen.
Bald fühlt er sich heimisch in der belagerten Stadt,
sympathisiert mit der
eingeschlossenen Bevölkerung, eckt mit seiner angeblichen
Parteilichkeit in den
Redaktionen an und verabscheut das internationale Pack der
Kriegsreporter,
für
die jedes menschliche Leiden nur berufliche Karriere und
persönlichen Profit
bedeutet. Die Kriegsjahre seiner Geburt werden auch im letzten
Jahrzehnt des 20.
Jahrhunderts zu neuer europäischer Wirklichkeit. Im Zweiten
Weltkrieg wie 1992
intervenierte die zivilisierte Welt zu spät, weil sie das
Ausmaß der Barbarei
nicht zur Kenntnis nehmen wollte und sich zu lange in diplomatischer
Zurückhaltung
und vorgeblicher Neutralität übte.
In Sarajevo lebt Richter bei dem
jungen Übersetzer Ivor,
seinem letzten echten Freund, wie er ihn später nennen wird.
Durch ihn lernt er
die junge Schauspielerin
Alma
Filipović kennen, die eine Hauptrolle in
Max Frischs
dramatisiertem
Roman
"Homo Faber" spielt. Die leidenschaftliche Liebesbeziehung
nährt sich
abermals aus dem Verschweigen von Gedanken, Vermutungen und Fakten, die
nachträglich
klar zu erkennen gewesen wären. Richter vergleicht sich im
Rückblick selbst
mit der Hauptfigur Walter Faber, oft auch mit tragischen Gestalten der
griechischen Mythologie. Viel zu lange ignoriert er alle Hinweise
darauf, dass
die junge Alma selbst der entscheidende Schlüssel auf der
Suche nach seinem
Vater gewesen wäre, wenn er sie bloß gefragt
hätte ...
Doch sein abermaliges Schweigen zündet die Katastrophe just am
78. Jahrestag
des Attentats von Sarajevo. Aus blinder Liebe wird Inzest, aus der
verschwiegenen Vatersuche ein Vatermord, aus der Heimkehr in die
Vaterstadt eine
Flucht.
Das stete Durchbrechen von Zeitebenen, der Wechsel zwischen Erinnerung
und
ahnungsvoller Vorausschau verdichtet die 376 Seiten zu einem
europäischen Pandämonium
der Tragödien und suggeriert die stete Frage, was gewesen
wäre, wenn ... oder
wenn nicht ...
Der Politologe Igor Štiks, 1977 in Sarajevo geboren, verwebt
gekonnt im Rückblick
die Zeitebenen von 1942 und 1992, verknüpft die politische
Tragik mit persönlichen
Katastrophen und dem zeitlosesten Thema der Literaturgeschichte: Kann
man
schweigend schuldlos schuldig werden? Der manchmal klagende Grundton
des Romans
erfüllt in der Nachschau seine Funktion, nimmt ein
dramatisches,
schicksalhaftes Ende vorweg, ohne das letztendliche Ausmaß
der Katastrophe voll
erahnen zu lassen. Denn Richter wird zum Henker seiner Familie, deren
Geschichte
er gerettet sehen wollte.
"Die Archive der Nacht" faszinieren als sprachlich und inhaltlich
brillante Verknüpfung zwischen den Katastrophen des 20.
Jahrhunderts auf hohem
Niveau, in die über Anspielungen und Zitate auch die
Literatur- und
Kunstgeschichte seit der Antike einfließt. Der
deutsch-kroatischen Literatin
Marica Bodrožić gelingt eine bruchlose, sprachlich elegante
Übersetzung,
deren sehr bundesdeutscher Ton allerdings als Ich-Erzählung
eines Wieners
stellenweise befremdet.
Igor Štiks gelingt mit seinem zweiten Roman, der 2006 mit
dem wichtigsten
Literaturpreis Kroatiens ausgezeichnet wurde, ein neuer, reifer Entwurf
eines
historischen Romans, in dem sich Geschichte und Gegenwart fast als
Protagonisten
begegnen und als solche das Handeln der Personen schicksalhaft
bestimmen.
(Wolfgang Moser; 05/2008)
Igor
Štiks: "Die Archive der Nacht"
(Originaltitel "Elijahova Stolica")
Aus dem Kroatischen von
Marica Bodrožić.
Claassen, 2008. 376 Seiten.
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Ein
weiteres Buch des Autors:
"Ein Schloss in der Romagna"
Liebe im Spiegelbild in Zeiten des Umbruchs.
Vier Jahrhunderte liegen zwischen den Geschehnissen um Enzo Strecci und
jenen um
einen jungen italienischstämmigen Kroaten, die Igor
Štiks in seinem Roman auf
das Spannendste miteinander verflicht; es ist die verbotene Liebe, die
das
Schicksal der beiden verbindet.
Im Jahr 1535 wird dem jungen Lyriker Enzo Strecci in der Romagna die
erwiderte
Liebe zur Frau seines Gastgebers, des Herrschers Francesco Mardi, zum
Verhängnis.
1948 schickt auf der Insel Rab ein aus der Partei Ausgeschlossener
seinen Sohn
nach Triest, damit er sich vor den Titoisten in Sicherheit bringe. Doch
die
Liebe zur Tochter des Kommandanten der neuen Miliz lässt ihn
zurückkehren -
und auch sein Schicksal ist besiegelt. Ursprünglich die
politischen Verhältnisse
der Zeit, sind es letztlich zutiefst persönliche
Machtansprüche der Herrscher,
die den Ausgang der spiegelbildlichen Geschichten der Liebenden
bestimmen. (Folio
Verlag)
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Weitere
Buchtipps:
Alida Bremer, Silvija Hinzmann, Dagmar Schruf (Hrsg.):
"Südliche Luft. 20
Liebeserklärungen an Kroatien"
Für zahlreiche Autoren aus Deutschland ist Kroatien, das Land
der tausend
Inseln, ein Ort der Inspiration.
Ingo Schulze,
Juli
Zeh,
Veit
Heinichen, Erica Fischer,
Wladimir
Kaminer, Richard
Wagner und viele Andere haben sich humorvoll, nachdenklich,
kritisch und
hymnisch jeweils "ihrem" Kroatien genähert. Und sie werden
begleitet
von in Deutschland lebenden Autoren aus Kroatien wie etwa Marica
Bodrožić
und Nicol
Ljubić.
(List)
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"Kein
Gott in Susedgrad. Junge Literatur aus
Kroatien"
Herausgegeben von Nenad Popović.
Mitte der 1990er Jahre meldet sich eine
Generation kroatischer Autoren zu Wort, die
vor dem Hintergrund des zusammenbrechenden Staates
Jugoslawien zu schreiben begonnen hat. Es
sind neue Stimmen, deren Literatur ohne den Krieg nicht denkbar
ist: Vertreibung, Belagerung, Flucht haben sie zu Zeugen
innerer und äußerer Verwüstungen gemacht -
und eine
ungeheure Kreativität freigesetzt.
"Kein Gott in Susedgrad" sammelt
Texte dieser verloren geglaubten Generation,
die mit Entschlossenheit und Einfallsreichtum
die literarische Landschaft Kroatiens neu belebt.
Junge, urbane Autoren präsentieren sich auf Festivals,
veröffentlichen in neu gegründeten Zeitschriften und
setzen sich mit ihrer Liebe zur Kurzgeschichte formal vom Pathos
des Nationalismus ab. Sie entführen uns mit ihren Texten
in einen Nachkriegsalltag, der von fundamentalen Umbrüchen
geprägt ist.
Mit Beiträgen von Stanko Andrić,
Tomica Bajsić,
Vlado Bulić,
Boris Dežulović,
Zoran Ferić,
Tatjana Gromača,
Simo
Mraović,
Robert Perišić,
Roman Simić,
Dalibor Šimpraga und Igor Štiks.
(Schöffling & Co.)
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Marica
Bodrožić:
"Der Windsammler"
Erzählungen. Die vertrauten Topoi: das dörfliche
Leben, die Natur, die Jahreszeiten, der Aberglaube; die Suche nach der
verlorenen Kindheit, aber auch Krieg und Diktatur. Mit poetischem Blick
sammelt die Autorin auf elf dalmatinisch-istrischen Inseln Bilder und
Szenen und fügt sie zu modernen Märchen. Ihre Figuren
sind Bildinspektoren, Windsammler oder Eroberer des
Wörterbuchs, Wanderer durch Landschaft, Mythos und Geschichte.
Die Erzählung "Die Rache des Damhirsches" etwa spielt an auf
ein Treffen zwischen von Tito und Walter Ulbricht. "Die Meeresseite der
Orange" thematisiert den jugoslawischen Gulag auf der Kahlen Insel.
Traum und Wirklichkeit vermischen sich in Marica Bodrožićs
Geschichten, Bilder flattern auf, schöne und erschreckende,
wir aber können uns verlassen auf die heilsame Wirkkraft ihrer
Poesie: "Im Winter, wenn die Gedächtnisse wie unter
Schwefel liegen, bricht etwas in den Sätzen der Menschen auf
und die leere Welt ihres Inneren wird gewendet." (Suhrkamp)
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Marica
Bodrožić: "Tito
ist tot"
Erzählungen. Sein Porträt hängt in jedem
Klassenraum, sein durchdringender
Blick beherrscht die Amtszimmer, Schusterläden und
Metzgereien, und die
Nachricht von seinem Tod erreicht auch jene abgelegene Gegend in
Dalmatien, wo
die Erzählerin ihre Kindheit verbringt. Widerwillig
lässt sie die
Schulfeierlichkeiten über sich ergehen, während der
Großvater um den größten
Verlust seines Lebens trauert: um
Tito und Jugoslawien. Doch nicht die
Politik
und der sich abzeichnende Zerfall des Landes beschäftigen das
Mädchen, sondern
die Sommerlandschaft und ihre Bewohner: der Kriegsheimkehrer, der nicht
weiß,
dass der Kampf längst vorbei ist, und sich an einem Ast
erhängt, der schönheitssüchtige
Lilienzüchter, dem die Dorfbewohner aus Hass seine Felder
zertrampeln, die
junge Frau, die jahrelang vergeblich auf die Rückkehr ihres
Bräutigams wartet,
weil er im Ausland von einer Baustelle zur nächsten zieht. Das
Leben der
Gastarbeiterväter spielt sich in unbekannter Ferne ab, im
Norden, dem "Mysterium
der modernen Welt", während die Kinder im Süden den
Geheimnissen des
Realen nachspüren, in unergründlichen Gärten
und vergessenen Kellern, in
Kirchen und auf glühendheißen Landstraßen.
In Marica Bodrožićs Texten ist es hell und auf
zauberische Weise heiter. Ein mediterranes Licht liegt über
den halb gebauten Häusern,
den Schmetterlingswiesen und Zypressenhainen und den kurzen, von
Leidenschaften
und Kümmernissen geschüttelten Lebensepochen, die sie
in ihren Erzählungen
und Prosastücken beschwört. (Suhrkamp)
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Marica
Bodrožić: "Der
Spieler der inneren Stunde"
"Träume werden nicht erwachsen. Träume sind
ohne Zeit. Die Geschichte
von Jelena Felder ist auch ohne Zeit. Dennoch hat ihr Abschied eine
eigene
Stunde. Auf der Straße der Bilder herrscht das
Gleichmaß. Aber welches Gedächtnis
hat der Abschied, welche Farbe, welchen Geruch?"
Jelenas erste Zugfahrt beginnt mit einer Lüge: Die
Vorbereitungen für die
Ausreise nach Deutschland werden dem nichtsahnenden Großvater
als
Zahnarztbesuche ausgegeben. Die Koffer sind gepackt. Der bevorstehende
Abschied
vom ersten Land, der ersten Sprache wirft einen Schatten auf die
Gesichter der
Kinder. Und doch ist da diese Vorfreude auf ein Land, das "weiter als
Italien" liegen soll.
Auf die Abreise folgt später, viel später, der
Wunsch, an den Ursprung zurückzukehren.
Der Doppeldecker bringt das zehnjährige Mädchen nach
Dalmatien, einmal und
dann immer wieder, zur Ferienzeit, bis sich das Ziel verliert und das
alte Leben
nur noch in der eigenen Vorstellung vorhanden ist. Bald gibt es in der
alten
Heimat niemanden mehr, der Jelena kennt.
In ihrem ersten Roman erzählt Marica Bodrožić von einem
immerwährenden
Abschied - und erzählt die Geschichte einer Familie, die aus
ihrer Zeit fällt
und in einer anderen ankommt, von Biografien, die uns durch ihre
Fremdheit
bezaubern und zu Komplizen der Erinnerung machen. (Suhrkamp)
Buch
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Miljenko Jergović: Vater"
"Wir
standen uns nicht nah, obwohl es immer hieß, ich sei ganz der Vater."
Das letzte Telefonat zwischen
Vater und Sohn löst eine Flut von Erinnerungen
aus: In diesem Buch taucht Miljenko Jergović in die Abgründe seiner eigenen
Familie ein und beleuchtet die tragischen Verwicklungen seiner Heimat. Er
beschreibt den Lebensweg seines Vaters, eines angesehenen Arztes und Experten
für Leukämie, dessen Einsatz für die ländliche Bevölkerung und politische
Haltung. Zugleich bezieht er kritisch Stellung zur kroatischen Geschichte und
dem Umgang mit der faschistischen Vergangenheit.
Ohne Pathos, mit Witz und einer Portion Sarkasmus schildert Miljenko Jergović
die jugoslawische Lebenswirklichkeit, die das Schicksal seines Vaters bestimmte
und damit auch den Sohn prägte. "Vater" ist das literarische Dokument seiner
Familie: Leidenschaftlich und pointiert erzählt er anhand ihrer Lebensstationen
von den historischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan und deren Auswirkungen.
Miljenko Jergović, geboren 1966 in Sarajevo,
lebt in Zagreb. Er arbeitet als Schriftsteller und politischer Kolumnist und ist
einer der großen europäischen Gegenwartsautoren. Seine Bücher sind in zahlreiche
Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet worden. (Schöfflling & Co)
Buch
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Leseprobe:
(...) Alma ... Selten spreche ich noch ihren
Namen aus, und auch dann nur ganz leise, aus Angst, ihr noch mehr zu
schaden, und damit mich dieser verträumte
Makler namens Gott nicht endgültig zerstört.
Wie hätte ich wissen können, was
mich erwartete, als ich, nach all den Pariser Jahren, Anfang
April meine Koffer packte und beschloss, nach Wien
zurückzukehren. Richard, du bist jetzt fünfzig
geworden, dachte
ich damals, und Wien ist eine Stadt nach dem Geschmack dieser
Jahre. Eine Stadt, die dir genügend Frieden schenken wird,
auch Trost und Muße, so hast du es dir doch für die
vor
dir liegende "reife Phase" erhofft, in die du, so wie es
aussieht, mit nicht allzu viel Gepäck hinein schreitest.
Still,
besonnen und geerdet, das kannst du in Wien sein, das bietet dir diese
Stadt, und das ist es doch, was du brauchst, alter
Junge, also kauf die erstbeste Fahrkarte und setz dich in den Zug
nach Hause, zu deiner Tante Ingrid. Sie ist die einzige
Mutter, die du je hattest, und schon vor langer Zeit hat sie
aufgehört, an deine Rückkehr zu glauben! Wien. Die
Stadt, die dein
Sarg werden wird. Es ist keine Stadt des guten Geschmacks.
Auch nicht des Friedens oder gar der beseelten
Zufriedenheit, wie man uns vorgaukeln möchte. Wien
lügt mit seinen
Fassaden und mit seinen Menschen, es ist voller quirliger
Dämonen
der Vergangenheit, die aus dem Donaukanal auf die
Uferkais steigen, aus den Tunneln der städtischen
Kanalisation und hinter alten Möbeln hervorkriechen, die
jemand
am Straßenrand zurückgelassen hat. Sie rieseln aus
den maroden
Mauern, aus den Kleidern toter Herrschaften,
verlassen alte Kaffeehäuser
als Zeugen eines
Unglücks, das an
knarrenden Tischen besprochen und in die Welt gesetzt worden ist.
Tafeln halten sie in die Höhe, die von abgerissenen
Häusern zeugen und von ausgelöschten Leben
erzählen. Sie
tauschen die Wegweiser auf den Kreuzungen aus oder schlafen
einfach, von der Dunkelheit besänftigt, zwischen den
baufälligen Wänden, bis sie zufällig eine
ungeschickte Hand aus
dem Schlaf reißt, an der sie sich dafür blutig
rächen
werden.
Das ist mein Wien. Ein
Grabmal für Richard Richter. Er hat sich freiwillig zu ihm auf
die
Reise gemacht. Die Schlinge hat sich zugezogen. Es war ein
Fehler. Oder auch nur einfach der Hieb eines Hammers auf die
falsche Stelle.
Nein, mit viel Lebensgepäck bin ich
in Wien nicht gerade eingetroffen. Vom Gare de l'Est
hat mich niemand verabschiedet. Fast niemand. Ein Taxifahrer war da.
Versteht sich. Es gab keine Tränen und kein
Winken. Ich habe auch nicht den Kopf an das Fenster
gelehnt, bis die Konturen der Stadt, die ich so sehr geliebt habe,
verschwunden waren. Aber nein. Nichts dergleichen. Ich
kann nur sagen, dass ich nach dem Betreten des Zuges, der
mich unwiderruflich nach Wien bringen würde, nicht sonderlich
viel
über mein altes Leben nachgedacht habe. Ich
ließ es einfach hinter mir zurück. Meine
Rückkehr und der
Gedanke an einen neuen Lebensabschnitt nahmen mich ganz in
Beschlag. Ich kam wieder an den Ort zurück, der mir
einst durch und durch vertraut gewesen war. Und jetzt
kannte ich hier keinen Menschen mehr, auch wenn ich hier,
wie man mir sagte, aufgrund meiner Romane und ein paar anderer
Bücher durchaus bekannt war. Hin und wieder hing ein
Plakat mit meinem Bild in den Schaufenstern der
städtischen Buchhandlungen. Also gut, dachte ich, es
fängt ein
neues Kapitel an. Auf alten Grundmauern. Betreten wir also
dieses Leben heiter und frei wie das Haus eines alten Bekannten.
Es würde ein besserer Anfang sein, am Ende einer langen
Wegstrecke, von der ich mich verabschiedete, die Hände
eines Mannes schüttelnd, den ich zum ersten Mal sah und bei
dem ich meine letzte Pariser Rechnung beglich.
Verbittert lächle ich jetzt,
während ich daran denke, dass ich mich von einem fremden
Taxifahrer an einem nahezu menschenleeren Bahnsteig
verabschiedet und in jenen unheilvollen Zug gesetzt hatte,
nicht wissend, dass der Countdown schon
begonnen hatte und dass ich selbst dabei die wichtigste Rolle spielte.
Alles,
was vorausgegangen war, kommt mir nun wie eine Aufforderung
zum Innehalten vor. Ich habe sie, ohne es zu wissen, in
den Wind geschlagen, mit erhobenem Kopf, auf dem direkten
Weg in das eigene Verderben rennend. Vielleicht
übertreibe ich, und all diese Zeichen erscheinen mir jetzt nur
in
der Rückschau als glasklare Botschaften. Vielleicht treiben
jetzt alle Details an die Oberfläche meines in Aufruhr
versetzten Gehirns und bekommen eine höhere
Bedeutung. Sogar
das Fortgehen meiner Frau Marianne Berger einige Wochen
zuvor erscheint jetzt Unheil verheißend wie ein gut
durchdachter Schachzug in einem dunklen Spiel, das mich zum
Opfer erkoren hatte. Leider nicht zum einzigen. Aber
sicher übertreibe ich wieder auf meine Art. Kitty, wie ich sie
immer nannte,
hatte recht, unsere schon längst kaputte Ehe,
die erloschene Liebe, die gescheiterte Beziehung hinter sich
zu lassen. Heute nehme ich ihr nichts mehr übel, aber
wieder habe ich nicht die Kraft, den Telefonhörer abzuheben.
Obwohl ich mir sicher bin, dass sie die Nachrichten sieht
und mich längst als einen der Toten auf den Trottoirs von
Sarajevo vermutet. In ihren Gedanken bin ich sicher nichts
weiter als ein Opfer der hinterhältigen
Scharfschützen, bin längst
zugrunde gegangen in jener Stadt, dessen Namen sie falsch
ausspricht. Nach dem Sturm, der nach ihrem Weggang auf
mich zukam und mich schließlich, an einem Wiener
Maitag, mit aller Macht erfasste, bin ich nicht mehr in der Lage, mich
bei ihr zu melden.
Ich spreche sie dennoch von aller
Schuld frei. Jetzt weiß ich, dass mein Unglück
längst
beschlossen und längst verbrieft war. Kitty hat mit ihrem
Abschied
nur die Ereignisse ins Rollen gebracht, damals am 6. 4. 1992, dem
Tag meiner Abreise aus Paris. Dem Tag, an dem weit im
Südosten Europas das Unglück jener anderen Stadt
begann.
Sarajevo, in dem ich nie war und in dem ich neu geboren
werden sollte, um der verdunkelten Wahrheit meines Lebens
zu begegnen. Geduldig hatte sie dort bis zu diesem Jahr
auf mich gewartet. Sarajevo, das mir zum letzten Mal die Küsse
einer Frau anbieten, die Hoffnungslosigkeit und das
tödliche Wirken der Liebe zeigen sollte. Und das mir am
Schluss nur eine Richtung weisen, nur einen Ausweg lassen
würde. Mich wärmt der Gedanke, dass diese Stadt im
Unterschied zu mir dennoch überleben wird. Selbst wenn die
Barbaren sie Hunderte von Jahren belagern und nicht ein Stein
auf dem anderen bleibt. Meine einzige Hoffnung ist, dass sie
bestehen wird mit jenen, die mir heute am nächsten sind, die
ich ohne Vorwarnung verlassen habe, ohne Abschiedsgruß,
wie ein Feigling oder besser gesagt wie ein Verräter.
Eine Wahl hatte ich nicht, das möchte ich wenigstens zu meiner
Verteidigung sagen.
Nein, wirklich, ich hatte keine Wahl. (...)