Ruth Berger: "Warum der Mensch spricht"
Eine Naturgeschichte der Sprache
Sprachevolution
'Eine Naturgeschichte der Sprache' (Untertitel) liefert uns die
Sprachwissenschaftlerin Ruth Berger, indem sie untersucht, inwiefern
der
menschliche Sprecherwerb als evolutionsgeschichtlicher Prozess zu
verstehen ist.
Zusammengeführt werden hier die allerneuesten Erkenntnisse aus
Biologie,
Neurologie, Archäologie, Paläoanthropologie und
Sprachwissenschaft. Eine
Grundfrage lautet: ist die Sprache Natur (nach Herder) oder Kultur
(nach Kant)?
Die provozierende These in diesem Zusammenhang lautet: "Affen
können,
wenn sie unter Menschen aufwachsen, im Prinzip genauso sprechen lernen
wie
wir." Da fällt einem natürlich der
Loriot-Cartoon ein, in dem der
angeblich sprechbefähigte Hund immer nur "oh oh oh
oh oh"
stammelt. Inzwischen wissen wir, dass Hunde Wörter lernen
können, um Kommandos
auszuführen, aber selbst nie sprechen werden. Es wäre
auch völlig illusorisch
darauf zu hoffen, dass uns ein authentischer Affe so wie Kafkas
Rotpeter einen
"Bericht" ablieferte - obwohl es in Einzelexperimenten erstaunliche
Ansätze zur Kommunikationsbefähigung bei Affen gab.
Allerdings gilt bereits
als erwiesen, dass Menschen und Affen die Befähigung zur
gestischen
Kommunikation einem gemeinsamen Urahn verdanken müssen.
Berger findet heraus, dass
Sprechen
mit Atemkontrolle zusammenhängt. Also konzentriert sie sich
auf die Frage, "wann
unsere Vorfahren die Atemkontrolle erwarben." Vielleicht
existierte vor
1,8 Millionen Jahren in Tansania eine Gruppe des homo ergaster,
welche
dem heutigen Sprechen ähnliche Laute von sich gab. Vor 600.000
Jahren
jedenfalls war das Gehör des homo heidelbergensis
bereits an menschliche
Sprachlaute angepasst. Sicher ist, dass aus den afrikanischen
Heidelbergensis-Sprachen vor rund 100.000 Jahren die ersten Sprachen
des homo
sapiens hervorgingen. Das Sprachgen FOX P2 ist im Gehirn
aktiv besonders bei
Kindern - und da besonders bei Menschen und Singvögeln - beide
müssen im
Kindesalter Lautreihen lernen. Allerdings vermuten Forscher heute doch,
dass die
Sprachbefähigung des Menschen nicht genetisch bedingt ist - es
ist nämlich
doch der menschliche Geist, der unsere Spezies allen anderen
überlegen werden
ließ - und die Sprachbefähigung wird allgemein als
Selektionsvorteil
in der
Evolution angesehen. Berger geht dem Problem nach, inwiefern das
Herstellen von
Werkzeugen neurologisch mit dem Spracherwerb zusammenhing - und
stößt auf
verschiedene Theorien. Eine zentrale Frage dabei ist, ob Intelligenz
und
Grammatikfähigkeit unmittelbar zusammenhängen.
Immerhin unterscheiden wir ja
zwischen 'lernbehindert' und 'sprachgestört'.
Nicht nur unsere Sprache, auch die Aktivitäten unseres Alltags
haben eine
Hierarchie, eine Art Grammatik. Sprache dient der Klassifizierung von
Objekten.
Und sie ist kombiniert mit Gefühlen, lässt sich auf
gestische, mimische und
lautliche Signale reduzieren. Und so hat sie sich - umgekehrt
argumentiert -
wohl auch entwickelt. Im Grunde ist unsere Sprache aus Tierlauten
hervorgegangen, die Artikulation von Wörtern wurde aus den
Tierlauten
verfeinert. Eine stark vertretene Forschermeinung ist, dass die
menschliche
Sprache von der Mutter-Kind-Beziehung ausging. Überhaupt
spielen sprachliche
Bindungsrituale eine entscheidende Rolle für die Organisation
unseres
Soziallebens. Der entscheidende Schritt geschieht, wenn die
Kommunikation vom
Ich und einem Gegenüber gemeinsam auf etwas Drittes zielt -
der Mensch beginnt
zu "zeigen" - und möchte das zu Zeigende auch benennen, wenn
es nicht
sichtbar vorhanden ist!
In der Evolution kamen wohl ein erhöhter Trieb nach Bildung,
wachsender
Verstand und Sprachentwicklung zusammen. Berger hat eine
längere Liste von
Indizien zusammengetragen, die es plausibel erscheinen lassen, dass
sich Sprache
sukzessive seit ca. zwei Millionen Jahren entwickelt hat: von den
Nervenkanälen
zur Atemkontrolle über die Zungenbeinform, die
Hörfähigkeit und das
Sprachzentrum im Hirn, Intelligenz und kulturelle Konventionen, die
Funktion von
Signalen, speziell auch von Wörtern und Grammatik. Zu der
Zeit, als das
menschliche Gehirn zu wachsen begann, wurde das Sozialleben intensiver
und
komplizierter - die Sprache entwickelte sich als Teil der sozialen
Spezialisierung. Beute musste anderen abgejagt und
anschließend gerecht
verteilt werden. Abgesehen davon, dass es schwierig ist, "Sprache"
überhaupt
zu definieren, kann es nach heutigem Wissensstand so etwas wie Sprache
vor ca.
1,8 Millionen Jahren gegeben haben. Wir sind auch deshalb vom Affen zum
Menschen
geworden, weil die Sprache daran beteiligt war, unser Gehirn zu formen,
zu
trainieren. Das vorliegende Buch entwickelt sehr interessante und auch
nachvollziehbare Gedanken zur menschlichen Sprechbefähigung,
die man wohl als
heutigen Erkenntnisstand akzeptieren kann.
(KS; 06/2008)
Ruth
Berger: "Warum der Mensch spricht.
Eine Naturgeschichte der Sprache"
Eichborn, 2008. 302 Seiten.
Buch
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Ruth Berger, geboren 1967, studierte neben Turksprachen, Hebräisch und Englisch allgemeine Sprachwissenschaft und Biologie. Sie schrieb ihre Magisterarbeit über die Geschichte der Anthropologie, promovierte in Judaistik und arbeitete als Judaistin an verschiedenen deutschen Universitäten.
Leseprobe:
Besitzt der Mensch einen angeborenen, natürlichen
"Sprachinstinkt",
wie es schon Herder behauptete?
Oder ist Sprache eine kulturelle Erfindung - so wie die Landwirtschaft
oder die
Dampfmaschine? Das war die Ansicht von Kant.
Mitte des 20. Jahrhunderts war die zweite Hypothese viel beliebter als
die
erste. Aus guten Gründen: Es schien kein Problem, neue
Kunstsprachen wie
Esperanto oder Volapük zu erfinden. Auch die
Gebärdensprachen der Gehörlosen
wurden von den Menschen neu "konstruiert". Warum also sollte nicht
auch Sprache insgesamt eine Erfindung sein?
Man konnte sich das zum Beispiel so vorstellen: Eines Tages hatte sich
eine
pfiffige Person überlegt, wie man mit einer Art lautlichem
Code die
Kommunikation zwischen den Menschen verbessern könnte.
Irgendeine Lautfolge würde
für "Wasser" stehen, eine andere für "Mammut". Wenn
das
erst alle in der Gruppe wüssten, würde
künftig bei der Rückkehr ins Lager
jemand "Wasser Mammut"
sagen und alle verstünden, dass es am Fluss eine zur Jagd
einladende
Mammutherde gab. Eine solche Erfindung hätte sich wegen ihrer
vielen Vorzüge
schnell durchgesetzt und nach einer Reihe von Verfeinerungen
wären unsere
heutigen Sprachen dabei herausgekommen.
Als biologische Voraussetzung würde demnach unsere allgemeine
Intelligenz genügen,
die uns befähigt, ein Codesystem zu entwickeln. Einen
speziellen "Sprachinstinkt"
gäbe es nicht.
Auf den ersten Blick spricht vieles dafür. Sprache ist ja ein
frei variierender
Code. Während die meisten Singvogelarten nur ein Lied singen
können, gibt es
unzählige unterschiedliche menschliche Sprachen. Jede davon
stellt einen
eigenen Code dar, und die Codes nicht verwandter Sprachen haben wenig
Ähnlichkeit.
Was bei Deutschen "Wasser" heißt, heißt
für Türken su und für
Israelis mayim. Die Laute sind offenbar ganz willkürlich dem
von ihnen
bezeichneten Gegenstand zugeteilt. Es handelt sich also um
Konventionen, die in
einer bestimmten Sprachgemeinschaft üblich sind und in anderen
nicht. Solche
regelhaften Gewohnheiten kann man als Außenstehender, zum
Beispiel als
Fremdsprachenschüler, lernen. Sie können sich mit der
Zeit ändern, und das
manchmal sehr schnell: In den Siebzigerjahren brauchten Politiker
Leibwächter. Heute
heißen die gleichen Personen fast immer Bodyguards - das
englische Fremdwort
ist auf dem besten Wege, den deutschen Begriff zu ersetzen.
Mit den Wörtern einer Sprache verhält es sich dabei
auffällig anders als mit
anderen Formen der menschlichen
Kommunikation. Bitte ich in China um
"Wasser",
bekomme ich wahrscheinlich keins, weil man mich nicht versteht. Ein
plärrendes
deutsches Baby aber signalisiert auch Chinesen erfolgreich sein starkes
Missbehagen, ohne je eine Fremdsprache gelernt zu haben. Der
Verhaltensforscher
Eibl-Eibesfeldt hat die Verständlichkeit von
Gesichtsausdrücken bei den
entlegensten Völkern getestet. Es fanden sich nirgendwo
Menschen, die eigene
Gesichtsausdrücke für Grundemotionen wie Furcht,
Freude, Überraschung oder
Ekel benutzten. Ein fröhliches Gesicht wird überall
auf der Welt als fröhlich
erkannt. Sogar von Geburt an Blinde zeigen die entsprechende Mimik,
ohne sie
jemals bei anderen Menschen gesehen zu haben.
Bei Säuglingsschreien und Gesichtsausdrücken handelt
es sich nicht um willkürliche,
konventionelle Festlegungen, sondern um angeborene
und unwillkürliche
Verbindungen zwischen dem Signal und seiner Bedeutung. Die
Muttersprache ist
dagegen niemandem angeboren. Nehmen wir an, ein Kind, dessen Eltern
Chinesisch
sprechende Chinesen sind, wird ab dem Säuglingsalter von
deutschen
Adoptiveltern aufgezogen. Weltweit gibt es Tausende von
Auslandsadoptionen im
Jahr; die Kinder lernen genauso perfekt Deutsch wie leibliche Kinder
deutscher
Eltern. Die Sprache ihres Ursprungslandes wird für sie zur
Fremdsprache wie für
jeden Deutschen. Die Muttersprache ist also immer die Sprache, mit der
man als
Kind aufwächst. Welche das ist, wird nur durch die Umgebung
festgelegt und
nicht durch die Gene.
Ein weiteres starkes Indiz für diese These sind die grausamen
Schicksale, die
manche Kinder auch heute noch erleiden müssen. Der historische
Fall des Kaspar
Hauser ist ein wenig zweifelhaft, doch zwei andere Fälle
gelten als
authentisch. Einer handelt von einem kalifornischen Mädchen,
das bis zum Alter
von über 13 Jahren von seinem Vater festgebunden in
völliger Isolation von
Sprache gehalten wurde.
Als die Behörden das Mädchen 1970 befreiten, wurde es
zum Forschungsobjekt von
Sprachwissenschaftlern und Psychologen, die sich ihrerseits, das soll
nicht
unerwähnt bleiben, nicht immer menschlich korrekt verhielten.
Sie gaben dem Mädchen
den Namen Genie (sprich: Dschieni) und
überschütteten es zunächst mit
Zuwendung. Es blühte auf und begann mit großer
Neugier, die Menschen und die
ihm zuvor völlig unbekannte Welt außerhalb seines
Gefängnisses zu erkunden.
Ein Forscherehepaar nahm Genie als Pflegekind auf. Dort machte sie
große
Fortschritte. Doch als einige Jahre später die
Forschungsgelder ausliefen und
Genie sozusagen wissenschaftlich ausgelutscht war, ließen
ihre neuen
Bezugspersonen sie fallen. Sie kam in wechselnde, teils sehr schlechte
Pflegefamilien; Rückschritte waren die Folge.
Ein für die Sprachwissenschaft wichtiges Ergebnis der
traurigen Geschichte:
Genie hatte, als sie mit 13 gefunden wurde, keine Sprache besessen.
Ähnlich
soll es sich mit dem zweiten anerkannten Fall eines isolierten Menschen
verhalten haben. Der "Wolfsjunge" Victor war im Frankreich des
späten
18. Jahrhunderts als Kind ausgesetzt worden und hatte offenbar im Wald
bei einem
Wolfsrudel gelebt. Auch er konnte zunächst nicht sprechen. Wer
ohne eine
Sprache aufwächst, der lernt auch keine.
Dies scheint die Auffassung zu bestätigen, Sprache sei dem
Menschen nicht
angeboren, sondern von klugen Geistern erfunden worden, ein rein
kulturelles und
kein biologisch vorgeprägtes Phänomen. Zumindest auf
den ersten Blick. Doch
genau hier, bei Genie und Victor, gibt es einen Punkt, der Zweifel
aufkommen lässt.
(...)