Wilfried Witte: "Tollkirschen und Quarantäne"
Die Geschichte der Spanischen Grippe
Gerade einmal 125 Seiten umfasst
das im September 2008 beim Verlag Wagenbach erschienene gebundene Buch des
Historikers und Arztes Wilfried Witte zur Spanischen Grippe. Zieht man
Anmerkungen und Quellenangaben ab, verbleiben sogar nur noch 101 Seiten. Wer gut
im Kopfrechnen ist erkennt schnell, dass damit jede Seite den Leser rund stolze
17 Cent kostet, erwirbt man das Buch zum Neuverkaufspreis. Ja, lohnt das denn?
Gleich auf der ersten Seite steigt Witte - und mit ihm der Leser - richtig in
das Thema ein. Wie ein Thriller liest sich das Ganze, so schon der erste
Satz: "Angefangen hat angeblich alles im März 1918 in Kansas/USA."
Während der Leser sich gemütlich in seinen Lesesessel kuschelt, breitet sich
eine wahre Katastrophe vor ihm aus, die durch Aufzeichnungen von Zeitzeugen ergänzten
Schilderungen einer Pandemie, einer weltweiten Gefahr, die viele Todesopfer
forderte - man schätzt sie auf 50 Millionen, wobei die Dunkelziffer sogar noch
höher liegen dürfte.
Witte gelingt es vom ersten Satz an, den Leser gefangen zu nehmen und die Zeit
um 1918 und später in Bezug auf die Spanische Grippe wirklich lebendig werden
zu lassen. Fachlich versierte Kommentare und Erläuterungen runden das Bild für
all jene Leser ab, die mit den verwendeten Begriffen, Ereignissen und Zusammenhängen
historisch oder medizinisch nicht so sehr vertraut sind. Doch schulmeisterlich
wird es nie, und so liest man sich immer tiefer in die Geschichte der Spanischen
Grippe ein, ohne je aus dem Kontext gerissen zu werden. Sicherlich wird so
manche Begebenheit oder Person etwas ausufernd thematisiert, während für
manche andere, von denen man vielleicht gern mehr erfahren würde, nur einige
Anmerkungen verbleiben, doch das macht nichts. Es geht hier nicht um einzelne
Personen, weder um bekannte noch unbekannte. Es geht auch nicht um einzelne
Helden der Geschichte, auch wenn Witte mit erstaunlichem Detailreichtum
darstellt, welche Maßnahmen wer wann zu welchem Zweck und für wen kreierte, um
der Krankheit Herr zu werden. Es geht wirklich um "sie", um die Grippe
höchstpersönlich; um ihre Entwicklung, ihre Tücken, ihre Rückkehr, ihre
Entwicklung.
Wer sich nicht sonderlich für historische Ereignisse oder auch Seuchen
interessiert, fragt sich an dieser Stelle wahrscheinlich, warum er "Tollkirschen
und Quarantäne" überhaupt lesen sollte, verständlich. Das überaus
Spannende an der Spanischen Grippe ist, wie Witte ebenfalls ausführt, dass es
sich bei der Spanischen Grippe um einen Influenza-Abkömmling handelt,
namentlich um Subtyp A/H1N1. Dieses Detail wird anderen Lesern ebenso wie mir
erst einmal nichts sagen, aber wenn Sie erfahren, dass die Vogelgrippe Subtyp
A/H5N1 ist, macht es das Ganze schon spannender. Die Spanische Grippe liegt ja
schon beinahe ein Jahrhundert zurück, die letzte Aufregung um die Vogelgrippe
fand hingegen erst vor kurzem statt. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der
Vogelgrippe und der Spanischen Grippe? Was ist mit der Schweinepest, und was ist
überhaupt eine Zoonose? Auch diesen Fragen geht Witte in seinem Buch auf den
Grund und erläutert sie spannend und doch fachlich, verzichtet dabei jedoch auf
allzu düstere Visionen und unnötiges Schüren von Panik.
Witte ist es gelungen, ein sehr spannendes und wahnsinnig interessantes Buch zur
Spanischen Grippe zu schreiben, das umfassend und gut recherchiert über den
Verlauf der Grippe, Hintergründe, Therapieversuche, aber auch über Neben- und
Auswirkungen informiert. Eine wahre Goldgrube - was auch die eingangs gestellte
Frage hinsichtlich des Kaufpreises mehr als beantworten dürfte.
(Tanja Thome; 12/2008)
Wilfried Witte: "Tollkirschen und Quarantäne.
Die Geschichte der Spanischen Grippe"
Verlag Klaus Wagenbach, 2008. 125 Seiten.
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Wilfried Witte, geboren 1965,
studierte Geschichte, Philosophie, Publizistik, Medizingeschichte an der Freien
Universität und der Technischen Universität Berlin, M.A. 1993. Er absolvierte
zudem ein Studium der Humanmedizin an der Universität Heidelberg und an der
Charité Berlin, Approbation 2002, Promotion 2003. Während des Medizinstudiums
war er zeitweise Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Geschichte der
Medizin der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
Weitere Buchtipps:
Wilfried Witte: "Erklärungsnotstand.
Die Grippeepidemie in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung Badens"
Die epidemische Grippe heutiger Tage ist zumindest so sehr ein Rätsel geblieben
wie die Pandemie der Jahre 1918 bis 1920 unaufgeklärt ist. Eine
Gesamtdarstellung der Pandemie in Deutschland, wie sie dieser Arbeit anstrebt,
lag bislang nicht vor. Im Mittelpunkt der Arbeit steht neben der Erörterung der
gesundheitspolitischen Herausforderung, die die Seuche darstellte, die
systematische Ausarbeitung der zeitgenössischen Theorie und Praxis der Medizin
in Bezug auf die Influenza. Der Blick auf die Grippe in Deutschland insgesamt
geht dabei aus von der Darstellung der Ereignisse um die Influenza in Baden im
besonderen. Darüberhinaus wird die mit der Grippe in Verbindung stehende
Encephalitis lethargica-Epidemie der 1920er-Jahre, über die
Oliver
Sacks für die USA geschrieben hat, erörtert. (Centaurus)
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Manfred Vasold: "Grippe, Pest und Cholera. Eine Geschichte der Seuchen in
Europa"
Die Pest in Asien und Afrika;
Der Schwarze
Tod; Das Fleckfieber; Grippe, Pest und Cholera; Die asiatische Cholera; Die
Lepra (Aussatz); Die Pocken (Variola maior); Überleben nach der Geburt;
Geschlechtskrankheiten; Die Grippe; Die "großen Killer" von heute;
Die gewonnenen Jahre. (Franz Steiner Verlag)
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Marc Hieronimus: "Krankheit
und Tod 1918. Zum Umgang mit der Spanischen Grippe in Frankreich, England und
dem Deutschen Reich"
Von Frühjahr 1918 bis Frühjahr 1919 grassierte weltweit eine Epidemie mit dem
Namen "Spanische Grippe". Die Opferzahlen überstiegen bei weitem die
des Ersten
Weltkriegs. Wie gingen Behörden, Ärzte, Militär, die einfache
Zivilbevölkerung nach vier Jahren ungekannter Kriegshärte mit dieser Geißel
um? Welche Handlungsspielräume gab es angesichts der notorischen Ressourcen-,
Geld- und Personalknappheit? Wie berichteten die Zeitungen über die Grippe? (LIT
Verlag)
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