Khushwant Singh: "Der Zug nach Pakistan"


Das dünne Seil der Hoffnung

Einer der brutalsten Abschnitte in der Geschichte der Erde, bei dem eine Million Männer, Frauen und Kinder getötet und zehn Millionen aus ihren Häusern vertrieben und ihrer Habseligkeiten beraubt wurden, war die Teilung Britisch-Indiens im Jahre 1947, aus der der neu gegründete Staat Pakistan hervorging.
Seine persönlichen Erlebnisse verarbeitete der Autor in dem 1956 in Indien und nunmehr erstmals auf Deutsch erschienen Roman "Der Zug nach Pakistan".

Khushwant Singh stellt darin das menschliche Drama dieses schicksalhaften Sommers, das Ziehen der blutigen Trennlinie im Nordwesten Indiens, in einem kleinen Dorf nach. Als die Flut von Flüchtlingen und das grauenvolle Blutvergießen auch hier ankommen, sind die einfachen Männer und Frauen überrascht, überfordert und innerlich zerrissen.

Das Dorf, Mano Majra, befindet sich direkt an der Eisenbahnstrecke von Delhi nach Lahore. Die Züge bestimmen den Lebensrhythmus seiner Bewohner, hauptsächlich Sikh-Landwirte und ihre muslimischen Pächter. Religionszugehörigkeit spielt für sie (noch) keine Rolle. Egal ob Hindu, Sikh oder Muslim, sie leben unbekümmert und unberührt von der sich mehr und mehr ausbreitenden Gewalt ihren selbstgenügsamen, kooperativen und kargen Lebensstil, der trotz allem ihre täglichen Bedürfnisse abdeckt.

Muslime gegen Hindus - Hindus gegen Muslime
Als der Geldverleiher Ram Lal, der einzige Hindu, ermordet wird, verhaftet man als (unschuldige) Büßer den Dorfgauner Jagga, einen hünenhaften Sikh, und einen jungen, erst einen Tag nach der Tat angereisten Agitator der Kommunistischen Partei aus Delhi. Beide dienen als willkommene Sünder, um die Ruhe des Alltags wieder einkehren zu lassen. Doch schon bald soll das friedliche Dorf im wahrsten Sinne des Wortes von den grauenhaften Ereignissen überrollt werden.

Es gab bereits Gerüchte über sogenannte "Geisterzüge", gefüllt mit aus Pakistan kommenden abgeschlachteten Sikh-Flüchtlingen. Als jedoch der erste Geisterzug Mano Majra erreicht, ist es mit der Dorfruhe vorbei. Die Bewohner lassen alles stehen und liegen und versammeln sich auf ihren Hausdächern, um das "Ereignis" in stiller Faszination aus der Ferne zu betrachten. Der erste Zweifel ist gesät. Vereint schafft man zwar noch Benzin und Holz zum Verbrennen der Leichen heran, aber fortan prägt nachbarschaftliches Misstrauen den Alltag. Die örtliche Polizei trägt durch eingestreute Berichte über weitere Gräueltaten von Muslimen an Sikhs zu gesteigertem Misstrauen bei.

"Aber Mano Majra hat den Kelch der Bitternis noch nicht bis zur Neige geleert."
Der einsetzende Monsun lässt den am Dorf vorbeifließenden Fluss anschwellen. Dieser offenbart eines Tages eine grausige Fracht: Hunderte Tote treiben in seinen Fluten. Als der zweite "Leichenzug" im Bahnhof Halt macht, ist die brutale Realität auch in Mano Majra angekommen und schleicht sich als schiere Angst in die einfachen Herzen seiner Bewohner.

Das bis dato friedliche Dorf verwandelt sich in ein Schlachtfeld der widerstreitenden Loyalitäten, die niemand mehr kontrollieren kann. Auch hier beginnt die angeordnete menschliche "Säuberung", und die Sikhs kommen nicht umhin, sich von "ihren Muslimen", ihren Freunden zu trennen. Letztendlich sind sie gar gewillt, gegen ihre eigenen Verwandten die Waffen zu erheben. Nur Jagga stellt sich um den Preis seines Lebens in einer Rettungstat dem sinnlosen Abschlachten entgegen.

Ein Buch voller Mitgefühl und Menschlichkeit
Khushwant Singh skizziert seine Figuren mit sicherer und ruhiger Hand.
Auf mehr als zweihundert Seiten entwirft er ein ganzes Ensemble verschiedenster Einzelschicksale, die jedoch alle einen mehr oder weniger verbindenden Antagonisten haben: da ist der mächtige Friedensrichter und Polizeipräsident des Verwaltungsbezirkes Hukum Chand, ein schwermütiger, aber praktisch denkender Realist, und sein Günstling, der Unterinspektor der Polizei, das Dorfraubein Jaggat Singh "Jagga", der heimlich die Tochter des muslimischen Dorf-Mullahs trifft, oder aber der westlich gebildete Besucher mit dem mehrdeutigen Namen Iqbal (zweideutig, weil dieser seine Religion nicht verrät).

Das scharfe Auge des Autors für Details und seine Liebe zu den einfachen Menschen durchziehen den gesamten Roman. Durch seine detaillierte und feinfühlige Beschreibung der Charaktere, ihrer Lebensweise und ihrer familiären Beziehungen gewinnt der Leser einen tiefen Einblick in Indiens unrühmliche Vergangenheit, aber auch Verständnis für soziale, kulturelle und politische "Eigenheiten" in jener Zeit.
Singh gelingt es großartig, die menschliche Dimension der Teilung zu zeigen. Dazu tragen vor allem seine liebevoll gezeichneten Protagonisten bei, mit denen sich der Leser sofort identifizieren kann und die er ins Herz schließt.

Nach diesem Roman setzte Khushwant Singh seinen schriftstellerischen Werdegang als berühmter, aufsässiger, exzentrischer, aber auch humorvoller Kolumnist, Redakteur und Herausgeber fort. "Der Zug nach Pakistan" ist jedoch ein Buch voller Mitgefühl und Menschlichkeit.
In ihm bewahrt der Autor die Erinnerung an eine schreckliche Tragödie; zu schrecklich, als dass man sie vergessen sollte.

Fazit:
Im "Zug nach Pakistan" prallen Wahrheit und Fiktion mit atemberaubender Wirkung aufeinander. Khushwant Singh erzählt anhand der Episoden seiner Romanfiguren das Trauma und die Tragödie der Teilung Britisch-Indiens; Geschichten, die er, seine Familie und Freunde selbst erlebt oder gesehen haben.

(Heike Geilen; 04/2008)


Khushwant Singh: "Der Zug nach Pakistan"
(Originaltitel "Train to Pakistan")
Übersetzt von Axel Monte.
Insel Verlag, 2008. 234 Seiten.
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