Lea Singer: "Konzert für die linke Hand"
Spurensuche
Die angesehene Familie der Wittgensteins war im Österreich des
beginnenden 20.
Jahrhunderts so etwas wie die "Krupps der Habsburger Monarchie". Das
Familienoberhaupt Karl Wittgenstein führte das
häusliche Regime mit fester,
seelenloser Hand. Drei Brüder werden sich durch Freitod diesem
Drangsal
entziehen, zwei noch zu Lebzeiten des übermächtigen
Vaters. Paul, der
sensible, künstlerisch ambitionierte Sohn wagt einen Ausbruch.
"Ich
will mein Leben nicht zerstören."
Er will weg von den perfekt geschliffenen Manieren im Hause, an denen
man sich
ohne Mühe schneiden, ja mit denen man Glas ritzen konnte. "Manchmal
wuchs in Pauls Träumen ein Stammbaum aus dem Boden, dunkel, an
allen Ästen behängt
mit schweren kupfernen Namensschildern, die im Wind klirrten und ihn,
der unter
einem Baum stand, bedrohten. Jedes von ihnen konnte ihm den
Schädel spalten, stürzte
es herab."
Der zerrissene junge Mann trägt sich mit einer tiefgreifenden
Lebensentscheidung. Pianist will er werden. Der Vater tut den "Spleen"
seines Sohnes als Marotte ab. Ein Wittgenstein prostituiert sich nicht
mit Musik. Zwar gilt Kunst zu sammeln und auf höchstem Niveau zu
musizieren als
selbstverständlich, aber eine öffentliche
Zurschaustellung der Kunst, nein
danke. "Diese musischen Interessen waren als Krawattennadel
zu tragen,
Schmuck ohne Notwendigkeit." Der Hass auf den Vater
wächst.
"Der Wunsch, den Vater zu ermorden, ist erfreulicherweise in
der Wirklichkeit seltener als in Romanen, Dramen und den Mythen."
Diese Worte wählt kein Geringerer als
Thomas
Mann bei einer zufälligen Begegnung der
Beiden am Strand.
"Mythen. Uranus wurde von seinem Sohn Saturn entmannt, Saturn,
der seine Kinder aus Angst vor ihnen verschlang. Zwei Söhne hatte Karl
Wittgenstein
bereits aufgefressen. Die älteste Tochter des Saturn, Vesta,
blieb ewig
Jungfrau. Hermine, die Älteste, die Männerlose. Der
einzige überlebende Sohn
nötigte Saturn, die verschlungenen Kinder auszuspucken."
Geld macht nicht glücklich
Die Mutter - eine Frau ohne Stimme und mit geneigtem Haupt, wenn der
Patriarch
in der Nähe weilt -, die Kinder auf ihre Art alle mit
psychischen und
seelischen Problemen. "Oft war es Paul, als bewohne er die
luxuriöseste
Irrenanstalt
Wiens, wahrscheinlich der Monarchie. (...) Die Choreographie der
Familie
Wittgenstein war ohnehin kompliziert. Jeder gab vor, die Gemeinschaft
zu suchen,
und trachtete ihr zu entkommen. Was die Fluchtversuche meist
vereitelte, konnte
Paul nicht benennen. Oft dachte Paul, in einer Familie, die Trinker,
Mörder
oder Vergewaltiger in ihren Reihen wusste, müsse eine
ähnliche Anspannung
herrschen, die ständige Angst, eine Verderben bringende
Neigung könne erneut
ausbrechen." Zwei von ihnen gelingt zumindest ein versuchter
Ausbruch.
Beide gelangten zu großem Ruhm, der sich nicht auf den
Millionen ihres Vaters
stützte. Der Eine ist der jüngste Sohn Ludwig, der
ein berühmter Philosoph
wird und ebenfalls ausführliche Erwähnung im Buch
findet. Dem Anderen hat Lea
Singer dieses Buch gewidmet.
Die Autorin erzählt über einen Zeitraum von 34 Jahren
das Leben des Mannes,
der zum Weltklasse-Pianist avancieren soll, obwohl er zu Beginn des
Ersten
Weltkrieges seinen rechten Arm verliert. Doch ein ungebrochener
Lebensmut lässt
ihn daran nicht verzweifeln, sondern gar noch wachsen. Damals
aufwärtsstrebende
junge Komponisten wie Hindemith, Britten, Prokofjew, aber auch solche,
die bereits einen angesehenen Namen besaßen (Ravel, Strauss)
schrieben für ihn
extra Klavierstücke für die linke Hand.
Das Buch verströmt einen permanenten Lesesog, dem man sich
nicht entziehen
kann. In einer wunderschönen, atmosphärisch dichten
Sprache gelingt Lea Singer
nicht nur eine einfühlsame Biografie der Familie Wittgenstein
im Allgemeinen
und Pauls im Besonderen, sondern ebenso ein eindrucksvolles Zeitzeugnis
der sterbenden k.u.k.-Monarchie und der zerrissenen Zeit zwischen den
beiden Weltkriegen.
Auch wenn die Autorin jedes Jahr mindestens zwei Bücher
veröffentlicht, so ist
von Oberflächlichkeit in dieser "Abhandlung" nichts zu
spüren.
Akribische Recherchen lassen ein in sich stimmiges und vor allem
spannend einfühlsames
Bild einer tragischen Familiengeschichte vor den Augen des Lesers
entstehen. "Man
kann, glaube ich, kaum einen Menschen aus seiner Familie
herausreißen",
sagte Lea Singer in einem Interview. "Jeder ist auch, wenn er
seine
Familie verlässt, durch sie definiert. Und diese Familie war
ein besonders
dramatischer Haufen und beweist die Binsenweisheit, dass Geld
nicht glücklich
macht."
Fazit:
"Der Krieg im Hause Wittgenstein war ein Kampf um Liebe,
obwohl keiner zu sagen gewusst hätte, was das war."
(Heike Geilen; 11/2008)
Lea
Singer: "Konzert für die linke Hand"
Gebundene Ausgabe:
Hoffmann und Campe, 2008. 463 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011. 464 Seiten.
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Weitere
Lektüreempfehlungen:
Irene
Suchy, Allan Janik, Georg Predota (Hrsg.): "Empty
Sleeve. Der Musiker und Mäzen Paul
Wittgenstein"
Empty Sleeve - "der leere Ärmel" -
augenscheinlichstes Merkmal
des armamputierten Pianisten. Paul Wittgenstein verlor im Ersten
Weltkrieg
seinen rechten Arm und begann eine beispiellose Karriere als Pianist
und
Produzent. Erst im Dezember 2004 wurde das letzte seiner 17 in Auftrag
gegebenen
Klavierkonzerte uraufgeführt, jenes von Paul Hindemith. An dem
von ihm
initiierten Oeuvre an Klavierkonzert-, Solo- und Kammermusikliteratur
arbeiteten
die Großen der europäischen Musikgeschichte; es
reicht von Ravel bis Richard
Strauss, von
Prokofjew bis Franz Schmidt, von Britten bis Tansman. Paul
Wittgensteins Wirken stand bislang im Schatten seines Bruders Ludwig.
Seine
Geschichte ist auch die einer berühmten Familie, die
Österreichs Wirtschaft
und Kunstszene geprägt hat; sie ist eine ganz besondere des
Exils, der Flucht
vor den Nazis, des Freikaufes und der Restitution; sie ist ein
Brennspiegel der
österreichischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und in
weiterer Folge Teil der
us-amerikanischen Musikszene. Und sie ist eine kaum vergangene:
Wittgensteins
Witwe, die in Wien geborene und mit ihm ins Exil gegangene Hilde
Schania, starb
erst 2002; der Nachlass im Ausmaß von dreieinhalb Tonnen kam
fast gänzlich in
ein Privatarchiv nach Hongkong. (Studienverlag)
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Thomas
Bernhard: "Wittgensteins
Neffe"
Mit seiner 1982 vorgelegten Arbeit über die Geschichte einer
Freundschaft
führt Bernhard seine Autobiografie, die Beschreibung seiner
Kindheit und Jugend
in fünf Bänden, weiter in die Jahre 1967 bis 1979.
Bei einem
Sanatoriumsaufenthalt vertiefte sich seine Freundschaft mit Paul
Wittgenstein,
die in leidenschaftlichen Diskussionen über Musik begonnen
hatte. Paul
Wittgenstein, der Neffe Ludwig Wittgensteins, maturierte am
Theresianeum in Wien
und studierte danach Mathematik.
Seit seinem 35. Lebensjahr brach seine
Nervenkrankheit immer wieder durch. Anfänglich finanziell sehr
gut gesichert
durch die Reichtümer einer der reichsten Familien
Österreichs, verschenkte er
sein Vermögen unbekümmert an Freunde und Arme, bis er
selber in Armut
dahinvegetierte. In seinen letzten Lebensjahren vereinsamte er mehr und
mehr,
nur noch mit seinem Freund Thomas Bernhard verbunden. Bernhards Notizen
sind zum
Bericht der Sterbegeschichte des Paul Wittgenstein geworden.
Zwölf Jahre
hindurch hatte er das Sterben seines Freundes beobachtet. Und durch
diese
Beobachtung hat sich auch die Selbstbeobachtung Thomas Bernhards
verschärft -
so dass durch den Porträtierten auch das Buch des
Porträtisten starke Konturen
gewinnt. (Suhrkamp)
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Alexander Waugh: "Das
Haus Wittgenstein. Geschichte einer ungewöhnlichen Familie"
Die Wittgensteins gehören zu den schillerndsten Familien des ausgehenden 19.
und 20. Jahrhunderts. Vater Karl hatte es als Stahlmagnat zu großem Vermögen
gebracht und führte ein offenes Haus, in dem Musiker wie
Brahms,
Mahler oder
Richard Strauss und die Wiener Avantgarde verkehrten. Seine Kinder jedoch litten
unter dem strengen Vater: Drei der fünf Söhne brachten sich um, einer
verschenkte sein Erbe und wurde ein weltbekannter Philosoph, einer blieb
Pianist, der trotz fehlender rechter Hand konzertierte und sich von Ravel,
Hindemith, Prokofjew oder Britten Stücke komponieren ließ.
In seiner faszinierenden Biografie schildert Alexander Waugh die gesamte Tragik
und Größe einer Familie vor dem Hintergrund zweier Weltkriege und dem
Nationalsozialismus. Entstanden ist das erschütternde Porträt einer Familie so
hochbegabter wie schwieriger Menschen. (S. Fischer)
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Hans
Veigl: "Einzelgänger &
Exzentriker. Außenseiter wider den Zeitgeist"
Auffallend ist ihre Scheu vor bürgerlicher
Konformität. Gemeinsam ist ihnen
das Vergnügen, anders, in aller Unschuld asozial zu sein.
Einzelgänger und Exzentriker sind kreativer, wagemutiger,
weniger
kompromissbereit. Sie neigen zu hochfliegenden Plänen und
zweifeln an deren
Verwirklichung. Diesen Menschenschlag gibt es auch hierzulande.
Der Band enthält zahlreiche Lebensbilder des
österreichischen Typus des
Exzentrikers: Johann Valentin Neiner, der Sprachpurist, der seltsame
Wortgebilde
erfand, um das Französische und Italienische in Wien zu
verdrängen. Der
angesehene Hofjude Johann Adam Wetzlar von Plankenstein, der mitten im
Biedermeier zum Islam konvertierte. Franz Grillparzer, der
während seiner
zahlreichen Reisen von einer voll entwickelten Hypochondrie begleitet
wurde. Die
Reichsgräfin Triangi, geborene Samek, verheiratete Rindskopf,
gab in Wien
Abende, an denen sie gleichermaßen schlecht sang wie spielte.
In der Stadt aber
wurde sie eine Institution, wo die Hetz immer schon etwas wert war. Vom
Ottakringer Hochstapler und Hellseher Erik Jan Hanussen, von den Nazis
ermordet,
weil er zu viel wusste, bis zu Paul Wittgenstein, Dandy,
Eintänzer und
Großneffe des Philosophen und regelmäßiger
Heilanstaltsinsasse reichen die
Porträts. (Böhlau Verlag Wien)
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