Ingo Schulze: "Adam und Evelyn"
"Auch
Gott war Schneider!" oder: Die drei großen F -
Ferien, Freundin, Freiheit
"Plötzlich waren sie da, die Frauen. Sie erschienen
aus dem Nichts, angetan mit seinen Kleidern, Hosen, Röcken,
Blusen und Mänteln. Manchmal war ihm, als träten sie
aus dem Weiß hervor oder als wären sie einfach
aufgetaucht, als hätten sie endlich die Oberfläche
durchbrochen und sich gezeigt. (...) Erst war nichts und dann etwas,
auf einmal war es da. Doch der Augenblick zwischen dem Nichts und dem
Etwas ließ sich nicht fassen, ganz so, als gäbe es
ihn nicht." Mit diesen Worten beginnt Ingo Schulzes Roman
"Adam und Evelyn". Diese wenigen Zeilen beinhalten bereits das ganze
Universum der Erzählung.
Knappe Sätze, nur angedeutete Szenen sind ist das
Markenzeichen des gebürtigen Dresdners. Schulzes Schreibstil
besticht durch seine Bescheidenheit. Er plustert sich niemals auf,
drängt sich nicht wortreich in den Vordergrund. Stilsicher
verkürzt er und spart aus: eine "kunstvolle
Kunstlosigkeit" stellte die "TAZ" treffend fest. So entsteht
eine ungemein komprimierte Dichte, die trotzdem - oder gerade deshalb -
von hoher Anschaulichkeit, Farbigkeit und Detailfreudigkeit
geprägt ist. Seine Erzählungen zwingen den Leser, an
der Geschichte dranzubleiben. Man muss selbst ergänzen, was
nicht weitschweifig ausformuliert wird. Es ist ein Stil, der nicht
auffällt, aber deshalb gerade so gut ist.
Zweideutigkeiten und Schwebezustände
Doch zurück zum Beginn. In dieser ersten Szene
schöpft ein junger Mann - irgendwo in der DDR-Provinz - seine
selbst geschossenen Fotos aus dem Entwicklerbad (zu DDR-Zeiten eine
nicht seltene Freizeitbeschäftigung) und bringt so seine von
ihm luxuriös gewandeten Frauen ans Licht. Lutz Frenzel - so
sein richtiger Name - arbeitet als Damenmaßschneider und
Hobbyfotograf. "Und Gott der Herr machte Adam und seinem
Weibe Röcke von Fellen und zog sie ihnen an",
zitiert er einmal im Verlauf der Handlung aus der Bibel (1. Mose 3, 1 -
19), was seine Freundin Evelyn spontan ausrufen lässt: "Auch
Gott war Schneider!"
Dass er seine Kundinnen - außer sie mit edlen Stoffen so
gekonnt zu drapieren, dass das ein oder andere Fettpölsterchen
perfekt kaschiert wird - von Zeit zu Zeit auch auf andere Art und Weise
beglückt, wird ihm - von Evelyn in flagranti erwischt - zum
Verhängnis. Die füllige Lilli ist hier das Corpus
Delicti. "Du sollst abhauen", sagt Evelyn daraufhin
impulsiv zu Adam.
Erneut eine dieser Zweideutigkeiten in Schulzes Sätzen, obwohl
es hier nicht politisch gemeint ist, sondern Evelyn nur ihre weibliche
Verletzung herausschreit.
Aber wir schreiben den 19. August 1989 - Zwischenzeit - das Ende der
DDR naht, alles ist im Schwebezustand. Auf dem Grundstück der
bundesdeutschen Botschaft in Budapest campieren Hunderte von
DDR-Bürgern und hoffen auf eine Ausreise in den Westen. Im
September werden die ersten Montagsdemonstrationen in der Leipziger
Nikolaikirche starten, die sich bald in viele
Großstädte des Landes ausweiten werden.
Doch noch sind Adam und Evelyn im "Osten", wo sie ein Häuschen
mit Garage, nebst "Heinrich", den alten Wartburg, Baujahr 1961, einen
Garten und einen Keller mit eingewecktem Quittenkompott haben. Aber nun
hängt der Haussegen wegen Adams "nebenberuflicher
Aktivitäten" mehr als schief.
Zurück ins Paradies?
Mit Freundin Mona und deren Westcousin Michael "flüchtet"
Evelyn nach Ungarn. Dass sie zuvor ihre Stellung als Kellnerin
gekündigt hat, macht Adam noch nicht unruhig, und dass sie
ihre Ausweispapiere und Dokumente im Koffer hat, bemerkt er erst
später. Adam fährt dem Dreiergespann nach, gabelt
unterwegs noch Katja auf, die gerade einen misslungenen Fluchtversuch
durch die Donau hinter sich und keinen Pass mehr hat.
"Was willst du denn im Westen?", fragt Adam. Katja: "Das
ist ne Frage! Besser leben, überhaupt leben." "Und bisher,
hast du nicht gelebt?" "Ich will das nicht mehr, eingesargt bis zur
Rente, nichts kannst du machen, nichts." Adam schleust sie im
Kofferraum über die slowakische Grenze und nimmt sie
letztendlich nach Ungarn mit, an den Balaton, wo sich die Vier plus
Einer entscheiden müssen, denn Ungarn hat Schlag Mitternacht
vom 10. auf den 11. September 1989 seine Grenze
nach
Österreich geöffnet. Bleiben oder gehen,
heißt jetzt die Frage.
Der Roman lebt vor allem von seinen ausgedehnten,
scharfsinnig-köstlichen Dialogen, die weit mehr als die
Hälfte des Romans ausmachen. In ihnen weiß Schulze
grandios die innere Zerrissenheit seiner Figuren, deren
gegensätzliche Haltungen, Erfahrungen und Argumente,
darzustellen. Dabei bleibt der Autor wohltuend im Hintergrund,
hält sich mit Urteilen und Wertungen erfreulich
zurück. Er lässt ursprünglich manifestierte
Meinungen kippen, Hoffnungen in Enttäuschungen umschlagen und
umgekehrt wiederum Enttäuschung in Hoffnung und trifft dabei
den Ton der damaligen Zeit auf das Vortrefflichste.
Dass er seine 55 einzelnen Kapitel nicht bis ins Letzte ausarbeitet,
lässt viel Freiraum für eigene Interpretationen.
Gleichzeitig besteht jedoch die Gefahr einer zu schnellen und lockeren
Lesart, zu der die knappe Satzstruktur, der leichte und luftige Stil
verleitet. Hier ist selbstauferlegte Dämpfung unbedingtes Muss.
Ingo Schulze bedient sich in seinem Roman der biblischen
Schöpfungsgeschichte und der Vertreibung aus dem Paradies, was
schon der Titel erkennen lässt und spätestens nach
dem Auftritt Lillis - ein Anklang an Adams Lilith, den
fraugewordenen Eros des schwarzen Mondes - klar ersichtlich ist. Auch
eine böse Schlange darf gefunden werden. Der Autor
erklärte in einem Interview, dass er "die eigene
Geschichte noch einmal erzählen, die eigenen Fragen noch
einmal stellen [wollte]: Gibt es ein Paradies? Was bedeutet der
Baum
der Erkenntnis und was der des ewigen
Lebens? Wie verändert sich die Liebe, wie
verändern sich Frauen und Männer durch so einen
Weltenwechsel?"
Letztendlich ist jedoch das Paradies gerade da nicht, wo man meint,
dass es sein müsste.
Fazit:
Glaubhaft und beeindruckend verbindet Ingo Schulze eine
Liebesgeschichte mit einem einschneidenden Moment deutscher Geschichte.
Dabei variiert er gekonnt mit den Motiven der
Schöpfungsgeschichte und ganz speziell dem Mythos vom
Sündenfall und verwandelt so - mit gewohnt leichter Hand, die
dennoch Tiefe zeichnet - die Wirklichkeit in ein Kunstwerk.
"Adam und Evelyn" ist ein politisches "Komödiendrama" mit
poetischem Tiefgang.
(Heike Geilen; 08/2008)
Ingo
Schulze: "Adam und Evelyn"
Gebundene Ausgabe:
Berlin Verlag, 2008. 320 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Taschenbuchausgabe:
dtv, 2010.
Buch
bei amazon.de bestellen
Noch
ein Buchtipp:
Kurt Flasch: "Eva und Adam. Wandlungen eines Mythos"
Der Mythos von Eva und Adam ist eines der mächtigsten Bild-
und Denkmotive der
westlichen Kultur. In den entscheidenden Wandlungen unserer Geschichte
wurde er
umgestaltet, die großen sozialen, intellektuellen und
künstlerischen Schübe
spiegeln sich in seinem Bild. In einem faszinierenden Essay, der den
kulturhistorischen, theologischen und kunstgeschichtlichen Aspekten
nachgeht,
erzählt Kurt Flasch von den Wandlungen dieses Mythos.
Dieses Buch handelt vom Ursprung der Menschheit, von Gott und der
Erschaffung
Evas; es erzählt vom Paradies und der Erbsünde. Es
rückt Eva ein wenig in den
Vordergrund und zeigt erneut die Macht des männlichen Blicks
auf die Frau. Das
Buch betrachtet Eva und Adam als Themen der westlichen Kunst, des
westlichen
Glaubens und Wissens. Es teilt - so heiter und so kurz wie
möglich - ein paar
wenig bekannte Einzelheiten mit aus dem Grenzgelände zwischen
Kunst- und
Ideengeschichte. Kurt Flasch redet als Historiker von Bildern und
Ideen. Er erzählt
als Reisender, der Eva und Adam oft begegnet ist, an der
Bernwardstür in
Hildesheim, an der Fassade von Notre Dame und am Adamportal in Bamberg,
in der
Brancacci-Kapelle in Florenz und in der Sistina im Vatikan. Noch
öfter hat er
sie angetroffen in alten Texten. Sein Buch hat zwei Teile. Im ersten
Teil präsentiert
Flasch die Bilder und Erzählungen, ihre Umformungen und
Auslegungen. Im zweiten
Teil gibt er einen Eindruck von der europäischen Denkarbeit an
dem ursprünglich
orientalischen Stoff und stellt die Doktrinen und Denkgebäude
vor, die von der
Paradieserzählung motiviert wurden - das große
christliche Dauerthema von Erbsünde
und Rettung. (C.H. Beck)
Buch
bei amazon.de bestellen