Roman Preist: "Mein Leben in zwei Welten"
Innenansichten einer Schizophrenie
Die
Klänge des Wahnsinns
Roman Preist offenbart dem Leser die Herrscher im Reich der Gedanken
eines Schizophrenen
Filme wie "Einer flog über das Kuckucksnest" oder "A Beautiful
Mind" thematisierten sie, Alfred Hitchcock und David Fincher spielten
in ihren Filmen mit ihr, der Horrorfilm missbrauchte sie: die
Schizophrenie. Noch heute ist diese endogene Psychose, die der
Münchener Ordinarius für Psychiatrie Ernst Kraepelin
unter dem Begriff "Dementia Praecox" beschrieb und für die der
Züricher Psychiater Eugen Bleuler 1911 den Begriff
Schizophrenie einführte, eine der rätselhaftesten,
unheimlichsten und besonders von Vorurteilen überfrachteten
Störungen.
Jeder, der schon einmal einen Marathon gelaufen ist, kennt diesen
kritischen Punkt: ein kleiner Anstieg im letzten Drittel kann den bis
dato im aeroben Bereich befindlichen - den relativ konstant gehaltenen
- Puls außer Kontrolle bringen. Jetzt gilt es zu entscheiden:
entweder man verlangsamt seinen Lauf oder man lässt zu, dass
der Puls immer weiter steigt.
Der Leser dieser Rezension wird sich fragen, was diese
Ausführung mit dem vorliegenden Buch zu tun hat. Roman Preist
meint: Sehr viel.
"Mit dem Assoziieren in der Schizophrenie war es wie mit dem
Puls beim Laufen.
Über lange Zeit halten sich die
Assoziationen auf konstantem Niveau. Plötzlich jedoch - durch
ein äußeres Ereignis - verändert sich
etwas. So wie der Läufer den Berg bewältigen muss,
kommt auf den Schizophrenen eine Anstrengung zu. (...) Er sucht nach
einem Ausweg aus seiner bedrohlichen Situation, und sein
'Assoziationspuls' steigt. (...) Es kann zur Folge haben, dass der Lauf
der normalen Gedanken plötzlich abbricht und er nicht mehr
klar denken kann. "
Abgründe und Höhen im Denken eines
Schizophreniekranken
Der Autor dieser Autobiografie weiß wovon er spricht, denn er
ist Betroffener. Seit dreizehn Jahren lebt er mit dieser Krankheit, hat
Episoden mehr oder weniger schwerer Anfälle hinter sich
gebracht, in denen er von extremem Verfolgungswahn befallen ist, innere
Stimmen hört und von grenzenloser Verlorenheit und
Verzweiflung heimgesucht wird. Preist wird immer wieder in Psychiatrien
eingeliefert, hat mehrere Selbstmordversuche hinter sich, verwahrlost
zeitweise extrem, bewegt sich mitunter am Rande des Wahnsinns.
Derweil stand ihm vor seiner Krankheit eine glänzende Karriere
bevor, war er doch ein vielversprechender junger Biophysiker, arbeitete
mit renommierten Wissenschaftlern zusammen und veröffentlichte
in den angesehensten Fachzeitschriften. Diese Berufslaufbahn und auch
ein großer Teil seines privaten Umfeldes sind der Krankheit
zum Opfer gefallen. Doch Preist hat sich nie aufgegeben.
Zwar ist er nicht geheilt, doch hat er mittlerweile seine Psychosen mit
Hilfe von Medikamenten und psychotherapeutischen Behandlungen
weitgehend im
Griff und meistert seinen Alltag.
Dieses Buch bezeichnet der Autor selbst als Reiseführer "in
das Land jenseits dessen, was die meisten von uns 'normal' nennen."
Preist lässt den Leser Seiten des menschlichen
Geistes
kennenlernen, die sich wie ein inszenierter Thriller
oder ein Science-Fiction-Szenario lesen. Doch es
sind seine Gedankengänge, seine empfundenen Erlebnisse,
Abgründe, aber auch Höhen seines Denkens und
Fühlens während einer Psychose, die er ungeschminkt
und ungeschönt mitteilt.
Akustische und optische Halluzinationen
Seinem Ich hat Roman Preist im Buch einen anderen Namen gegeben. Er
nennt sich Ralf Köter und beginnt sein Leben vor dem Ausbruch
der Krankheit in der Ich-Form zu erzählen. Relativ sozial
zurückgezogen, zeigen sich bereits in seiner Kindheit und
Jugend erste schleichende Anzeichen. Bei einem
Forschungs-/Sprachaufenthalt in Madrid wird der "Hebel
endgültig umgelegt". Ab diesem Zeitpunkt berichtet
der Autor in der dritten Form, so als grenze er sich von der Person ab,
die mit dem "normalen" jungen Mann auch nichts gemein hat.
Erschreckend, betroffen machend, mystisch, ja auch faszinierend lesen
sich die Beschreibungen nahezu unvorstellbarer Phasen während
einer solchen Psychose. Sei es der schier unendliche Fluss aus
zusammenhanglosen Worten und Wortkombinationen, der seinem Kopf
entspringt und die er auf einer Unmenge von Zetteln notiert, oder seien
es die Gedankengänge, die ihn zeitweise gar in
höhere, bewusstseinserweiternde Sphären eintauchen
lassen. Oder die akustischen oder optischen Halluzinationen, die ihn
befallen.
Preist offenbart alle Stadien, durch die er gegangen ist und in denen
er gefangen war. Der Autor analysiert selbstkritisch seine
Vergangenheit, verzichtet aber bewusst auf eine Wertung des Geschehens.
An das Ende des Buches hat er einen wissenschaftlichen Teil gestellt,
in dem er selbst gut nachvollziehbare (wissenschaftlich nicht belegte)
Thesen und Theorien über Entstehung und Ursachen der
Schizophrenie aufstellt.
Über die kleinen stilistischen Mängel und die
gelegentlich etwas zu ausufernden Zustandsbeschreibungen kann man bei
diesem Buch ohne Zweifel hinwegsehen.
Fazit:
Eine schonungslose und erschütternde Autobiografie des an
Schizophrenie erkrankten promovierten Biophysikers Roman Preist. Mit
einfachen Worten und Sätzen spricht ein Mann offen und ehrlich
über eine Krankheit, die in der Gesellschaft ganz schnell
stigmatisiert wird.
(Heike Geilen; 06/2008)
Roman
Preist: "Mein Leben in zwei Welten.
Innenansichten einer Schizophrenie"
dtv, 2008. 239 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:
Arnhild Lauveng: "Morgen bin ich ein Löwe. Wie ich die
Schizophrenie
besiegte"
Schonungslos offen und zugleich voller Humor schildert Arnhild Lauveng
in ihrem
autobiografischen Buch ihren Weg aus der Schizophrenie.
Eigentlich war sie eine ganz normale Vierzehnjährige, bis die
Einsamkeit immer
mehr Raum in ihrem Leben einnahm. Ihre Identität, die
Gewissheit, sie selbst zu
sein, begann sich aufzulösen. Schließlich die
Diagnose: unheilbare
Schizophrenie. Doch die junge Frau gab nicht auf und überwand
nicht nur die
Krankheit, sondern auch das Gesundheitssystem, das sie gefangen hielt.
Lauveng
hat an der Universität von Oslo studiert und arbeitet als
klinische
Psychologin, daneben ist sie erfolgreiche Buchautorin und gefragte
Referentin.
Für ihr Bemühen um mehr Offenheit im Umgang mit
psychischen Erkrankungen wurde
sie 2004 mit dem "Mental Health Prize"
ausgezeichnet. (btb)
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