Hansjörg Schertenleib: "Das Regenorchester"
Lebenssatt oder: Was ist das Leben?
Liebe und Enttäuschung, Leben und Tod, Vergangenheit und
Erinnerung,
Zufriedenheit und Trauer sowie Alter und Heimat sind die zentralen
Themen in
Hansjörg Schertenleibs Roman, der mit einem wunderbar
zartbesaiteten und
feingeistigen Duktus aufwartet.
"Glücklich sein heißt, ohne Schrecken seiner selbst
innewerden können."
Dieser Satz des Philosophen
Walter Benjamin,
der damit die Fähigkeit zur
Lebenskunst, zum sich gut Aushalten, umschrieben hat, könnte
als Leitmotiv über
dem Roman Hansjörg Schertenleibs stehen. Seine zwei
Protagonisten können dies
auf unterschiedliche Art und Weise. Niamh McGinty, die
64-jährige schwerkranke
Irin aus Muckros im County Donegal, hat ihn sich auf wundervolle Weise
verinnerlicht, und Sean, der Schriftsteller aus der Schweiz, der jetzt
in Irland
lebt - Schertenleibs alter ego? -, kämpft noch darum.
Zwei Wochen und vier Tage, nachdem ihn seine Frau verlassen hat,
begegnen sich
die beiden auf der Straße. Seans seelische Wunde
schwärt noch, er wird von
Selbstzweifeln geplagt und fürchtet sich vor dem Alleinsein ("Mit
wem
teilst du jetzt die Glücksmomente, die klein sind, aber doch
groß genug, dass
man sie eben teilen will?"), als die älter wirkende
Frau mit den
grauen Splittern in den blauen Augen und dem zerzausten Haarflaum auf
dem Kopf
ihn spontan anspricht. "So a poet you are, are you not",
um
alsdann in beinahe akzentfreiem Deutsch fortzufahren: "Dann
interessierst du dich für Geschichten? (...) Auch für
Liebesgeschichten? (...)
Wenn du morgen vorbeikommst, erzähle ich dir eine
Liebesgeschichte. (...) Meine
Geschichte ist lang. I'm an old lady. Und ich fange von vorne an."
Das
tut Niamh natürlich nicht.
"Ist die Zukunft der Vergangenheit vorzuziehen?"
"Welche Geschichte beginnt schon an ihrem Anfang?",
sinniert
der Ich-Erzähler, "Für die Dinge, die uns
im Leben zustoßen, können
wir kaum je einen Anfang bestimmen; den bekommen erst unsere
Geschichten darüber.
Selbstverständlich erzählte Niamh, um sich ihres
vergangenen Lebens zu
versichern. Heillos ist nicht, wenn man sich der Vergangenheit
erinnert, heillos
ist nur, wenn man sich nach ihr sehnt. Dann wird die Gegenwart zur
Qual, zur Hölle.
Niamh erzählte nicht für mich, sie erzählte
für sich selbst. Sie führte ein
langes, von Pausen unterbrochenes Selbstgespräch, für
das sie einen Zeugen
brauchte - mich."
In den folgenden Wochen werden sich die zwei fremden Menschen
näher kommen,
sehr nahe. Niamh wird Sean von ihrer Kindheit in den 1940er,
1950er-Jahren, von
ihrer vielköpfigen irischen Familie, ihrer Zeit in Oxford und
London, wo sie
sich bei einer gutbürgerlichen Familie als
Hausmädchen verdingt, sich in den
Sohn des Hauses verliebt, ihn aber wieder verliert, und von ihrer
deutschen
Freundin Nella erzählen.
Viele freudige, aber auch traurige, vor allem jedoch prägende
Erlebnisse setzt
der Schweizer Hansjörg Schertenleib peu à peu in
seinen Roman, der durchaus
als Novelle gelesen werden kann. Wie kleine Mosaiksteinchen
fügt sich Niamhs
Leben langsam zu einem Ganzen - eine Lebensbeichte. Tod und Neubeginn
liegen
immer eng beieinander.
Und typisch für eine Novelle spitzt der Autor seine Handlung
zu. Erst am Ende
erfährt der Leser den Hintergrund des gewählten
Titels. Regen
"begegnet" ihm zwar oft, aber warum gleich ein ganzes Orchester?
Dem 1957 in Zürich geborenen Autor, der seit einigen Jahren in
Irland lebt,
gelingt dabei eine immense sprachliche Nähe zu seinen
Protagonisten. Auf der
einen Seite durch die Erinnerungen der Irin, auf der anderen durch die
Gedanken
des gehörnten Schriftstellers, die Schertenleib wechselseitig
in sein
Romankonstrukt einbringt. Dabei bringt er es auf wunderbar
feinfühlige Art und
Weise, ohne weinseliges Pathos und jenseits von Kitsch und allzu viel
Empathie,
zustande, dass der Leser mitfühlt. Nur wenige Autoren
erreichen dies.
"Längy
Zyti" - das berndeutsche
Wort für Sehnsucht
Die Lektüre dieser sommerleichten Novelle, die trotz alledem
eine enorme
literarische Tiefe aufweist und auf stilistisch hohem Niveau agiert,
berührt
alle Sinne. Das leise, unaufdringliche und unspektakuläre Buch
übt vor allem
durch die Aktivierung aller fünf Sinne einen magischen Sog
aus. Gefühlte, gehörte,
gustatorische, olfaktorische und vor allem visuelle Eindrücke
und Erinnerungen
durchziehen meisterhaft den ganzen Roman. "Das Regenorchester"
verrückt
Distanzen: Fernes wird nah und Nahes fern. Es ist ein nachdenkliches,
aber nicht
grüblerisches, ein zuweilen melancholisches, aber nicht
trauriges Buch, eine
Lektüre mit Couleur und Odeur.
Schertenleib erzählt in einem unaufgeregten Tonfall, beinahe
bedächtig und
doch mit viel Gespür für atmosphärische
Details. Mit leichter Hand, fast
spielerisch, zuweilen mit zarter Ironie, zeichnet er das
Porträt zweier
liebenswürdiger Menschen und lässt
ungetrübte Momente des Einverständnisses
zwischen Jung und Alt in der Rückbesinnung entstehen. Fragen
wie "Was
ist wichtig, was unwichtig?" oder "Zählen
nur die großen
Dinge? Oder sind es die kleinen?" werden aufgeworfen.
Verschiedenste
Tiere (Bienen,
ein Wal, ein Papagei) versieht der Autor mit reichlich
Symbolkraft.
"Wer sich an nichts erinnert, hat nichts zu verzeihen. Ich
will mein
Leben kennen, nicht neu erfinden. Darum habe ich es dir
erzählt, Sean",
erklärt sich Niamh am Ende ihrer Geschichte.
Aber auch Sean ist an dieser "Lebensbeichte" gewachsen, hat mit Hilfe
der Irin die Trennung überwunden und sich einer neuen Zukunft
geöffnet. Wenn
er jetzt jemanden sagen hört, man könne nicht neu
anfangen, setzt er entgegen:
"Doch, das kann man. Man kann neu anfangen. Ich habe neu
angefangen. Ich
musste. Zum Glück."
Fazit:
"Das Regenorchester" ist ein leises, aber ungemein leidenschaftliches
Buch - ein symphonisches Zusammenspiel von Licht, Schatten, Geruch und
Klang, so
zart tönend, ausgewogen komponiert und doch bewegend wie
Mozarts
Klarinettenkonzert.
Jon McGregors "So oder so" war für die Rezensentin
das schönste
stille Sommerbuch des Jahres 2007, Hansjörg Schertenleibs
Novelle ist es ganz
klar im Jahr 2008: eine Hervorhebung der Schönheit des
Einfachen und
Unspektakulären sowie eine Ode an den Augenblick.
"I will forgive and forget,
but I will remember."
(Hansjörg Schertenleib, "Das Regenorchester")
(Heike Geilen; 08/2008)
Hansjörg Schertenleib: "Das Regenorchester"
Gebundene Ausgabe:
Aufbau-Verlag, 2008. 232 Seiten.
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Aufbau-Verlag, 2010.
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Weitere
Bücher des Autors (Auswahl):
"Cowboysommer"
"Freundschaft kann man genausowenig erklären wie
Liebe; doch was wären wir, wenn wir es nicht versuchten?"
Boyroth ist
mutiger, unangepasster, charismatischer als Andere. Und er hat eine schöne,
geheimnisvolle Schwester. Als Hanspeter ihm zum ersten Mal begegnet, weiß er,
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entfliehen sie ihrer engen Welt, bis ein furchtbares Unglück geschieht, das sie
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Kühn
und warmherzig zugleich erzählt Hansjörg Schertenleib vom Verlust der Unschuld
und von einer Freundschaft, die bis in den Tod führt. (Aufbau-Verlag)
zur Rezension ...
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"Die Geschwister"
Ein Ausbruch ins Leben: Nach einem Unfall lässt Martin, der
Kinogänger und
ewige Träumer, alles hinter sich. Zur selben Zeit
kündigt seine Schwester
Martina ihre Stellung als Lehrerin und fährt nach Wien. Beide
versuchen das
wiederzufinden, was sie verloren glauben: das wahre Leben, das ihren
Träumen
und Hoffnungen entspricht.
Eine poetische Reise zweier Geschwister, die nicht nur
nach
Wien und
Mexiko führt,
sondern mitten hinein ins Herz der Welt. (Aufbau)
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"Das Zimmer der Signora"
Während Stefano Mantovani in einem italienischen
Kriegsveteranenheim seinen
Militärdienst leistet, trifft er seine Jugendliebe Carla.
Nicht nur ihre
eindeutigen Offerten stricken um ihn ein immer dichter werdendes Netz
aus Lust
und Schmerz. Auch eine geheimnisvolle Signora bestimmt bald auf
irritierende
Weise sein Leben: Stefano bewirbt sich auf ihre Anzeige als Vorleser
erotischer
Texte. Er wird abgeholt und mit verbundenen Augen in ein Zimmer am
Gardasee geführt
...
Schertenleibs großer, preisgekrönter Erfolgsroman,
voll psychologischer
Raffinesse, Komik und abgründiger Erotik, erzählt auf
faszinierende Weise von
der unauflöslichen Verstrickung von Sexualität und
Macht, von deren weiblichen
und männlichen Ritualen. (Aufbau)
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"Wald aus Glas" zur Rezension ...
Hansjörg Schertenleib (Hrsg.): "Wiener Walzer. Eine
literarische Reise von Zürich nach Wien"
Texte von Alex
Capus, Franzobel,
Paulus
Hochgatterer, Silvio Huonder, Judith
Kuckart, Rolf Lappert, Annette Mingels,
Perikles
Monioudis, Christian Schüle,
Peter Stamm, Michael Stauffer, Mark van Huisseling, Keto von Waberer.
(Nagel & Kimche)
Leseprobe:
Das Futteral der Träume
1986 lebte ich für mehrere Monate in Wien, im Land meiner
Mutter; da ich mir
mein Auskommen als Schriftsteller finanzierte, indem ich die
Literaturseite
einer Schweizer Zeitgeistillustrierten betreute, musste ich alle zwei,
drei
Wochen zwischen Wien und Zürich hin und her reisen. In einer
Zeit, in der es
weder Billigflüge noch Easyjet oder Ryanair gab, fuhr ich mit
dem Zug. Und da
mir die stundenlange Fahrerei durch eine Landschaft, die ich nach einer
Weile
auswendig zu kennen glaubte, bald einmal lang und vor allem auch
langweilig
wurde, stieg ich nach kurzer Zeit auf den
Nachtzug um. Damit hatte ich meine
liebste Art des Reisens entdeckt: im Zug durch die Nacht,
dösend,
phantasierend, schlafend, träumend.
Erst fuhr ich mit dem Liegewagen, in engen, überheizten
Sechserabteilen,
Couchettes genannt, aber bald leistete ich mir den richtigen
Schlafwagen mit
seinen bequemen Vierer- und Zweierabteilen. Den Komfort der Einerkabine
würde
ich erst viele Jahre später und zudem auf einer anderen Route
kennen und
schätzen lernen.
Ich liebte die langen Fahrten durch die Nacht, das Singen und Schleifen
der
Schienen und Eisenräder, das stete Schlagen der Achsen. Es
dauerte nicht lange,
und ich kannte einige der Schlafwagenschaffner mit Namen und wusste um
ihre
Eigenarten, Vorlieben und Macken. Der eine zum Beispiel hatte immer ein
Buch in
der Tasche seiner Schaffnerjacke stecken, ein anderer
räusperte sich alle paar
Minuten mit zugekniffenen Augen und brachte es nicht fertig, einen
anzusehen,
bei einem Dritten lagen immer zwei angebissene Wurststullen auf dem
Tischchen
seiner Dienstkoje. Nach einer Weile entwickelten sich so etwas wie
flüchtige
Freundschaften zu anderen Reisenden, die wie ich
regelmäßig mit dem Wiener
Walzer unterwegs waren.
Ich hatte Begegnungen und führte Gespräche, die ich
mir bis dahin noch nicht
einmal am Schreibtisch ausgedacht hätte. Die lange Fahrt durch
die Nacht und
durch eine dunkle Landschaft, die sich
höchstens erahnen ließ, schien Zungen zu
lösen und Geschichten zu befördern.
Männer, die ich kaum kannte, weihten mich in
ihre Eheprobleme ein, zeigten mir Fotos ihrer Kinder, Häuser
und Geliebten und
erzählten mir ihre verschlungenen und oft genug
abenteuerlichen
Lebensgeschichten. Wir standen in engen Gängen, Bierflaschen
und Zigaretten in
den Händen, sahen Lichter einsamer Höfe und
Dörfer vorbeifliegen, das stete
Hämmern der Achsen im Ohr, erzählten und
hörten zu.
Nicht selten begegnete ich Menschen, die sich ihres Lebens
versicherten, indem
sie es in Worte fassten, vor mir, dem Fremden, der für eine
Nacht dasselbe Ziel
hatte wie sie: den Westbahnhof in Wien oder den Hauptbahnhof in
Zürich. Dort
angekommen, das war die Voraussetzung unserer Offenheit, trennten sich
unsere
Wege; die Geschichten, die wir uns gegenseitig erzählt hatten,
waren gut
aufgehoben, denn sie würden mit Sicherheit nicht gegen den
Erzähler verwendet
werden. Man hatte sich jemandem offenbart, hatte jemanden unterhalten,
der einen
nicht kannte und daher wohl darauf verzichtete, die falschen
Schlüsse zu
ziehen. Viele dieser Reisenden führten eigentlich
Selbstgespräche, für die
sie einen Zuhörer brauchten, einen anonymen Zeugen, denn
schließlich wird eine
Geschichte nicht lebendig, indem sie erzählt, sondern erst,
indem sie gehört
wird.
Meist zog ich mich irgendwo zwischen Bludenz und Innsbruck in mein
Abteil
zurück, nach Mitternacht also, wo mir vielleicht ein
Reisender, der auch nicht
schlafen konnte, die nächste Geschichte erzählte. Oft
lag ich aber einfach
bloß auf dem Rücken in einem halbwegs finsteren
Abteil, ließ mich durch die
Nacht befördern, der Zeit und dem Alltag enthoben,
während meine Gedanken
ziellos von da nach dort schweiften. Ich lag, reiste in eine Richtung
und
träumte mich gleichzeitig in eine andere, von einem
Wachtraum in den nächsten
gleitend, sanft gesteuert durch das Anfahren und Halten des Zuges,
durch
verwehte Lautsprecherdurchsagen, "Sankt Pölten! Sankt
Pölten!",
schlagende Türen und zusteigende Fahrgäste, die durch
den Gang gingen, nach
ihrem Abteil suchten und mit den Koffern und Taschen gegen die
dünne Wand
hinter meinem Bett stießen. Ich versank dankbar in
Wachträumen, die für
"ein nacktes Hirn" sorgten und mich "begreifend zum Himmel
steigen ließen", wie ich irgendwo gelesen hatte. Wo ich es
gelesen hatte,
war mir egal, schließlich spielte der Alltag mit seinen
Pflichten,
Verbindlichkeiten und Realitäten in diesen
verdämmerten Nachtstunden keine
Rolle.
Immer wieder setzte ich mich auf und blickte, schläfrig und
benommen von all
den imaginierten Bildern und Szenen, auf Bahnsteige hinaus, die
endeten, wo die
Dunkelheit begann, und die im kalten Licht der Neonröhren oft
genug wie Bühnen
wirkten. Und schon sah ich weitere Geschichten ihren Anfang nehmen:
Wohin war
die junge Frau unterwegs, die auf der Eisenbank direkt unter dem Schild
"Salzburg"
saß, eine Zigarette rauchte und auf die Taube einredete, die
vor ihr zwischen
ihren Taschen auf dem Perron herumstakste? (...)
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Noch ein Buchtipp:
Jon McGregor: "So oder so"
In seinem zweiten Roman erzählt Jon McGregor mit der ihm
eigenen Einfühlsamkeit
die Geschichte eines Mannes, der als Erwachsener erfährt,
nicht Kind seiner
Eltern zu sein. Der von Erinnerungsstücken besessene Archivar
macht sich auf
die Suche nach seiner Vergangenheit und verliert dabei fast seine
Gegenwart.
"Alle Archive der Welt wären nicht genug, solange er
nicht wüsste,
nach wem oder was und wo er suchen sollte."
David ist Museumskurator. Seit seiner Kindheit sammelt er
Gegenstände, um die
Vergangenheit festzuhalten. Doch von einem Tag auf den anderen bricht
sein
geregeltes Leben zusammen. Er muss erfahren, dass er nicht der Sohn
seiner
Eltern ist. An seiner verzweifelten, jahrelangen Suche nach der
wirklichen
Mutter zerbricht fast die Ehe mit Eleanor, seiner von
Depressionen
gebeutelten
Frau. Nichts lässt sich unbeschadet über die Zeit
retten.
Mit einem unverwechselbaren Tonfall erzählt der Roman Davids
Lebensgeschichte
vom Kriegsende bis in die Gegenwart. Ein bewegender Roman über
die Liebe und
die unendlichen Möglichkeiten, jeden Tag - so oder so - neu zu
beginnen. (Klett-Cotta)
Buch
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