Robert Spaemann: "Rousseau - Mensch oder Bürger"
Das Dilemma der Moderne
Das vorliegende kleine
Büchlein des katholischen Philosophen Robert Spaemann, der sich in
den letzten Jahren unter anderem immer wieder an einem letzten
Gottesbeweis versucht hat (vgl. "Der letzte Gottesbeweis", Pattloch
2007) und der in vielen Büchern sowie Artikeln den christlichen
Glauben und die Frage nach Gott dem von ihm so genannten "Aberglauben der Moderne" entgegenhält und von einem "unsterblichen
Gerücht"
spricht, ist eine Sammlung seiner Aufsätze über den
französischen Philosophen Rousseau sowie dessen Bedeutung für
die moderne Philosophie und ihre Fragen.
Die Aufsätze umfassen einen Zeitraum von mehr als vierzig Jahren,
beginnend mit Spaemanns Habilitationsrede im Jahr 1962, über
mehrere Aufsätze zu Rousseau und seiner Bedeutung aus den
1970er-Jahren bis hin zur aktuellen Einleitung zu diesem Band.
Immer wieder, in einzelnen Aufsätzen unterschiedlich akzentuiert,
geht Spaemann den fundamentalen Widersprüchen im Denken Rousseaus
und seiner Persönlichkeit nach. Wiederholt betont er, dass das
Denken Rousseaus nach wie vor aktuell ist, nennt ihn einen
Vorläufer des modernen Menschen, der auch das 21. Jahrhundert
bestimmen wird.
Ein Ausspruch Rousseaus soll das unterstreichen: "Es gibt kein
Heilmittel, es sei denn eine große Revolution, die fast ebenso zu
fürchten ist wie das Übel, das sie heilen soll, die
herbeizuwünschen nicht erlaubt, vorauszusehen aber unmöglich
ist. Lasst deshalb Wissenschaften und Künste gewähren, wenn
sie die Wildheit der Menschen mildern, die sie zuvor verdorben haben."
Eine geradezu prophetische Analyse gegenwärtiger Medienkultur, meint der Rezensent.
Immer wieder zieht sich durch die Schriften Rousseaus der Gegensatz
von Homme und
Citoyen. Obwohl er immer wieder die These variiert, dass der Mensch
zunächst eine "totale Entfremdung"
durchmachen müsse, um sich in einen wirklichen Bürger
(citoyen) zu wandeln, glaubt er selbst nicht mehr recht daran, dass das
unter modernen Bedingungen wirklich möglich sei, weil das
Christentum über die Antike gesiegt habe. Der moderne Bourgeois,
sagt er, ist hingerissen zwischen seinem Menschsein und seinem Wunsch,
ein Bürger zu sein. In seinem "Gesellschaftsvertrag" hat Rousseau
das ausführlich dargelegt.
Die Leistung der bisher nur verstreut zugänglichen Aufsätze
ist es, den Zivilisationskritiker und Gesellschaftstheoretiker Rousseau
als eine "exemplarische Existenz" zu begreifen, wie Spaemann das nennt,
die mit allen Widersprüchen und Hypochondrien nicht nur ein Fall
für psychologische Erklärungen sei, wie das in der
Vergangenheit immer wieder probiert wurde, sondern viel über die
damalige Zeit verrate. Der Gegensatz zwischen dem von Rousseau
postulierten "natürlichen Menschen"
und dem im politischen Kollektiv aufgehenden Bürger sei, so
Spaemann, exemplarisch für eine Zeit, in der die teleologisch
begriffene Natur von einer Natur mit unbekanntem Ende abgelöst
wurde.
Nach Rousseau ist die Kultur nicht in der Natur angelegt und auch nicht
aus ihr entwickelt. Wenn man heute sieht, wie versucht wird, eine
darwinistisch aufgefasste Kontinuität von Natur und Kultur
herzustellen, ist Rousseaus Auffassung des Verhältnisses beider
von großer Nüchternheit geprägt. Dieser
zivilisationspessimistische Denker ist es, der die Zeit überdauert
hat und nach wie vor eine Fülle Stoff für aktuelle Debatten
bietet.
(Winfried Stanzick; 12/2008)
Robert Spaemann: "Rousseau - Mensch oder
Bürger. Das Dilemma der Moderne"
Klett-Cotta, 2008. 156 Seiten.
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Robert Spaemann, geboren am 5.
Mai 1927 in Berlin, studierte Philosophie, Romanistik und Theologie in Münster,
München und Fribourg, promovierte 1952 in Münster, war Verlagslektor und
wissenschaftlicher Assistent und habilitierte sich 1962 für Philosophie und Pädagogik
in Münster. 1962 bis 1992 lehrte er Philosophie an der TH Stuttgart und den
Universitäten Heidelberg und München, wo er 1992 emeritiert wurde.
Er hatte zahlreiche Gastprofessuren inne und erhielt mehrere Ehrendoktorwürden.
Träger des "Karl-Jaspers-Preises" 2001 der Stadt und der Universität Heidelberg.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Der letzte Gottesbeweis"
Kann man Gott beweisen, wie man eine mathematische Aussage beweist?
Aristoteles, Platon und nach ihnen viele andere Philosophen
beantworteten diese Frage mit Ja und legten in sich schlüssige
Gottesbeweise vor. Die Philosophen der Neuzeit entzogen diesem Denken
die Grundlage, und mit
Kant und
Nietzsche ("Gott ist tot") klappte die Philosophiegeschichte die Bücher zum Thema "Gottesbeweis" endgültig zu.
Voreilig, wie sich nun zeigt. Denn es gibt einen neuen, den letzten
Gottesbeweis. Geführt hat ihn Robert Spaemann. Der deutsche
Philosoph von Weltrang gilt als einer der kreativsten Denker der
jüngeren Philosophiegeschichte.
Rolf Schönberger, Ordinarius für mittelalterliche Philosophie
an der Universität Regensburg, fragt in seinem Kommentar nach den
Möglichkeiten und Grenzen von Gottesbeweisen. (Pattloch)
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Leseprobe:
Einleitung:
Mensch oder Bürger - Rousseaus Weg von der Polis zur Natur
Der Gegenstand dieses kleinen
Buches ist beinahe unerschöpflich. Irgend etwas läßt einen immer wieder
fasziniert und abgestoßen, belehrt und konsterniert, begeistert, gerührt oder
angewidert, zu Rousseau zurückkehren. Was eigentlich?
Rousseau ist in
unvergleichlichem Sinne eine exemplarische Existenz. Er hat sich selbst so
verstanden und stilisiert. Auf den Widerspruch hingewiesen, daß er, der Feind
der Künste und Wissenschaften, ein Theaterstück schrieb und veröffentlichte,
antwortet er, hierüber ließe sich freilich eine Satire schreiben, aber "eine
Satire nicht auf mich, sondern auf mein Zeitalter". Darauf angesprochen, daß
er, der Verfasser eines berühmten Buches über Erziehung, seine fünf Kinder sämtlich
im Findelhaus abgab, klagt er die herrschende Klasse an, die ihm das Brot für
seine Kinder stiehlt. "Brot für seine Kinder" - das umfaßt für Rousseau:
die Kosten der Herstellung einer vollständigen pädagogischen Provinz; das
antiautoritäre Programm der Erziehung von fünf "Émiles" wäre
sehr aufwendig gewesen. Kann aber Rousseau nicht exemplarisch handeln, dann
lehnt er jede Verantwortung ab und stilisiert sich zum exemplarischen Opfer.
Rousseau hat die "große Verweigerung" vorgelebt wie kein anderer vor oder
nach ihm. Gleichzeitig aber ist er der überzeugendste Beweis für Nietzsches
und Schelers These vom Schöpferischwerden des Ressentiments. Die Bewegung der
Regression, des Ausweichens, der Flucht ist für ihn stets charakteristisch. Ins
katholische Konvertitenheim gerät er, weil er sich als 16jähriger Lehrling
nach Torschluß nicht in die Stadt Genf zurücktraut. Er hat ein Halsband
gestohlen und schiebt die Schuld auf das Dienstmädchen, in das er heimlich
verliebt ist und das mit Schande entlassen wird. Als dem Direktor der Sängerschule
von Annecy, den er auf einer Reise nach Lyon begleitet, ein Unfall zustößt, läßt
er ihn liegen, taucht in der Menschenmenge unter und macht sich davon.
Haben wir ein Recht, davon zu
sprechen? Wir wissen das alles ja nur von ihm selbst. Es sind sozusagen
Beichtgeheimnisse. Aber die Beichtväter für seine 'Bekenntnisse' sind wir
alle, seine Leser. Rousseau klagt sich nicht vor einem göttlichen Gericht an,
er bittet nicht um Vergebung oder dankt für die Einsicht, die ihn diese Bitte
tun läßt - wie Augustinus in seinen
'Confessiones'. Rousseau wählt
statt dessen die Rolle des Knechtes im Gleichnis Jesu, der das ihm anvertraute
Talent trotzig so abliefert, wie er es bekam, nicht mehr und nicht weniger -
"in der ganzen Wahrheit der Natur".
"Die Posaune des Jüngsten
Gerichtes mag erschallen, wann immer sie will. Ich werde vor den Höchsten
Richter treten, dieses Buch in der Hand (!), und laut werde ich sprechen: Hier
ist, was ich geschaffen, was ich gedacht, was ich gewesen. Mit gleichem Freimut
habe ich das Gute und das Böse gesagt ... Ich habe mich gezeigt, wie ich
gewesen bin: verächtlich und niedrig, wo ich es war, und ebenso edelmütig und
groß, wo ich es war ..."
Und dann spricht er sich selbst
los, indem er das Wort Jesu "Wer von Euch ohne Sünde ist, werfe den ersten
Stein auf sie" in eine egalitäre Herausforderung umformuliert: "Wer wagt es
hervorzutreten und zu sprechen: 'Ich war besser als dieser Mann'?" Auch die
'Bekenntnisse' sind eine exemplarische Fluchtbewegung, eine Flucht nach
vorn.
Bei Rousseau wird das
Ressentiment schöpferisch. Zehn Jahre hat er versucht, den Weltmann zu spielen.
Er hat nach Art von Voltaires 'Mondain' in mittelmäßigen Versen
Reichtum und Luxus als Wohltäter der Menschheit gepriesen, die
Seidenspinnereien von Lyon verherrlicht und den Versuchungen der Don
Quichotterie widerstanden:
"Es wäre nicht gut in der
Gesellschaft, wenn zwischen den Rängen größere Gleichheit herrschte. Soll ich
einer eitlen Marotte folgen und den großen Deklamator machen, den neuen Don
Quichote?"
Man merkt, daß er es gern möchte.
Zu dick aufgetragen ist diese Apologie, um zu überzeugen. Und zu dick
aufgetragen ist auch seine Selbstempfehlung als Erzieher im Hause des Herrn von
Mably, des Bruders des großen Ökonomen: Er will die Kinder "zu geschliffenen
Kavalieren und Ehrenmännern erziehen", ihnen jene weltläufige Tugend
vermitteln, "die in der Ersetzung der großen Leidenschaften durch die petits
goûts besteht. Große Leidenschaften sind immer Sache einsamer und
melancholischer Herzen." Die ungeheure Erregung, der Nervenzusammenbruch, die
Tränen, die ihn zehn Jahre später auf dem Wege nach Vincennes überkommen, als
er die Preisfrage der Akademie liest, zeigen, was vorausgegangen sein muß. Auf
einen Schlag durchschaut nun Rousseau die Rolle des angepaßten
progressistischen Intellektuellen, mit der er sich abgequält hat und die er
doch nie mit der Eleganz seiner Pariser Freunde zu spielen wußte. Plötzlich
bietet sich die Möglichkeit, in der Absage an die Gesellschaft zu sich selbst
zurückzukehren, zu den Plutarch-Idealen seiner Jugend, zu den Bedürfnissen
seines Herzens; die Möglichkeit, mit sich identisch zu werden - und dafür
von einer gelehrten Einrichtung der Gesellschaft einen Preis zu erhalten. "Hätte
ich nur ein Viertel von dem schreiben können", so schreibt er in dem berühmten
Brief an Malesherbes, was ich damals unter jenem Baum
gefühlt und gesehen habe, mit welcher Klarheit hätte ich alle Widersprüche
des sozialen Systems sichtbar gemacht, mit welcher Kraft alle Mißbräuche
unserer Institutionen bloßgestellt, mit welcher Einfachheit hätte ich
erwiesen, daß der Mensch von Natur gut ist und daß die Menschen nur durch ihre
sozialen Einrichtungen böse werden."
Nun folgt der Polis-Traum, die
neue Rolle: der Spartiate als Citoyen de Genève. Aber die Schrift, in der er
sich mit diesem Titel präsentiert und die er seiner Vaterstadt Genf widmet, der
zweite 'Discours', bereitet in Wirklichkeit doch schon die Verabschiedung
dieses Traumes vor. Endgültig bricht auch die neue Rolle zusammen, als die
Genfer Pastoren den vom Erzbischof von Paris gebannten Flüchtling ihrerseits in
Acht und Bann tun. Dahinter steckt, wie wir heute wissen, Voltaire, der ihn bei
den Pastoren als "Feind des Christentums" denunziert hatte. Der Grund der
Perfidie ist klar: Er liegt in Rousseaus Bekenntnis zum Christentum, zur
Unvergleichlichkeit Jesu mit
Sokrates. Voltaire und die Freunde von der Enzyklopädie
haben Rousseau dies nie verziehen. Jedes Mittel war ihnen recht, um den
plebejischen Verräter an der großen Sache der Aufklärung zu vernichten. Hatte
Rousseau es nicht sogar gewagt, die Freiheit des katholischen Polen gegen den
aufgeklärten Imperialismus der russischen Zarin zu verteidigen?
Und noch einmal reagiert
Rousseau mit einer exemplarischen Fluchtbewegung: von der Polis zur Natur.
Theoretisch hatte er das Terrain hierfür seit langem bereitet. Nun macht er
seine Devise wahr: vitam impendere vero. Das, was er als Programm für die
Gesellschaft für unmöglich hielt - die Rückkehr zur Natur -, das war
nichtsdestoweniger sein persönlicher Ausweg. Er selbst wird nun der
exemplarische "homme naturel", der arme Jean-Jacques. Verfolgt und zusätzlich
von Verfolgungswahn gequält, herausgefallen aus allen sozialen Bezügen, um
alle Befriedigung aus dem sekundären System der Gesellschaft und ihrer Wertmaßstäbe
gebracht, als Bürger nicht beansprucht und daher ohne Bürgertugend, ohne
Verpflichtungen - nicht einmal die Verpflichtung zur Konsistenz und Kohärenz
des Denkens akzeptiert er mehr -, findet er zurück zu jenem seit
Jahrtausenden verlorenen unschuldigen Egozentrismus des "natürlichen
Menschen"
und entdeckt so eine unerhörte Quelle des Glücks: ein nicht mehr zu
transzendierendes "sentiment de l'existence", das ihm eine Art göttlicher
Autarkie gewährt - oder gewähren würde, wenn er sich nicht auch jetzt noch
genötigt fände, die 'Träumereien eines einsamen Spaziergängers' für ein
gebildetes Publikum darzustellen. Es war ihm nicht vergönnt, wie Rimbaud
wirklich die Taue zu kappen.
Diesem Umstand verdanken wir
eines der ergreifendsten Bücher der Neuzeit, und wir verdanken ihm
jenen auf
eine seltsame und fatale Weise unerschöpflichen Anblick einer
exemplarischen
Existenz. Exemplarische Existenzen sind ein Signum der Moderne. Wo
jeder
platonisch-teleologische Wesensbegriff des Menschen preisgegeben ist
und wo auch
die Gestalt des Menschensohnes nicht mehr als unhinterfragbare Antwort
auf die
Frage: "Was ist der Mensch?" akzeptiert ist, da wird Platz für
neue Versionen
des Ecce homo, so die Version Rousseaus, so die Version Nietzsches. Die
Unendlichkeit einer Subjektivität tut sich auf, die durch keine
natürliche
Teleologie begrenzt wird, durch kein Tao, keinen vorgezeichneten Weg,
auf den
hin sich der Mensch versteht und aus dem er sein Maß gewinnt. Der
Weg, der sich
hier auftut, ist unendlich. Denn "niemand geht weiter, als wer
vergessen hat,
wohin der Weg führt" (Goethe). Ein solcher Weg kann
schließlich nur ein Weg
zurück sein, zurück hinter das, was geschichtlich bisher
Menschsein hieß. Der
"homme naturel" Rousseaus, das ist weder ein "zoon politikon" noch ein
"zoon logon echon", weder ein politisches noch ein sprechendes Wesen,
er ist
nur ein narzißtisches Bedürfniswesen. In einer Welt der
Sprache und der
Gesellschaft ist der Mensch daher immer entfremdet, und wohin es ihn
drängt,
ist im Grunde: zurück in den Mutterschoß. Rousseau hat seine
Mutter nie
gekannt und wohl deshalb immer gesucht. Seine erste Geliebte nennt er
'maman', und von der Polis, nach deren Ersatzgeborgenheit es ihn
verlangt, schreibt
er in einem Artikel in der Enzyklopädie, sie sei "eine große
Mutter".
"Oh ihr, die ihr aus Himmel
und Hölle vertrieben! Ihr Mörder, denen viel Leides geschah! Warum seid ihr
nicht im Schoß eurer Mütter geblieben?
Wo es stille war und man schlief und war da ...,"
so beginnt ein ganz und gar
rousseauistisches Gedicht Brechts, das endet mit dem Traum "von einer kleinen
Wiese mit blauem Himmel drüber und sonst nichts" - "sentiment de
l'existence"! Bewußt in die Fußstapfen des armen J.-J. aber tritt Brechtdann
in seinem Gedicht 'Vom armen B. B.', der sich selbst beschreibt als
einen, "der von seiner Mutter weg in die großen Städte
vertrieben ist in
dunkler Zeit", und der von sich sagt: "In mir habt Ihr einen, auf den
könnt
Ihr nicht bauen." Der exemplarische Charakter der Existenz Rousseaus
rührt
daher, daß er die Paradoxien des neuzeitlichen,
nichtteleologischen
Naturbegriffs erstmals in seinem Werk und in sich selbst zur
Darstellung
gebracht hat. Eine nichtteleologische Natur, das ist ein Anfang, in dem
kein
Ende vorgezeichnet ist. Einen solchen Anfang zum Maßstab machen
heißt entweder
permanente Revolution, totale Anarchie entfesseln, denn jede
Institution ist
Repression einer solchen Natur. Oder aber es heißt, die
anarchische Natur ihren
institutionellen Erhaltungsbedingungen konsequent und radikal
unterwerfen. Beide
Möglichkeiten, die "linke" und die "rechte", sind von Rousseau
durchgedacht
und durchgefühlt worden. Von einer "Mischung" wollte er nichts
wissen, und
eine "Versöhnung" deutet er nur einmal - im Vorwort zum
'Émile' - als utopisches Ideal an. Und so ist Rousseau zum Vater
aller modernen
Modernismen und Antimodernismen geworden: der Revolution und der
Restauration,
des liberalen Rechtsstaates und der populistischen Diktatur, der
antiautoritären
Pädagogik und des Totalitarismus, des romantischen Christentums
und der
strukturalistischen Ethnologie. Aller Streit um den "wahren Rousseau"
ist
vergeblich. Für jede rousseauistische Verirrung gibt es auch eine
rousseauistische Kritik. Die moderne Subjektivität, die in ihm
ihre
unvergleichliche Darstellung findet, findet durch ihn auch ihre
unnachsichtige
Entlarvung. Die vier folgenden Kapitel - im Laufe der letzten
Jahrzehnte an
entlegenen Stellen erschienen - versuchen der Paradoxie Rousseaus auf
den
Grund zu kommen und die Idee zu rekonstruieren, deren disjecta membra
sich in
Rousseaus Werk spiegeln. (...)