Joseph Roth: "Das falsche Gewicht"
Gelesen
von Joseph Lorenz
(Hörbuchrezension)
Ein
Schubert der Prosa
"Roth konnte Stimmungen und Erfahrungen, die
gewöhnlich nur in Musiken
auszudrücken sind, in Sprache übersetzen. Etwas
Ähnliches wie ein Schubert
der Prosa ist er auf diese Art geworden", schrieb
André Heller in der
"Frankfurter Allgemeinen Zeitung". So, wie der Komponist wohl
einzigartig seine Gefühle in Musik einfließen
ließ, drückte sie der 1894 in
Brody, einer mittelgroßen Stadt im damals
österreichischen
Galizien, geborene
Roth in seinen Texten aus.
Wer war dieser Joseph Roth, von dem solch eindrucksvolle Werke wie
"Hiob", "Hotel Savoy", "Radetzkymarsch"
oder "Die Legende vom heiligen Trinker" stammen?
Ein Poet, ein Journalist und wie alle Juden ein Opfer des Dritten
Reiches, außerdem
ein stets von neuem enttäuschter Moralist, ein Augenzeuge
seiner Zeit, rastlos,
empfindsam und aggressiv zugleich, im Grunde seines Herzens ein
Träumer und
Menschenfreund, verletzlich wie ein Kind, lebensuntüchtig und
anfällig für
Depressionen, "ein Spezialist für verlorene Menschen",
meinte
einmal sein Freund Hermann Kesten.
Widersprüchlich wie sein Wesen sind auch die Aussagen seiner
Freunde über ihn
gewesen. "Roth war schwermütig", sagen die
einen. "Er
war leichtlebig", behaupten die anderen. "Er liebte
das Militär",
heißt es weiter und: "Er hasste das
Militär", "Er war
Leutnant in der k. u. k.-Armee", "er war ein
Sozialist",
"er war ein Monarchist", "er war ein
Glaubensjude",
"er war ein eifriger Katholik". Von sich selbst
sagte Roth, er
sei "böse, besoffen, aber gescheit."
"Sie wogen in der Hand und sie maßen mit dem Aug."
Seinen ergreifenden Kurzroman "Das falsche Gewicht" schrieb er 1937 im
Pariser Exil. Er spielt in der Gegend von Brody, dem Ort
seiner Herkunft.
Sein Protagonist heißt Anselm Eibenschütz, der Ort
der Handlung Zlotogrod.
Hier, in dieser vom Zentrum am weitesten entfernten Region des
ehemaligen k. u.
K.-Reichs, an der russischen Grenze, vollendet sich das Leben des
Eichmeisters
Eibenschütz. Seiner Frau Regina zuliebe hat er seinen Dienst
bei der Armee
quittiert. Aus dieser geregelten, von Befehlen und Ordern bemessenen
Welt gerät
er in eine Gesellschaft, in der Betrug, Gaunerei und Lüge
Notwendigkeit und
Folge einer zerbröckelnden Zeit darstellen.
Der Not der kleinen Leute - Händler, arme Schlucker,
Tagediebe, Deserteure und
Halunken, die allesamt nicht wissen, wie und womit sie die kommenden
Tage überleben
- steht er gesetzesgemäß gnadenlos und hart
gegenüber. Doch das Grenzgebiet
ist eine düstere, eine "giftige Gegend",
in der die Gesetze
des Staates keine Gültigkeit mehr zu haben scheinen: "Denn
die Leute in
dieser Gegend betrachteten alle jene, welche die Forderungen an Recht,
Gesetz,
Gerechtigkeit und Staat unerbittlich vertraten, als geborene Feinde.
Sie wogen
in der Hand und sie maßen mit dem Aug. Es war keine
günstige Gegend für einen
staatlichen Eichmeister."
Als er erfährt, dass seine Frau ihn betrügt und ein
Kind von seinem Schreiber
erwartet, ist auch die Ehe des Eichmeisters
Eibenschütz zerstört. In
Leibusch Jadlowkers Grenzschenke sieht Eibenschütz die
schöne Zigeunerin
Euphemia Nikitsch, deren Zauber ihn zur völligen Unterwerfung
und willenlosen
Hingabe an sie führt: "Als sie auf ihn zutrat, war
es ihm, als erführe
er zum ersten Mal, was ein Weib sei. Ihre tiefblauen Augen erinnerten
ihn, der
niemals das Meer gesehen hatte, an das Meer. (...) und ihr
dunkelblaues,
schwarzes Haar ließ ihn an südliche Nächte
denken, die er niemals gesehen,
von denen er vielleicht einmal gelesen oder gehört hatte."
Er verfällt
ihr und dem Alkohol.
Das Aufeinanderprallen von Recht, Gesetz und Redlichkeit auf der einen
Seite und
dem von Not und Armut, aber auch von moralischer Indifferenz und
Gewinnsucht
geprägten Wesen der Zlotogroder Menschen auf der anderen Seite
lässt den
Eichmeister Eibenschütz das "rechte" Maß, die
"richtige
Gewichtung" nicht finden. "Ach, er war in einer gar schlimmen
Lage,
der Eichmeister Eibenschütz. Weh, sehr weh tat ihm sein
eigenes Schicksal. Das
Gesetz einzuhalten, war er entschlossen. Redlich war er, redlich, und
sein Herz
war gütig und streng zugleich. Was sollte er machen mit der
Güte und Strenge
zugleich? Zu gleicher Zeit läutete in seinen Ohren das goldene
Läuten der
kleinen Ohrringe der Frau Euphemia." Es wird ihm
unmöglich, sein
Denken und Handeln nach Maßen einzurichten, und letztendlich
wird er selbst zu
einer zwielichtigen Gestalt, wie die Menschen, die ihn umgeben.
Sein Untergang ist nicht aufzuhalten und klingt wie bei einer
Schubertschen
Sonate wehmütig-elegisch aus.
Warmer, ruhig fließender Erzählton
"Joseph Roth ist als Schriftsteller ein ausgesprochen
visueller Typ. Er
sieht vor allen anderen. Sein Auge wird schöpferisch. Ob es
ein Mensch, ein
Bergwerk, eine Zivilisation ist, zuerst gewahrt er das
äußere Bild, die Form,
das offen Sichtliche. Er sieht so lange und von soviel Seiten auf sein
Objekt,
bis er hineinsieht und es durchschaut", schätzt
Hermann Kesten sehr
treffend den Autor ein. Einfach und klar ist Roths Stil, sehr
anschaulich und
detailliert sind seine Menschen- und Landschaftsbeschreibungen. Der
Schriftsteller schafft es, einer leblosen Sache solchen Ausdruck zu
verleihen,
dass der Leser/Hörer Dinge mit diesem Gegenstand assoziiert:
beobachtendes
Denken könnte man es nennen. Auch "Literaturpapst"
Marcel
Reich-Ranicki ist des Lobes voll: "Joseph Roth war ein
barmherziger und
unerbittlicher Erzähler zugleich: Er litt mit seinen
Geschöpfen, er
verurteilte sie nie. Aber er tauchte sie in das klare Licht, in dem
alle Details
deutlich werden."
Die schwach dialektgefärbte, aber ungeheuer eindringliche
Stimme des österreichischen
Schauspielers Joseph Lorenz passt wunderbar zu Roths bildhafter
Sprache. Sein
warmer, ruhig fließender Erzählton, der geradezu
prädestiniert für diesen
tiefgründigen Roman ist, zieht den Hörer in seinen
Bann und versetzt ihn in
die Zeit der k. u. k.-Monarchie. Auch er trägt entscheidend
dazu bei, dass man
bei Roth Farben, Stimmen und Stimmungen psychisch, ja beinahe physisch
erfahren
kann.
"Das falsche Gewicht" wurde 1971 unter der Regie von Bernhard Wicki u.
a. mit Helmut Qualtinger und Agnes Fink verfilmt und erhielt 1972 das
"Filmband in Gold" für Regie, Kameraführung,
Nebenrolle und
darstellerische Leistung.
Fazit:
Ein abgelegenes Grenzdorf Galiziens als Schauplatz einer
Tragödie, die den
Verfall der Donaumonarchie in erschütternder Deutlichkeit
anhand des tragischen
Schicksals des Eichmeisters Eibenschütz zeigt, hervorragend
intoniert von
Joseph Lorenz.
"Jede Seite, jede Zeile ist wie die Strophe eines Gedichts
gehämmert
mit dem genauesten Bewusstsein für Rhythmus und Melodik."
(Stefan
Zweig)
(Heike Geilen; 05/2008)
Joseph
Roth: "Das falsche Gewicht"
Gelesen von Joseph Lorenz.
Diogenes, 2008. Ungekürzte Lesung. 4 CDs; Spieldauer ca. 259
Minuten.
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