Ugo Riccarelli: "Der vollkommene Schmerz"
Il dolore perfetto - Zeitreise
in die Schicksale von Menschen
Ugo Riccarellis Fabulierkunst wird mit Großem verglichen.
Gabriel
García Márquez und sein Epos "100 Jahre Einsamkeit" zieht man für einen
Vergleich heran. Und wahrlich geht es in "Der vollkommene Schmerz" wie
bei Marquez um eine große Geschichte im Kleinen. Doch nicht
das kolumbianische
Südamerika ist Gegenstand von Riccarellis Betrachtungen, sondern seine Heimat
Italien. Er spannt einen großen Bogen: von der
Einigung bis zum
Wirtschaftswunder.
Anders als der Titel und die Umschlagillustration vermuten lassen, ist dieser
Roman - wenn auch im Ton melancholisch und traurig gefärbt - keineswegs voller
Trostlosigkeit und Depression. Im Gegenteil: es ist eine geradezu "barocke
Hymne" an das Leben.
Riccarelli hat die mündlichen Überlieferungen seiner Großmutter in seine
grandios erzählte Familiensaga eingeflochten. Am Beispiel der Geschichte zweier
toskanischer Familien präsentiert der Autor des "Lebens ganze Fülle",
angefangen von (überaus realistisch geschilderten) Geburten, über die erste
Liebe, bis hin zum "vollkommenen Schmerz" des Sterbens und des
Abschieds für immer. Es wird rebelliert und unterworfen, es gibt Glück,
aber gleichzeitig auch das Scheitern.
In zweiter Ehe vermählt sich die Witwe Bartoli mit einem aus dem Süden in die
Toskana gekommenen Lehrer und Anarchisten, genannt "il Maestro". Eines
der vier Kinder der beiden heiratet eine Tochter aus der weniger
romantisch-anarchischen als geschäftstüchtig-gerissenen Familie Bertorelli.
Der Fortgang der Familiengeschichte - und das ist das Raffinierte an diesem
Roman - wird immer wieder von verschiedenen Mitgliedern des großen
"Clans" aus deren Blickwinkel geschildert.
Riccarelli verwebt gleich 30 Lebensläufe auf kunstvollste Weise miteinander.
Doch man verliert trotzdem nicht den Überblick. Dies liegt vor allem an der
bestechenden und klaren Erzählweise, die mit wenigen Pinselstrichen
einprägsame
und charakteristische Porträts sowohl von Menschen als auch Landschaften und
Mentalitäten zeichnet.
Um die Verwirrung für den Leser in Grenzen zu halten, ist am Schluss des Buches
ein ausführlicher Stammbaum der Akteure zu finden.
Riccarelli schweift weit aus, erinnert mit seinem rhythmischen Erzählen an die
Zeit, als Geschichten noch mündlich überliefert wurden. "Die Menschen
erleben im Grunde immer wieder dasselbe: Liebe, Hass, Betrug, Versöhnung,
Hoffnung. Ich habe bewusst Symmetrien eingearbeitet, das Buch entwickelt sich
spiralförmig, und alles wiederholt sich, wenn auch mit der Hoffnung, dass sich
die Lage vielleicht bessern könnte. Aber der Kern der Conditio humana ist das
Leiden. Wir sind unvollkommen", so der Autor. Und eben diese
Unvollkommenheit ist sein Schmerzzentrum. Denn aus dem Schmerz erwächst das
Streben der Menschen.
30 Lebensläufe auf kunstvollste Weise verwebt
Doch letztendlich ist "Der vollkommene Schmerz" vor allem eins: eine
Hommage an die Kraft der Liebe und an die Kraft des Erzählens selbst. "An
Leitern geklammert, unter Eisenträgern liegend und über Zahnräder gebeugt,
schraubte Ideale seinen Wunsch zusammen, der Bewegung eine unendliche Dauer zu
verschaffen, etwas zu schaffen, was nie stillstand, was ewig und beständig für
die Liebe war, die er für das Leben empfand, etwas, was die gleiche Kraft und
die gleiche Hoffnung in sich barg, die vor ihm schon sein Großvater und sein
Vater in der Utopie gesucht hatten."
"Mich interessiert die Geschichte von unten. Nicht nur im Sport, auch im Leben
und in der Literatur finde ich Verlierer spannender als Sieger. Durch meine
eigene Erfahrung sehe ich den Schmerz, das Leiden als etwas, was fest zum Leben
gehört - egal wie sich die Zeiten ändern", erzählte der Autor in einem
Interview. Über eigene, wahrhaft schmerzvolle Erfahrungen weiß Riccarelli zu
berichten. Er unterzog sich vor etlichen Jahren einer Herz-Lungentransplantation. Mit
dem wiedergewonnenen Leben gelang ihm auch der ganz große Wurf, ein
Erfolgstitel, für den er den "Premio Strega 2003", neben dem "Campiello"
der wichtigste italienische Literaturpreis, bekam.
Man spürt, dass Riccarelli wieder frei und kraftvoll atmen kann. Seiner Erzählung
geht bis zum Ende die Puste nicht aus. Kunstvoll-konsequent verwebt er seine Erzählstränge.
Alles greift ineinander, Realistisches und Symbolisches.
Die auf der einen Seite archaische, auf der anderen lyrische, wundervolle
Sprache wurde von Karin Krieger mit Einfühlungsvermögen in Deutsche übertragen.
Ihr ist es zu verdanken, dass die Schwingungen altertümlicher Redeweisen auch
in der Übersetzung noch spürbar sind.
Fazit:
So viel geboren und gestorben, geliebt und gelitten, empfunden und erduldet wie
in diesem Roman wurde in der Literatur schon lange nicht mehr. Dieses Buch
reiht sich ein in die "großen Familienromane". Wunderbare Lektüre für
lange Winter- (Frühlings-, Sommer-, Herbst-) Abende.
(Heike Geilen; 11/2008)
Ugo Riccarelli: "Der vollkommene Schmerz"
(Originaltitel "Il dolore perfetto")
Übersetzt aus dem Italienischen von Karin Krieger.
Gebundene Ausgabe:
Zsolnay, 2006. 416 Seiten.
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Taschenbuch:
dtv, 2008. 416 Seiten.
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Hörbuch:
Sprecher: Gert Heidenreich.
Steinbach Sprechende Bücher, 2007.
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Ugo Riccarelli wurde am 3.
Dezember 1954 in Cirié bei Turin geboren. Er lebte in Rom und starb ebendort am 21. Juli 2013 nach langer Krankheit im Alter von 58 Jahren.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Der Zauberer"
Abenteurer, Aufschneider, Geschichtenerzähler, Taschenspieler - das alles ist der Protagonist dieses Romans von Ugo Riccarelli. Die Geschichte nimmt ihren Ausgang in einem gottverlassenen Dorf am Fuß der Alpen, führt in die Wüsten in Afrika, wo der Vater als junger Soldat dem Zauber einer Berberfrau verfällt, und endet wieder in Italien. Die Existenz eines jeden ist aber untrennbar mit dem Leben der anderen verbunden, derer, die vorher da waren, und jener, die danach kommen werden, und so erzählt der Autor nicht nur die Geschichte dieses charmanten Schwindlers, sondern auch vom Urgroßvater, der zur See fuhr, von der Großmutter, die blutjung heiratete und blutjung Witwe wurde, von einem Onkel, der ein Windbeutel war, und vom anderen, der sich erfolglos an Erfindungen versuchte.
Riccarelli entwirft in "Der Zauberer" das Porträt einer Epoche und eines schillernden Mannes, der sein Vater war. (dtv)
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"Die Residenz des Doktor Rattazzi"
In die Nervenheilanstalt einer Kleinstadt der Toskana kommt ein neuer Arzt,
Doktor Rattazzi, der mit alternativen Methoden für eine menschlichere Pflege als
jene des herzlosen Personals sorgt. Als während des Zweiten Weltkriegs die
Bombardierungen immer bedrohlicher werden, lässt Rattazzi seine Irren in einem
einsamen Landhaus auf dem Apennin unterbringen. Doch auch in dieser idyllischen
Landschaft sind die Insassen vor der Brutalität der Nazis nicht sicher. Ugo
Riccarelli erzählt aus der Perspektive des jungen Assistenten Beniamino die
Geschichte dieser Außenseiter und ihrer "anderen" Vernunft in Italien zur Zeit
des Faschismus. (Zsolnay)
zur Rezension ...
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"Fausto Coppis Engel"
Erzählungen.
Glanz und Elend, Triumph und Niederlage: Ugo Riccarelli erzählt heroische und ergreifende Geschichten von den großen Legenden des Sports. Seine Erzählungen verschränken reale Mythen mit fiktiven Elementen, und die Geschichten von immer noch berühmten und längst vergessenen Helden sind ein großartiges Mittel, um von menschlicher Größe und menschlicher Schwäche zu berichten. Der Sport als Metapher für das Karussell des Lebens - Tragödie und Komödie, Sieg und Niederlage, Träume und Enttäuschungen lassen sich exemplarisch an diesen ergreifenden Geschichten ablesen. (dtv)
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