Thomas Anz (Hrsg.): "Die Literatur, eine Heimat"
Reden über und von Marcel Reich-Ranicki
Ein Leben für Literatur
Im Oktober 2008 sorgte der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki bei der
Verleihung des "Deutschen Fernsehpreises" für einen Eklat. Auf
offener Bühne lehnte er die Annahme des Preises, den er für sein Lebenswerk
erhalten sollte, ab und teilte dem verdutzten Publikum mit:
"Ich habe nicht gewusst, was mich hier erwartet. Ich finde es schlimm,
dass ich das hier viele Stunden ertragen musste. Diesen Blödsinn, den wir hier
zu sehen bekommen haben."
Streitbar war Deutschlands "Literaturpapst" schon immer. Seine zum
Teil gefürchteten Urteile wurden trotzdem allerorts geschätzt. Wenn er mit
seinem rollenden "R" über ein Buch sprach, wenn er meisterlich und
sorgfältig ausformulierte Wiederholungen, Variationen und Erfindungen von Neuem
präsentierte, entwickelte er unweigerlich eine Faszination, die jeden - nicht
nur den Literaturbegeisterten - in ihren Bann zog. Mit dem "Literarischen
Quartett" schrieb er ein Stück Fernsehgeschichte und übte allergrößte
Wirkung aus, machte
Literatur öffentlich und vor allem öffentlich wichtig.
"'Die Literatur, eine Heimat' - der Titel dieses Bandes klingt
vielleicht ein wenig pathetisch, allzu feierlich und ernst", schreibt
der Herausgeber Thomas Anz in seinem Vorwort. "Dieses Pathos schließt
allerdings Witz und Vergnügen keineswegs aus. Reich-Ranickis Bekenntnisse zur
Literatur sind, wie auch in diesem Band nachzulesen ist, Liebesbekundungen
durchaus erotischer Art, Bekenntnisse zu ihren Qualitäten eines Spiels, das vor
allem eine Sinn hat: Vergnügen zu bereiten."
Auch die in diesem Buch versammelten Festreden offenbaren spielerische und vergnügliche
Qualitäten. Da kommen Siegfried Unseld oder
Jürgen Habermas anlässlich der
Verleihung des "Hessischen Kulturpreises" 1999 zu Wort, Jürgen Rüttgers
bei der Überreichung des "Staatspreises des Landes Nordrhein-Westfalen"
(2005), Thomas Gottschalk zum 85. Geburtstag des Jubilars im Jahr 2005 oder aber
die jüngste Ehrung (2008) mit dem "Henri-Nannen-Preis", bei dem die
deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel die Laudatio hielt, um nur einige
Beispiele zu nennen.
Natürlich darf gleichfalls die ganz unnachahmliche Stimme des Geehrten nicht
fehlen, der für die Auszeichnungen in seiner ganz eigenen Art und Weise dankt.
Thomas Gottschalk hat dies vielleicht am treffendsten ausgedrückt: "Über
fast allem, was ich von Ihnen gelesen habe, liegt trotz der Wucht Ihrer Kritik,
trotz der Schwere Ihrer eigenen Schicksalsschilderung immer ein leises Lächeln.
Und wer Ihnen persönlich begegnet, kann diesen Schelm auch dann nicht übersehen,
wenn der Kritiker in Ihnen eifert."
Entstanden ist in diesem Buch ein abwechslungsreiches Bild eines Mannes, der die
Literatur im deutschsprachigen Raum entscheidend mitgeprägte. Die Themen der
Reden decken ein weites Feld ab und zeichnen ein interessantes, gelungenes und
facettenreiches Bild von Reich-Ranicki - auch und vor allem als Mensch.
Fazit:
"Die Literatur, eine Heimat" enthält Würdigungen und Lobreden auf
Marcel Reich-Ranicki sowie dessen Erwiderungen. Auch wenn man nicht immer seiner
Meinung ist, regen seine Worte doch zum Nachdenken, Artikulieren und
Hinterfragen der eigenen an.
"Das Lebenswerk von Marcel Reich-Ranicki ist nicht allein die Summe
aller wortgewaltigen Lobreden oder Verrisse. Marcel Reich-Ranicki lebt Kultur.
Er will andere an dieser Leidenschaft teilhaben lassen." (Angela Merkel
anlässlich der Verleihung des "Henri-Nannen-Preises" 2008)
(Heike Geilen; 12/2008)
Thomas Anz (Hrsg.): "Die
Literatur, eine Heimat.
Reden über und von Marcel Reich-Ranicki"
DVA, 2008. 240 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:
Gerhard Gnauck: "Wolke und Weide. Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre"
Marcel Reich-Ranicki in Polen - dramatische Ereignisse und wichtige Stationen
von 1938 bis 1958 leben auf: Aus Zeitzeugenberichten, bisher unbekannten Fotos
und verschollenen Dokumenten erhalten diese "weißen" Jahre Konturen:
das Wechselspiel von Schatten und Licht einer Jahrhundertgestalt. Jahre der
Todesangst: Ausweisung nach Polen 1938, Warschauer Ghetto 1940, Flucht auf dem
Weg zur Deportation 1943, Unterschlupf bis September 1944 ...
In höchster Not entkommen Marceli Reich und seine Frau Teofila; sie tauchen
unter und können ein neues Leben beginnen. Er arbeitet ab Oktober 1944 für den
polnischen Geheimdienst in Kattowitz, Berlin, London, Warschau. 1958 verlässt
er seine erste Heimat Polen in Richtung Bundesrepublik, wo ihm eine
unvergleichliche Karriere als
Literaturkritiker gelingt. Seither nennt er sich
Marcel Reich-Ranicki.
Mit "Wolke und Weide" ist dem Warschauer Journalisten Gerhard Gnauck
ein einfühlsames Porträt geglückt: Facettenreich skizziert er eine
Jahrhundertgestalt und erzählt von Polen in der Mitte des vergangenen
Jahrhunderts, einem Land, in dem sich die europäische Geschichte wie kaum an
einem anderen Ort kristallisiert.
Auf Anregung Gerhard Gnaucks hin erhielt die Familie Gawin, bei denen
Marcel Reich-Ranicki und seine Frau untertauchen konnten, die Auszeichnung
"Gerechte unter den Völkern" und eine Rente der Bundesrepublik. (Klett-Cotta)
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