Sven Regener: "Der kleine Bruder"
"Kreuzberger
Nächte sind lang ...
... erst fang'n se janz langsam an, aber dann, aber dann!"
Dieser Schlager der "Gebrüder Plattschuss" aus dem Jahr 1978
könnte
stellvertretend über Sven Regeners "Schlussstein" seiner
Trilogie stehen. Mit "Der kleine Bruder" schließt er die
Lücke zwischen seinem ersten Band "Neue Vahr Süd" und
dem dritten Teil
"Herr Lehmann".
Wie in dem Titel der - aus einer spontanen Session Berliner
Kabarettisten und Blödelbarden
entstandenen - Formation "Plattschuss", geht es auch bei Regener in
Eckkneipen mehr als rund. Die Protagonisten sehen öfters wegen
übermäßigen
Alkoholgenusses doppelt oder holen sich blaue Augen bzw. Platzwunden
darüber. Und genau wie im Liedtext, fühlen sich
einige von Sven
Regeners Akteuren nach
einer solchen Nacht:
"Früh morgens wach ich auf 16 Uhr 10,
die ganze Welt scheint sich um mich zu dreh'n.
Nur im Magen fühle ich mich nicht so recht,
eins von den dreißig Bierchen gestern war wohl schlecht."
(Auszug Liedtext "Kreuzberger Nächte", "Gebrüder
Plattschuss")
"Hauptsache, du pupst ordentlich rum!"
November 1980: Aus den ersten 46 Stunden des Neuanfangs von Frank
Lehmann, der Elternhaus, Kaserne und sein Bremer WG-Zimmer
zurücklässt, um in Westberlin bei seinem vermeintlich
erfolgreichen Künstler-Bruder Manfred
- Freddie genannt - ein neues Leben anzufangen, berichtet der
erfolgreiche Autor sowie
Sänger und Texter der Folkrock Band "Element of Crime".
Doch "neues Leben hin, neues Leben her, dachte er, es sollte
nicht mit der Fahrt durch einen langen dunklen Tunnel beginnen",
sinniert Frank während seiner Anreise auf der Autobahn durch
den Osten, neben sich den
nervigen, dauerquatschenden und Sprüche klopfenden Beifahrer
Wolli, der
meint: "In Berlin wohnen ist wie Tubaspielen: Hauptsache, du
pupst ordentlich rum!"
Endlich angekommen, ist Manni/Freddi nicht da, keiner weiß wo
er stecken könnte, und dessen WG-Mitbewohner sind "Herrn
Lehmann" gleichfalls alle
irgendwie suspekt: "..., ob das nicht alles ein Irrtum war,
ein Streich aus dem Paralleluniversum oder so was, die sind doch alle
total
bekloppt, dachte er." Punks, Hippie-Avantgarde,
Künstler,
Hausbesetzer, Kneipenbesitzer und deren Besucher sowie jede Menge
Dosenbier und ein wenig Paranoia
sind tonangebendes Metier: ein Kreuzberger Künstler-Biotop im
Schatten der Mauer. Man redet, vertritt seine Standpunkte oder
bezeichnet die Gegenseite
schnell einmal als Verräterschweine.
Lockere Souveränität, brillante (innere)
Dialoge
Offensichtlich scheint einer wie Frank Lehmann - eher phlegmatischer
Rebell - gerade recht zu kommen, einer, der einmal alles richtig
durchdenkt.
Bereits nach einer Nacht bekommt er langsam ein Gefühl
dafür, wie
hier die Uhren ticken, wie alles zusammenhängt. "Die
Häuser sind
groß und die Straßen breit, aber sie liegen eng
beieinander, dachte er. (...) Man darf die
Dinge nicht immer anschieben, man muss sie auch mal geschehen lassen,
dachte
er, einfach mal abwarten und sehen, was passiert, man sieht ja, was
dabei
herauskommt, wenn man aktiv wird, dachte er, nur Quatsch kommt dabei
raus..."
"Herumgepupst" wird wahrlich auf fast jeder Seite
dieses Romans auf das Wunderbarste. Frank besucht Kreuzberger
Avantgarde-Aktionen mit
durchgeknallten Performancekünstlern und
begegnet der Künstlervereinigung
"ArschArt". Man erklärt ihm alles Mögliche
über die idiosynkratische, kunstaufgeblähte Szene.
Letztendlich erfährt er mehr über seinen Bruder, als
er eigentlich wissen
will, jedoch nie das, wonach er fragt.
Mit lockerer Souveränität konstruiert Sven Regener
groteske Situationen, die trotz alledem nicht künstlich,
sondern authentisch wirken.
I-Tüpfelchen sind seine, den Text beherrschenden brillanten,
zum Teil inneren Dialoge,
die sich durch einen kernig-lakonischen Witz auszeichnen. Gerade sie
bestimmen
die eigentlich relativ handlungsarmen zwei Tage und lassen sie viel
länger wirken, als sie tatsächlich sind. Hier
läuft Lehmann, alias
Sven Regener, zu Höchstform auf. Einziges Manko ist das doch
etwas zu konstruiert wirkende Ende um
die Auflösung des Verschwindens von Frank Lehmanns Bruder
Manfred.
Fazit:
Alles in allem ist "Der kleine Bruder" eine unterhaltsame Milieustudie
des Berlin-Kreuzberg der beginnenden 1980er Jahre, einer Subkultur, die
zwischen Dilettantismus und Genialität schwankte. Ein solider
Abschluss
der "Lehmann-Trilogie" Sven Regeners.
(Heike Geilen; 09/2008)
Sven
Regener: "Der kleine Bruder"
Gebundene Ausgabe:
Eichborn Berlin, 2008. 281 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Goldmann, 2010.
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Noch zwei Buchtipps:
Uwe Tellkamp: "Der Turm"
Geschichte aus einem versunkenen Land. Hausmusik, Lektüre,
intellektueller
Austausch: Das Dresdner Villenviertel, vom real existierenden
Sozialismus längst
mit Verfallsgrau überzogen, schottet sich ab. Resigniert, aber
humorvoll kommentiert man den Niedergang eines Gesellschaftssystems, in
dem
Bildungsbürger eigentlich nicht vorgesehen sind. Anne und
Richard Hoffmann, sie
Krankenschwester, er Chirurg, stehen im Konflikt zwischen Anpassung und
Aufbegehren: Kann man den Zumutungen des Systems in der Nische, der
"süßen Krankheit Gestern" der Dresdner
Nostalgie entfliehen wie
Richards Cousin Niklas Tietze - oder ist der Zeitpunkt gekommen, die
Ausreise zu
wählen? Christian, ihr ältester Sohn, der
Medizin
studieren will,
bekommt die Härte des Systems in der NVA zu spüren.
Sein Weg scheint als
Strafgefangener am Ofen eines Chemiewerks zu enden. Sein Onkel Meno
Rohde steht zwischen den
Welten: Als Kind der "roten Aristokratie" im Moskauer Exil hat er
Zugang zum
seltsamen Bezirk "Ostrom", wo die Nomenklatura residiert, die
Lebensläufe der Menschen verwaltet werden und deutsches
demokratisches Recht
gesprochen wird.
In epischer Sprache, in eingehend-liebevollen wie dramatischen Szenen
entwirft Uwe
Tellkamp ein monumentales
Panorama
der untergehenden DDR, in
der Angehörige dreier Generationen teils gestaltend, teils
ohnmächtig auf den
Mahlstrom der Revolution von 1989 zutreiben, der den Turm mit sich
reißen
wird. (Suhrkamp) zur
Rezension ...
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Bernd Cailloux: "Gutgeschriebene
Verluste"
Berlin
2005. Im
Schöneberger "Café Fler", einem Asyl der
Übriggebliebenen aus dem alten Westberlin, sitzt ein Mann von
sechzig Jahren. Kein Eigenheim, keine Familie, keine
Rentenansprüche. Statt dessen eine junge, vielleicht letzte
Liebe, die ihn zu lange aufgeschobenen Reisen in die eigene
Vergangenheit bewegt ...
Zweimal stand er im Blitzlicht der Geschichte:
das erste Mal um
1968,
als Miterfinder des Disco-Stroboskops und Hippie-Businessman;
das zweite Mal Ende der Siebziger, als Irrwisch in der jungen
Mauerstadt-Bohème mit ihren künftigen Weltstars,
Opfern und Verrätern.
Davor, dazwischen und dahinter liegen
Schattenzeiten, wo sich die
verborgenen, aber nicht weniger spektakulären Dramen dieses
Lebens abspielen: als in den Endwirren des Weltkriegs verlassener
Säugling mit Familienspuren bis nach
Buchenwald;
als Drogenzauberlehrling, dessen Blut
auch über drei Jahrzehnte nach dem letzten Schuss noch
rebelliert; und nicht zuletzt als konsequenter Anti-Bourgeois in
bourgeoiser Gegenwart, der seine kleinen Weigerungen immer teurer zu
bezahlen hat. Aber macht sie das nicht um so kostbarer?
Mit eleganter
Untertreibung, doch ohne Rücksicht auf Verluste
zieht Bernd Cailloux die Lebensbilanz von einem, der von Bilanzen nie
viel wissen wollte.
Bernd
Cailloux, Jahrgang 1945, lebt als freier Schriftsteller
in
Berlin. (Suhrkamp)
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