Diarmaid MacCulloch: "Die Reformation"

1490-1700


Ein Handbuch zweier europäischer Jahrhunderte

Diarmaid MacCulloch ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität von Oxford und Fellow der British Academy. 2003 kam das vorliegende Buch im englischen Original als "Reformation: Europe's House Divided 1490-1700" heraus und erlangte 2004 den "National Book Critics Circle Award".

In der Einleitung des Buches findet sich ein Hinweis, dass der Autor zwar einer Linie von schottischen Geistlichen der Episkopalkirche entstammt, inzwischen aber kein wie auch immer geartetes religiöses Dogma mehr billigt, was er im Stile einer britischen Tiefstapelei für einen Historiker als vorteilhaft betrachtet. Denn, so schreibt der Autor, "Geschichtsschreibung mit einer unterschwellig konfessionellen Perspektive läuft Gefahr, die Geschichte aus einer einseitigen Voreingenommenheit heraus zu verfälschen." Leider ist dies bei religionsgeschichtlichen Publikationen keine Selbstverständlichkeit, und so sei ihm für diese Klarstellung gedankt.

Wie sieht eine Geschichte der Reformation aus? Ist es nur der Glaubensstreit Anfang des 16. Jahrhunderts inklusive seiner Wurzeln? Sola scriptura versus kuriale Renaissancepracht? Oder bedarf es einer deutlich größeren Leinwand, um das ganze Bild zu malen?

Im Vorwort heißt es: "Ich möchte die Geschichte der Reformation zunächst, so weit irgend möglich, als eine Geschichte miteinander verflochtener Ereignisse erzählen, weil die Menschen sie damals auf diese Weise erlebt haben. Außerdem kann ich mich so dem unseligen Trend entziehen, die Reformation lediglich als Funktion einer Handvoll bemerkenswerter Männer darzustellen, allen voran Luther, Zwingli, Calvin, Loyola, Cranmer, Heinrich VIII. und einiger Päpste."

In Deutschland hingegen wird Martin Luther gewöhnlich als Urreformator gehandelt, gewissermaßen als prima causa der Reformation. MacCulloch hingegen fasst Geschichte als eine Summe von Bewegungen auf, von Strömungen, die als Akteur und Gelegenheit stets paarweise auftreten. So reduziert sich das Verdienst Luthers auf ein menschliches Maß, was den einen oder anderen evangelischen Theologen auf den Plan rufen wird, der dann mit professoraler Autorität und Wucht den Autor zurechtweisen wird.

Wie schon der Titel sagt, geht es in dem Buch um runde 200 Jahre europäischer Geschichte. Doch diese bewegt sich nicht nur in den politischen Zentren der Epoche (in heutigen Begriffen England, Holland, Frankreich, Spanien, Deutschland, Polen, Österreich, Italien), sondern durchzieht zunehmend ideoplastisch den gesamten Kontinent. Europa zwischen Reformation und Deformation, im Widerstreit konkurrierender und sich gegenseitig ausschließender Gewissheiten des Glaubens, mit Tinte und Schießpulver geschrieben. Demzufolge heißt es im Schlusskapitel: "So verursachten Reformation und Gegenreformation mit ihren Kriegen viel Blutvergießen und verkürzten order ruinierten das Leben unzähliger Menschen."

Die Geschichte selbst wird in zwei Kapiteln als Vorgeschichte und Vollzug der Teilung Europas gegliedert, chronologisch und thematisch geordnet. Anhand der Fülle der vorgestellten Fakten und Ideen, ihrer Serialisierung und Präsentation muss man begeistert sein. Die große Zahl an Regionen mit ihren wichtigsten Strömungen und deren natürlicher Parallelität auf rund 900 Textseiten für den Leser ermüdungsfrei aneinanderzureihen, ist eine enorme Aufgabe. Stellenweise lässt sich eine große Erzählfreude erkennen, wie beispielsweise anlässlich der Ereignisse auf den britischen Inseln Mitte des 17. Jahrhunderts. Und so stößt man immer wieder auf weniger Bekanntes wie etwa die Endzeitstimmung ausgangs des 16. Jahrhunderts, in der sich sage und schreibe rund 300 Propheten zwischen 1550 und 1700 aus dem Kreis der reformierten Länder nachweisen lassen, wie der Autor berichtet. Auch die britische Sicht auf diese Epoche ist erfrischend, denn wer wusste schon, dass der englische Humanist Thomas Morus "noch hintergründiger lächeln konnte als die Mona Lisa"? Doch diese britische Sicht drängt sich keineswegs in den Vordergrund, wirft aber gelegentlich ein interessantes Licht auf die Vorgänge.

In diesem ereignishistorischen Teil kann man gelegentlich anderer Meinung sein, doch das ist bei einer solchen Stoffmenge völlig normal und muss nicht gesondert hervorgehoben werden. Im Zusammenhang mit dem Thema Hexenverfolgungen wurde jedoch Friedrich Spee vermisst, dessen 1631 erschienene "Cautio Criminalis" entscheidend zum Ende dieses Wahns beitrug. Was in diesem Zusammenhang generell auffällt, ist, dass die Blutspuren der Misanthropen von Reformation und Gegenreformation zumeist nur angedeutet werden. Hier wäre sicherlich mehr Deutlichkeit möglich gewesen.

Das dritte Kapitel "Lebensmuster" enthält mentalitätsgeschichtliche Aspekte der Epoche und eine Chronik der Nachwirkungen der Reformation bis in unsere Zeit hinein. Doch diese Kapitel kann das Niveau der vorangehenden Teile nicht ganz halten, wenngleich auch hier eine Fülle an Informationen enthalten ist. Es stellt sich am Ende der Eindruck ein, als sei in den Augen des Autors das größtmögliche Maß an Unabhängigkeit von Glauben die Mystik. Und so zeichnet der Autor einen Weg der Religionen insbesondere im Abendland über die Aufklärung und deren Fiasko der atheistischen (?) Französischen Revolution zu modernen Formen der Religiosität. Hier wäre eine Position in der Nähe der reichhaltigen europäischen Aufklärung sicherlich angebrachter gewesen.

Fazit:
Das 16. und das 17. Jahrhundert wurden wesentlich von religiösen Themen bestimmt, auch wenn sich diese Motive nicht immer von den feudalen Motiven der Macht trennen lassen. Dem Autor muss jedenfalls ein enormes Wissen über diese Epoche attestiert werden und die wichtige Fähigkeit, dieses Wissen auch in eine lesbare Form zu bringen und chronologisch aufzureihen.

Ein Reiz dieses Buches liegt sicherlich in der gesamteuropäischen Betrachtung dieser Epoche, die somit auch die Entwicklung des Protestantismus in England einbezieht, deren Geschichtsschreibung nach Ansicht des Autors oft eine "engstirnigen Borniertheit" anhafte. Das Literaturverzeichnis ist von englischen Titeln dominiert und reichlich kurz. Insgesamt ist der Anhang für deutschsprachige Verhältnisse auffallend dünn. Aber das liegt letztlich wohl daran, dass es sich um ein englisches Werk handelt und Engländer wohl weniger an Anhängen interessiert sind, wie man so hört. Ein 44-seitiges Register, in dem längst nicht alle erwähnten Personen Einlass fanden, schließt das Werk ab.

Ganz fehlerfrei ist das Buch leider nicht, doch die Fehler lassen sich fast an einer Hand abzählen. Hierbei bleibt dem Leser das schier unverwüstliche "so weit als möglich" auch nicht erspart.

Doch das letzte Wort zu einem insgesamt hervorragenden Buch gebührt dem Autor: "Die Geschichte versteht es meisterlich, Schlagwortexperten zu irritieren und zu verwirren."

(Klaus Prinz; 11/2008)


Diarmaid MacCulloch: "Die Reformation. 1490-1700"
(Originaltitel "Reformation. Europe's House Divided. 1490-1700")
Übersetzt von Helke Voß-Becher und Klaus Binder.
Gebundene Ausgabe:
DVA, 2008. 1024 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2010. 1056 Seiten.
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