Eric R. Kandel: "Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes"
Dem
innersten Wesen des
Geistigen auf der Spur
Bei der Entschlüsselung der Biologie des Geistes
dürfte es sich wohl um die
wichtigste und spannendste Herausforderung handeln, die sich den
Biowissenschaftlern des 21. Jahrhunderts stellt. Dieser Aufgabe wird
nach
Ansicht Eric Kandels in etwa jener Stellenwert zukommen, den die
Genetik und das
Entziffern des genetischen Codes in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhundert
innehatten. Da aber die Vorgehensweise bei der Erforschung des
Geistigen seitens
der Biologen in einem zum Teil radikalen Reduktionismus besteht, sollte
sie
versuchen, eine Symbiose mit den humanistisch ausgerichteten Idealen
der
Psychiatrie und
Psychoanalyse einzugehen. Diese Verbindung zweier so
unterschiedlicher Ansätze in der Erforschung des menschlichen
Geistes zum Wohle
jedes einzelnen Menschen zu erreichen, ist das große Anliegen
Eric Kandels,
einem der renommiertesten Vertreter der Neurowissenschaften, dem
für seine
bahnbrechenden Forschungen an der Meeresschnecke Aplysia im Jahre 2000
der
Nobelpreis für Physiologie und Medizin zugesprochen wurde.
Der vorliegende Band beinhaltet Aufsätze beziehungsweise
Vorträge Kandels aus
den vergangenen drei Jahrzehnten, die nicht in chronologischer, sondern
mehr in
thematischer Reihenfolge hier abgedruckt sind. Sehr
begrüßenswert sind die
zusammenfassenden und erläuternden Kommentare von Fachleuten,
die sich im
Anschluss eines jeden Aufsatzes finden. Sie tragen wesentlich zum
besseren Verständnis
der zum Teil doch recht komplizierten Materie für den
interessierten Laien bei.
Im ersten Vortrag "Psychotherapie und die einzelne Synapse"
aus
dem Jahre 1979, wo Kandel bereits eine mehr neurowissenschaftlich
ausgerichtete
Ausbildung der Psychiater befürwortete, geht es in erster
Linie um Habituation
und Sensitivierung - zwei gegensätzliche Formen des Lernens.
In Kapitel zwei "Ein
neuer theoretischer Rahmen für die Psychiatrie"
bemängelt der Autor
die in der Psychiatrie und hier besonders in der Psychoanalyse weit
verbreitete
Neigung, sich der experimentellen Forschung, die in den
Neurowissenschaften und
der Biologie allgemein richtungweisend ist, zu verschließen.
Seine Hoffnung
geht aber dahin, dass sich neurologischer und psychoanalytischer Ansatz
in naher
Zukunft auf einen gemeinsamen Weg begeben werden, um so miteinander
statt
gegeneinander zum Wohle der Patienten wirken zu können. Diese
Hoffnung
formuliert Kandel immer wieder, in allen hier abgedruckten
Vorträgen. Dies
scheint sein zentrales Anliegen zu sein. Ohne die vielfältigen
Errungenschaften
der Psychoanalyse in Frage zu stellen, kritisiert Kandel, dass die
Psychoanalyse
den in den Neurowissenschaften gewonnenen Erkenntnissen bisher zu wenig
Beachtung geschenkt hat. Und in seinem Kommentar zu Kandels Aufsatz
fordert auch
Thomas R. Insel, dass sich die Psychoanalyse endlich auf die Basis der
neurologischen Forschung stellen muss, wenn sie überhaupt eine
Zukunft haben
will. Die seit Veröffentlichung des Aufsatzes neu gewonnenen
Erkenntnisse
lassen es nun sogar noch dringlicher erscheinen, dass sich die
Psychoanalyse in
den naturwissenschaftlichen Rahmen integriert, so Thomas R. Insel. Das
dritte
Kapitel des Buches "Biologie und die Zukunft der
Psychoanalyse"
behandelt das gleiche Thema noch einmal. Der Aufsatz entstand in
Reaktion auf die
Rückmeldungen, die Kandels Ausführungen "Ein
neuer theoretischer
Rahmen für die Psychiatrie" hervorgerufen haben.
Eric Kandel legt
seinen Standpunkt hier noch einmal umfassender dar, er gibt zu
bedenken, dass,
falls sich die Psychoanalyse nicht in die Biologie integrieren sollte,
psychoanalytische Literatur künftig allenfalls als
philosophische, nicht aber
als naturwissenschaftliche Literatur verstanden werden kann. Unter
anderem
werden in diesem Kapitel auch
Freuds Ansatz zur Erklärung der
Sexualität und
die modernen biologischen Erkenntnisse, die man seither
darüber gewinnen
konnte, gegenübergestellt. Im Kommentar zum dritten Kapitel
bringt Arnold M.
Cooper Kandels Vorstellungen noch einmal auf den Punkt. Demnach
wäre es Aufgabe
der Psychoanalyse, "Verständnis für den
nötigen Reduktionismus
wissenschaftlichen Denkens zu wecken und dabei an der Menschlichkeit
festzuhalten, die für die Einfühlung in das Erleben
eines anderen Menschen
unerlässlich ist."
Waren die ersten drei Vorträge auch für den
medizinischen Laien gut verständlich,
interessant und auch äußerst fruchtbar, so sind der
vierte und fünfte
Abschnitt des Buches, die Details zur Molekularbiologie beinhalten,
doch
wesentlich schwerer zu verstehen. Allerdings sind die
Forschungsarbeiten und
deren Resultate, über die Eric Kandel hier berichtet, derart
interessant und
spannend, dass der Versuch allemal lohnt, sich ein wenig in die Materie
zu
vertiefen. Im vierten Kapitel geht es vornehmlich um die Erforschung
der Angst
auf zellulärer und molekularer Ebene. Da Angst eines der
grundlegenden
menschlichen Probleme darstellt, sind Forschungen zu diesem Thema
natürlich von
starkem allgemeinem Interesse. Am Beispiel der Meeresschnecke Aplysia
zeigt
Kandel auf, dass auf molekularer und zellulärer Ebene hier die
gleichen
Mechanismen wirksam sind wie bei höheren Tieren oder auch beim
Menschen. Die
Rolle, die Drosophila in der Gentechnik innehatte, die kommt nun
Aplysia in der
Neurobiologie zu. Ging es im vierten Kapitel also in vorderster Linie
um das Phänomen
Angst, so befasst sich die fünfte Vorlesung Eric Kandels mit
den
molekularbiologischen Mechanismen der Gedächtnisspeicherung.
Auch hier musste
wieder einmal die Schnecke Aplysia als Versuchstier herhalten. Und es
zeigte
sich überraschenderweise, dass auch die elementaren Formen des
Lernens und der
Gedächtnisspeicherung wohl allen Lebewesen mit einem
entwickeltem Nervensystem
gemein sind. Der Satz "Übung macht den Meister" gilt demnach
sowohl für
den Menschen als auch für die Maus und sogar für die
Schnecke. Als Grundlage
seiner Untersuchungen wählte Kandel einen reduktionistischen
Ansatz und weitete
seine Forschungen von den relativ einfachen Strukturen bei Aplysia
später auf Mäuse
aus.
Einen Blick in die Zukunft wirft Eric Kandel im letzten der in diesem
Band veröffentlichten
Vorträge. In eine hoffnungsvolle Zukunft, in der seiner
Überzeugung nach sich
die Medizin von der "Anonymität der verwalteten
Gesundheitsversorgung"
verabschieden wird, um sich zu einer "personalisierten, auf
die Bedürfnisse
des einzelnen Patienten zugeschnittenen Medizin" zu
entwickeln.
Gleichwohl sieht er auch die Gefahr eines Missbrauchs des in der
Neurowissenschaft erworbenen Wissens und der damit verbundenen Macht
heraufziehen, so wie es der Sozialdarwinismus und die Eugenik in der
Vergangenheit ja bereits einmal gezeigt haben. Bisweilen konnte ich
mich des
Eindrucks nicht erwehren, dass Eric Kandel ein wenig zu optimistisch in
die
Zukunft blickt, seine Wissenschaftsgläubigkeit scheint durch
nichts zu erschüttern,
und manchmal klingt da sogar Überheblichkeit und
wissenschaftliche Hybris mit
an, wenn er beispielsweise davon spricht, dass seine Studenten,
beziehungsweise
Kollegen in spe, eine neue, bessere Welt schaffen werden. Wir
können nur
hoffen, dass es ihnen gelingen möge, doch Zweifel sind in
jedem Fall
angebracht. Kandel glaubt auch an die kurz bevorstehende
Klärung der Frage, wie
unser Gehirn Bewusstsein entwickeln kann. Doch eigentlich muss man
diese Frage
ja viel weiter fassen in dem Sinne: Wie kann
Materie Bewusstsein
entwickeln? Es
bleibt abzuwarten, ob die letzte, endgültige Antwort auf diese
Frage jemals
gefunden werden kann.
Schließen möchte ich mit einem
versöhnlichen Zitat Eric Kandels zum
beherrschenden Thema dieses Buches: "Es war mein Ziel, Fragen
zur
Psychologie in die empirische Sprache der Biologie zu
übersetzen. Was ich nicht
wollte, war, die Logik der Psychologie oder Psychoanalyse durch die
Logik der
zellulären Molekularbiologie zu ersetzen. Es ging vielmehr um
den Versuch,
diese beiden Disziplinen zu vereinigen und einen Beitrag zu einer neuen
Synthese
zu leisten." Ich finde, dies ist Eric Kandel gelungen, und
sein Buch möchte
ich jedem empfehlen, der sich für die darin behandelte
Thematik interessiert.
(Werner Fletcher; 04/2008)
Eric
R. Kandel: "Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des
Geistes"
Übersetzt von Jürgen Schröder und Michael
Bischoff. Mit einem Vorwort von
Gerhard Roth.
Suhrkamp, 2008. 348 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Eric R. Kandel, geboren 1929 in Wien, Professor an der Columbia University, Fred Kavli Professor und Leiter des Kavli-Instituts für Hirnforschung. Neben zahlreichen renommierten internationalen Auszeichnungen erhielt er 2000 den Nobelpreis für Medizin.