Akif Pirinçci: "Der Rumpf"
Ein
Kriminalroman der
gehobenen Kategorie
"Hart an der Grenze, aber zweifellos brillant. Ein echter
Pirinçci."
So steht es auf dem Umschlag. Was ist damit gemeint? Dass es sich hier
um einen
echten Pirinçci handelt, dürfte außer
Frage stehen. Brillant ist die souveräne
Behandlung der Sprache bei Pirinçci, die auch auf mich
Eindruck gemacht hat.
Aber "hart an der Grenze"? An welcher Grenze? An
der
Schneegrenze des Dichterolymps, den Akif Pirinçci erklimmen
möchte, um sich
dort zu verewigen? Oder hart an der Grenze des moralisch-sittlich
gerade noch
Vertretbaren, an der Grenze des sogenannten guten Geschmacks?
Vermutlich ist eher Letzteres gemeint, da in Pirinçcis Roman
ein heikles Thema
angeschnitten wird, ein Thema, das die Öffentlichkeit
sensibilisiert wie kaum
ein zweites, das Problem des behinderten Menschen. Obwohl der Autor in
seinem
von ihm selbst verfassten Nachwort erklärt, dass sich "Der
Rumpf"
nicht einmal im Ansatz mit der
Behindertenproblematik
auseinandersetzt.
Das
stimmt natürlich absolut nicht. Aber das Buch bewegt sich auch
noch hart an
einer anderen Grenze, auf die ich später eingehen werde.
Zunächst etwas Grundsätzliches zum Inhalt: Die
Hauptprotagonisten sind zwei Brüder,
der eine ein Psychopath, der andere ein Krüppel, ein Rumpf
ohne Gliedmaßen,
aber ein rabiater Krüppel, ein regelrechtes kleines Arschloch
mit literarischem
Niveau, aus dessen vergiftetem Seelengrund eine Ranküne
wächst, ein
Nachtschattengewächs übelster Provenienz und von
perfidester Zielstrebigkeit:
der Plan zu einem perfekten Mord. Daniel, so heißt der
Fiesling, hat zwar weder
Arme noch Beine, nennt aber ein blitzsauber arbeitendes
Gehirn sein
eigen. Und
er verfügt über eine flinke Zunge, über ein
loses Mundwerk, mit dem er seine
Mitmenschen begeifert. Das weiter unten sitzende Pendant zu seiner
Zunge ist
sein Glied, die äußere Insignie seiner
Männlichkeit, das einzige Glied, das
die launische Natur oder ein "Schöpferclown" ihm zugedacht
hat, und
in dem unerbittlich die Erregung pulst, dessen "Besitzer" aber
einsehen muss, dass er seine lüsternen Fantasien wohl niemals
so richtig wird
ausleben können. Akif Pirinçci lässt
seinen behinderten Widerling den Roman
aus der Ich-Perspektive erzählen, vermutlich, um sich so ein
wenig von dessen
Aussagen distanzieren zu können, denn Daniel nimmt kein Blatt
vor den Mund, vor
allen Dingen kein Feigenblatt. Das meint vielleicht auch der Hinweis "hart
an der Grenze" . Doch dass ein Autor sich bei seinem
Fabulieren auch
kompromissloser Ausdrücke bedient, kann heute wohl auf
niemanden mehr
befremdend wirken. Oder? Ein Behinderter als Berufsonanist? Na, lieber
Herr
Pirinçci, wenn das keine behindertenspezifische Problematik
ist!
Ich erwähnte eben beiläufig eine andere Grenze, an
der sich Pirinçci mit
seinem "Rumpf" bewegt. Er selbst nimmt übrigens in seinem
Nachwort
Bezug darauf. Dort heißt es: "Es vergingen nach der
Manuskriptablieferung noch zwei Monate, bis das Buch durch meinen
damaligen
Lektor Ulrich Genzler seine endgültige Form erhielt. Es war
ein schrecklicher
Kampf, denn der ursprüngliche Text war sprachlich erheblich
pompöser,
vielleicht aber auch weniger flüssig zu lesen. Damals schwor
ich ihm Rache,
faselte und drohte, dass ich irgendwann den 'Ur-Rumpf' herausbringen
würde.
Heute bin ich ihm für seine Verschlankungen und
Kürzungen unendlich dankbar."
Das sollte der Autor auch sein, denn dieses Pompöse des Stils
merkt man dem
Text immer noch ein wenig an. Gewiss, Pirinçcis sprachliche
und gestalterische
Potenz kann einen absoluten Ausnahmerang für sich
beanspruchen. Sein Satzbau
und seine Wortwahl besitzen Originalität und Geist. Auch
mangelt es ihm weder
an psychologischem Scharfblick noch an philosophischem Tiefgang. Und er
meidet
geflissentlich das seichte Fahrwasser der Routine, und er schwimmt auch
in
niemandes Kielwasser. Nur manchmal scheint der aufgemotzte Wortbombast
eines
vordergründigen Bravourstils, das Streben nach
Originalität um jeden Preis,
der Kompass zu sein, nach dem der Autor segelt. Dann läuft er
Gefahr, dass sein
Witz penetrant und durch Abnutzung schal wird. Ein weiteres Manko des
Romans
sehe ich darin, dass die Geschichte gegen das Ende hin auf ein 08/15-Thriller-Niveau
absinkt, wenn Akif Pirinçci nämlich das bis dahin
filigrane und wie geschmiert
schnurrende Räderwerk der Handlung mit einem
Übermaß an blutiger,
reißerischer Handlung vorantreibt.
Nichtsdestotrotz bleibt "Der Rumpf" für mich ein Juwel im
Müllhaufen
deutscher und internationaler Krimi-Produktion. Sein lockerer
erfrischender
Stil, die Fülle des sprachlichen Ausdrucks, durch die
Pirinçci seinen Sätzen
Gestalt und Gehalt gibt, das alles wirkt sehr überzeugend. Und
nicht zuletzt
ist auch die Idee, die der Geschichte zugrunde liegt, einfach gut.
Eine Schlussbemerkung noch: Jeder Autor, der etwas auf sich
hält, stellt seinen
Kapiteln Bibelzitate voran. Dies ist mittlerweile zu einer regelrechten
Manie
geworden, der sich auch Akif Pirinçci unterworfen hat. Warum
das?
(Werner Fletcher; 03/2008)
Akif
Pirinçci: "Der Rumpf"
Heyne, 2008. 368 Seiten.
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