Jay Parini: "Tolstojs letztes Jahr"


Die zahlreichen Facetten einer faszinierenden Schriftstellerpersönlichkeit

Im Jahr 1910 ist Lew Tolstoj, zweifellos der bekannteste derzeit lebende Schriftsteller, 82 Jahre alt. Seine berühmten Romane, "Krieg und Frieden" sowie "Anna Karenina", hat er vor Jahrzehnten verfasst. In dem Grafen, der einst seine schriftstellerische Karriere mit Berichten von Kriegsschauplätzen im Kaukasus und auf der Krim begann, ist seither eine fundamentale Veränderung vorgegangen: Tolstoj hat so etwas wie eine eigene Religion entwickelt, die zwar auf der Bibel basiert, doch auch Elemente des Buddhismus und anderer Glaubensrichtungen enthält. Vor allem predigt er Enthaltsamkeit und Armut.

Sein Gut Jasnaja Poljana wird belagert von Tolstoj-Jüngern. Einzelne unter ihnen gewinnen Tolstojs Sympathie und damit einen Einfluss über ihn, den seine Ehefrau Sonja nicht billigt. Sie und einige seiner Kinder fürchten um ihr Erbe, denn Tolstoj möchte sein Vermögen am liebsten unter den Armen verteilen. Andere Nachkommen, darunter seine Tochter Sascha, verstehen und verehren ihn.
In diese zutiefst verwirrende Situation wird Tolstojs neuer Sekretär Walentin Bulgakow, empfohlen von Tolstojs Leibarzt, unvermittelt gestoßen.

Der vorliegende Roman lässt Tolstojs letztes Jahr anhand von hauptsächlich auf Tatsachen, sprich: Originalquellen, beruhenden Vorfällen und Entwicklungen lebendig werden. Die unterschiedlichsten Personen aus Tolstojs unmittelbarem Umfeld äußern sich, berichten und kommentieren die Ereignisse: Tolstoj selbst, seine so eifersüchtige wie verzweifelt um seine Liebe kämpfende und ihn damit vernichtende Ehefrau, Tochter Sascha, dem Vater völlig ergeben, der Leibarzt, Tolstojs Günstling Tschertkow, dem die Ehefrau - vielleicht zu Recht - eine homosexuelle Verbindung mit dem großen Schriftsteller unterstellt, Sekretär Bulgakow, der darunter leidet, dass er dem Tolstojschen Ideal der Keuschheit nicht folgen kann, und ein paar mehr.

Aus ihren Tagebuchaufzeichnungen und Briefen entwickelt sich ein verblüffend heterogenes Bild von Tolstojs letztem Jahr, das gezeichnet ist von der für ihn verstörenden Verehrung durch seine Anhänger, vor allem aber von der Auseinandersetzung mit seiner zunehmend paranoiden Ehefrau, die ihm keine Luft zum Atmen mehr lässt. Als der schon geschwächte Tolstoj mit der Bahn ins Nirgendwo flieht, holt ihn der Tod in einem bislang völlig unbedeutenden Ort namens Astapowo ein.

Jay Parini hat für seinen Roman um Tolstojs letztes Lebensjahr ausführlich recherchiert und bringt viel authentisches Material ein, auch wenn er sein Werk letztlich als fiktiv bezeichnet. Er hat die Charaktere um Tolstoj vorzüglich nachempfunden, was nicht einfach ist, nähern sie sich doch dem Genie aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln.

Herausragend ist das Porträt der Ehefrau Sonja gelungen, einst unersetzliche Mitarbeiterin, die Tolstoj ein Kind nach dem anderen gebiert, sich geduldig seinen fantasielosen sexuellen Avancen ergibt, die er selbst eigentlich verabscheut, und schließlich um die Tantiemen aus seinen Werken kämpft, damit seine Kinder nicht aufgrund seiner fixen Idee von Gleichheit mittellos enden - bis sie wahrlich psychotische Züge entwickelt.

Doch auch die anderen Figuren treten glaubwürdig und individuell auf, unter anderem der Sekretär Bulgakow, der gänzlich unvoreingenommen inmitten der Intrigen "landet" und sich zudem noch, ganz entgegen der Tolstojschen Doktrin, in die Tochter seines Hauswirts verliebt.

Der Leser weiß nicht recht, wer in dieser zugleich bezaubernden und abstoßenden Tragikomödie das "Gute", wer das "Böse" verkörpert, da jeder aus seiner Sicht Recht zu haben scheint. Etwas hilflos steht Tolstoj selbst im Zentrum, getrieben vom Gefühl seiner Mission, zurückgehalten von einem klassischen Verantwortungsgefühl.

Es kommt zu vielen inhaltlichen Überschneidungen, und manchmal gewinnt der Leser den Eindruck, es ginge nicht voran. Dies ist nun freilich ebenfalls der Fülle an verschiedenen Perspektiven geschuldet, die ein facettenreiches, schillerndes Bild einer ganz großen russischen - europäischen - Persönlichkeit entwerfen.
Ein wahrlich faszinierender Roman!

(Regina Károlyi; 08/2008)


Jay Parini: "Tolstojs letztes Jahr"
Gebundene Ausgabe:
C.H. Beck, 2008. 359 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
"Ein russischer Sommer. Tolstojs letztes Jahr"
Das Buch zum Film.
C.H. Beck, 2010.
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Noch ein Buchtipp:

Alexander Goldenweiser: "Entlasse mich aus deinem Herzen. Tolstois letztes Jahr"

Alexander Goldenweisers Tagebuch spiegelt die geistigen Auseinandersetzungen und familiären Dramen in Tolstois Todesjahr. In Lew Tolstois letzten fünfzehn Lebensjahren ritt Alexander Goldenweiser fast täglich nach Jasnaja Poljana, dem Gut der Tolstois. Viele Stunden hat er an der Seite des weltberühmten Schriftstellers verbracht. Er wurde ein intimer Zeuge von Tolstois inneren Kämpfen, Zeuge auch der sich zuspitzenden Konflikte zwischen Tolstoi und dessen Frau Sofja Andrejewna um Tolstois Tagebücher und die Rechte an seinen Werken - ein Streit, der die ganze Familie spaltete und den 82-jährigen Tolstoi schließlich von seinem Gut fliehen ließ.
In diesem Band erscheinen Goldenweisers detailreiche Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahr 1910, Tolstois letztem Lebensjahr, erstmals vollständig in deutscher Sprache.
Alexander Goldenweiser (1875-1961) war Pianist, Komponist und Kunstwissenschaftler und wurde als 21-jähriger Student in das Haus der Tolstois eingeführt. (Aufbau-Verlag)
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