Alejandro Palomas: "So viel Liebe"
Komm!
Baden in Licht, Musik und Liebe
Eine alternative und ganz besondere Art der Entspannung wird neuerdings
von einigen Wohlbefindensoasen angeboten. In einem durch Licht,
Reflektionen, Farben und Unterwasserklänge inszenierten
Badebereich werden Körper und Seele durch die visuellen und
akustischen Eindrücke in eine andere Welt entführt.
Denn unsere Sinne nehmen im Wasser anders wahr als an Land:
Schallschwingungen erreichen das Gehör über Haut und
Knochen und beleben den Organismus von innen und außen.
Der Roman von Alejandro Palomas, so steht es im Klappentext, ist
ebenfalls Unterwassermusik, die die Seele berührt.
Hält die Erzählung auch, was so vielversprechend
verkündet wird?
Als raffinierten Einstieg wählt der Autor eine Legende, die
besagt, dass vor vielen Jahren eine Jungfrau aus einem Palastfenster in
die trüben Wasser der venezianischen Lagune stürzte
und außer einem roten Schuh und einem blauen Strumpf nichts
mehr von ihr gefunden wurde. Ihr Vater wurde daraufhin
verrückt, ihre Mutter flüchtete sich in die
Betäubung des Weines und brach sich an einem verregneten
Nachmittag auf dem glatten Weg das Genick. Nach 49 Jahren stieg die
junge Frau wieder aus dem Wasser - fast völlig unversehrt -
einzig: sie war verstummt. Erst ein junger Mann - Isaac - bringt sie
wieder zum Sprechen. Er nennt sie Serena, die "die Heitere", und formt
aus ihrem strahlenden Lächeln die Saiten und aus dem Holz des
Fensterrahmens den Körper einer Violine, auf der Serena fortan
mit ihm kommuniziert: Musik als Sprache.
Als er jedoch eine Gondel für sie baut, um mit ihr der Stadt
zu entfliehen, verstummt der musische Dialog.
Nach dieser märchenhaften Einleitung verlagert Alejandro
Palomas seine Handlung in die Gegenwart. Seine Protagonisten nennen
sich gleichfalls Serena und Isaac und wohnen in Barcelona. Isaac (45)
ist Fotograf, und Serena (40) spielt Violine in einem Orchester.
Verblüffend viele Parallelen zu dem Paar aus der einleitenden
Legende offenbaren sich bereits zu Beginn und verdichten sich mit
fortschreitender Handlung.
Beide sind gezeichnete Menschen, mit einer mehr oder weniger
verkorksten Kindheit, in der das Wort Liebe nicht im Repertoire
enthalten war. Außer Isaacs Mutter Elsa leben die Eltern der
beiden nicht mehr. Doch auch Elsa dämmerte 34 Jahre ihres
Lebens im Alkoholdelirium dahin.
Erst mit Isaac lernt Serena, die bereits eine unglückliche Ehe
hinter sich hat, das Wort Liebe in seiner ganzen Bedeutung erahnen.
Irrgarten an Fragen und Antworten
Zu Beginn dieser ungeheuer dichten und emotional eindringlichen
Erzählung scheint alles noch recht vage, vieles ist unklar und
liegt in einem diffusen Licht. Erst nach und nach setzt Palomas die
fehlenden Teile in das Lebenspuzzle des Paares und
entschlüsselt die Tragik ihres bisherigen Daseins.
Da ist zum einen die junge Frau, die sich emotional nur über
ihre Musik auf der Geige auszudrücken vermag, vor dem Wort
"Komm" eine abgrundtiefe Abneigung zu haben scheint und mit den
Geräuschen der lauten Welt einfach nicht klar kommt. Ihre
Kindheit war vom
Schweigen ihrer Eltern geprägt, eine Kindheit
wie hinter den Scheiben eines Aquariums.
Auf der anderen Seite ist auch Isaac in einem Brunnen der Angst
gefangen.
Als Isaacs Mutter ihren Sohn bittet, sie auf eine Reise nach
Venedig zu
begleiten, scheint für die junge Frau ein unheilvolles Omen
aufzuziehen. Ohne Isaac wirkt sie verloren. Am Tag seiner Abreise
erfährt sie zudem, dass sie schwanger ist. Doch kommt sie
nicht dazu, ihm die frohe Nachricht zu übermitteln. Ein
tragisches Ereignis zwingt Serena, dem verzweifelten "Komm" ihrer
Schwiegermutter am Telefon nach Venedig zu folgen, wo sich immer mehr
ungeklärte Geheimnisse aufzulösen scheinen.
Alejandro Palomas gibt seinen Protagonisten eine Entwicklungschance,
ermöglicht vor allem Serena, ihre innere Substanz aus Wasser,
Schlamm und Salz auszuspucken.
Nach und nach entwirrt er den "Irrgarten an Fragen und
Antworten, aus Anwandlungen von Aufrichtigkeit, die manchmal schmerzen
und manchmal die Pfeiler einer ganzen Stadt verstärken".
Sensible und poetische Sprache
Anhand zahlreicher klingender Bilder, musischer Metaphern, in einer
sensiblen, poetischen Sprache und in ständig alternierenden
Ich-Perspektiven - Palomas lässt Serena, Isaac und Elsa
abwechselnd erzählen - webt der Autor ein immer dichteres
Labyrinth aus Noten, Wasser, Musik und vor allem Liebe, in das der
Leser unweigerlich hineingezogen wird.
Bedient hat er sich dabei offensichtlich der märchenhaften
Erzählung Friedrich de la Motte-Fouqués
(1777-1843), der mit seiner "Undine" bereits solch große
Künstler wie Goethe, Wagner, Dvorak, Honegger und auch
Hans
Christian Andersen zu seiner berühmten "kleinen
Meerjungfrau"
inspirierte.
In neunzehn kurzen Kapiteln beschrieb der fast vergessene Romantiker de
la Motte-Fouqué das Leben, Lieben und Leiden einer jungen
Wasserfrau, die sich in einen ebenso jungen Ritter verliebt und mit
allerlei Unbill des menschlichen Lebens, einschließlich einer
Gegenspielerin zu kämpfen hat. Dabei verband er alte Sagen mit
seinem eigenen Leben.
Auch Palomas gliedert sein Werk in neunzehn Kapitel, und es sind
durchaus mehrere Parallelen zu de la
Motte-Fouqué zu verzeichnen. Eine äußerst
gelungene moderne
Umsetzung des Themas.
Fragt sich nur noch, wie es dem jungen Mann aus der eingangs
erwähnten Legende gelungen war, die junge Frau zum Sprechen zu
bringen? Ganz einfach, mit der Frage: "Was hast du
gehört?" Ihre Antwort darauf: "Musik." Und noch
mehr. "Ich konnte nicht wieder zurück. Unter der
Stadt spielt das Wasser eine so traurige Melodie, dass das Leben sie
flieht, um nicht zuhören und zulassen zu müssen, dass
der Tod alles überschwemmt. Um zurückkehren zu
können, musste ich lernen, sie zu spielen."
Wie Recht die junge Frau hatte. Wasser schafft den
Körperkontakt zur Musik. Mit dem gesamten Körper zu
hören, versetzt den Menschen in ein tiefes, lang anhaltendes
Stadium der seelischen und somatischen Entspannung und Besinnung, man
fühlt sich mit seinem Körper im Einklang. Doch auch
ohne das flüssige Element kann sich ein Schwebezustand des
inneren Einklangs bilden. Dann, wenn man versteht, die "Frequenz" der
Empfindungen behutsam zu erweitern, Dissonanzen mit positiven
Schwingungen zu überlagern und vielleicht gar eine
Brücke zu bauen, eine Brücke aus Noten.
Fazit:
"So viel Liebe" ist eine schöne Metapher auf die Liebe und die
Gefahr des Schweigens,
geschrieben voller Empathie und mit wundervollem
Feingefühl.
Ein Buch mit ungeheurem Tiefgang.
Harmonisch und melodisch aus dem Spanischen übertragen von
Sybille Martin.
(Heike Geilen; 05/2008)
Alejandro
Palomas: "So viel Liebe"
(Originaltitel "Tanto amor")
Aus dem Spanischen von Sybille Martin.
Gebundene Ausgabe:
Bloomsbury Berlin, 2008. 184 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Taschenbuchausgabe:
BVT, 2011.
Buch
bei amazon.de bestellen
Alejandro
Palomas, 1967 in Barcelona geboren, ist Journalist, Übersetzer
und Autor.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Bis hierher, bis heute"
Ein Familientreffen nach langer Zeit. Anlässlich der Beerdigung von Constanza
kommen ihr Exmann Rodolfo, ihre Tochter Martina und ihre Enkel im gemeinsamen
Haus am Meer erstmals wieder zusammen. Rodolfo ist vor zwanzig Jahren nach
Buenos Aires geflüchtet - nach einem schrecklichen Ereignis, über das bis
heute geschwiegen wird. Nun spürt er, dass auch seine Tage gezählt sind, und beschließt, endlich das
Geheimnis zu lüften, das ihrer aller Leben bestimmt hat.
Eine Geschichte der verborgenen Gefühle und das Porträt einer Familie, die
nach Jahren der Trennung und des Schweigens wieder zusammenfindet. (Berlin
Verlag)
Buch
bei amazon.de bestellen
"So
viel Leben"
Eine Insel, ein Leuchtturm. Meer. Licht. Wind. Fünf Frauen,
die über das
sprechen, was sie für immer verschweigen wollten. Die
zusammenkommen, um den
Tod Helenas zu betrauern, die aufs Meer hinausfuhr und nicht
zurückkehrte. Um
Inés beizustehen, deren Sohn
an
Leukämie erkrankt
ist. Um Beatriz auf dem Weg
zur Mutterschaft zu begleiten. Um die letzten Jahre mit
Großmutter Mencía zu
leben, die in ihrem Elan, ihrer Offenheit, ihrem Mut zur Wahrheit, zur
Unbequemlichkeit so viel vitaler wirkt als manche junge Frau. Ein Haus
auf
Menorca, ein Haus voller Geheimnisse. Trauer, Freude,
Zärtlichkeit, Zorn,
Liebe
und Verlust. Geheimnisse, die nach und nach dem flirrenden Insellicht
preisgegeben werden. So sinnlich, kraftvoll und erfrischend wie das
Meer.
(Bloomsbury Berlin)
Buch
bei amazon.de bestellen