Amos Oz: "Verse auf Leben und Tod"
Wahre
Dichtung
Das Buch beginnt mit eineinhalb Seiten voller Fragen an die Hauptperson
des kurzen Romans, an den Schriftsteller - Fragen, die wohl jeden
kreativ schreibenden Menschen bei Lesungen und anderen
öffentlichen Anlässen erwarten: "Warum
schreiben Sie? Warum gerade in dieser Weise? [...] Stammt das Material
für Ihre Geschichten aus Ihrer Fantasie oder aus dem
wirklichen Leben?"
Der Schriftsteller antwortet nicht, doch die Leser erahnen bald die
Antworten aus den Geschehnissen dieses schwülen Abends und der
darauf folgenden Nacht in Tel Aviv.
Amos Oz beschreibt, wie ein Autor in einem Kulturzentrum sein neues
Buch vorstellt und sich bei der Betrachtung seines Publikums
Geschichten ausdenkt. Bereits die Kellnerin, die ihm vor der Lesung
einen Kaffee serviert und deren asymmetrische Slipränder der
Dichter unter dem durchscheinenden Rock anstarrt, erhält eine
erdachte - erdichtete - Identität. Sie wird zur
früheren Strandkönigin Riki, die als
Sechzehnjährige einige aufregende Tage mit einem
Fußballer in einem Hotel in Eilat verbrachte. Nun versucht
sie, mit ihrer damaligen Konkurrentin Lucy Kontakt aufzunehmen. Auch
die Personen im Publikum, der Funktionär des Kulturzentrums
und ein bei dieser Gelegenheit oft zitierter Dichter bekommen Namen und
Geschichten, erhalten eine Vergangenheit und ein Leben aus der Fantasie
des Autors.
Das "Nagetiergesicht" Rachel Resnik, die Frau, die
im Kulturzentrum aus seinem Buch vorliest, interessiert den Autor am
meisten. In Gedanken - oder in Wirklichkeit? - begleitet er sie nach
Hause, lässt die schüchterne Frau ins oberste
Stockwerk entschwinden und dringt doch später, nach
Mitternacht, in ihre Wohnung ein. Die Vorleserin gibt sich ihm hin -
oder auch nicht, er beglückt sie und versagt
schließlich an oder in seiner Fantasie. Oder es war anders: "
Noch während der Schriftsteller vorsichtig die
Türklinke drückt, ist von drinnen ein
Geräusch zu hören. Sofort besinnt er sich eines
anderen, flieht, hat Angst, das Treppenlicht anzuknipsen, springt, zwei
Stufen nehmend, hinunter, stolpert in der Biegung, schlägt mit
der Schulter an die Stromkastentür, die nur durch ein Wunder
noch an einem Scharnier hing und jetzt herunterfällt und laut
krachend gegen das Geländer knallt, und sofort, im selben
Moment, geht gegenüber eine Tür auf, zum Beispiel von
Janiv Schlossberg, der hier gerne wohnt." (Seite 73)
Die dichte Erotik des Buches ist sicher, wahrscheinlich oder vielleicht
doch "nur" ein Gedankenspiel. Amos Oz, vermutlich der
berühmteste zeitgenössische israelische
Schriftsteller, nimmt sich auf so raffinierte Weise des
Pygmalion-Themas an, dass der Leser versucht ist, anfangs zwischen der
erzählten "Wirklichkeit" und der Gedankenwelt des Autors zu
trennen. Man blättert zurück, sucht nach Hinweisen
auf die Erfindungsgabe des Autors und findet sie auch immer wieder in
den Text eingestreut. Und ebenso findet man Stellen, die auf
"tatsächliche" Erlebnisse der schreibenden Hauptperson
hinweisen ...
Doch eine Trennung gibt es nicht, kann es nicht geben, denn im Lesen
spinnen wir die Gedanken und Fantasien weiter, schenken den Personen
des Kurzromans Gesichter und schreiben ihnen Wesenszüge aus
unserer eigenen Lebenswelt zu ...
Der Schriftsteller - Amos Oz sowie die Hauptpeson im Roman - wird mit
Hilfe der Leser zum Meister der
Welterschaffung.
"Manchmal lohnt es sich wirklich, das Licht anzumachen, um
herauszufinden, was passiert. Auch morgen wird es heiß und
schwül sein, und morgen ist eigentlich heute", endet
der reizvolle Kurzroman, der das gegenseitige Durchdringen von
erzählter und erlebter Wirklichkeit zielsicher und doch
spannend und unaufdringlich, vor allem ohne die literarischen
Konstruktionen von Fantasy-Romanen, darstellt.
(Wolfgang Moser; 07/2008)
Amos
Oz: "Verse auf Leben und Tod"
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Suhrkamp, 2008. 120 Seiten.
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