Ingrid Noll: "Kuckuckskind"


Die Bücher Ingrid Nolls sind eigen. Sie zählen zum Krimigenre und gehören doch nicht dazu. Zwar wird immer mehr oder minder dissidentes Verhalten bis hin zu wirklich strafbaren Handlungen beschrieben, Polizei oder gar die Justiz tauchen aber nur am Rande auf. Ingrid Nolls Romane spielen in der Mitte der Gesellschaft, bei Menschen, wie wir sie kennen, mit Berufen, wie wir sie auch haben. Sie tasten in die Ebenen unterhalb der sichtbaren Normalität, experimentieren mit dem allzu Menschlichen bis hin zum wirklich Bösen.

Ingrid Nolls Bücher wollen einfach "nur" unterhalten. Sie sind in einer Sprache geschrieben, wie sie die meisten Menschen sprechen, die Dialoge der handelnden Personen wirken wie aus dem Alltag gegriffen. Deshalb kommt man aus dem Schmunzeln nicht heraus, zumal die Autorin mit jedem neuen Buch ihre fantastische Fähigkeit zeigt, Geschichten zu erfinden und diese mit nicht für möglich gehaltenen Handlungen auszustatten.

"Kuckuckskind" bietet eine gelungene Themenmixtur
Der Alltag an einem deutschen Gymnasium, vorzugsweise die Interaktionen im Lehrerkollegium, und ein Schulleiter, der sich auf die Höhe der aktuellen Bildungsdiskussion schwingt und seine Lehrer vergeblich mitzureißen versucht, die mit ihrem Alltag genug haben und sich nicht noch mit intellektuellen Themen abrackern wollen, wird beschrieben. Frauen an der Grenze ihrer biologischen Fruchtbarkeit mit und ohne Kinderwunsch, in glücklichen und weniger glücklichen Beziehungen tauchen auf und Kinder, insbesondere ein "Kuckuckskind", von dem bis zum Schluss unklar bleibt, wer es gezeugt hat.

Am Ende von zahlreichen Affären, von denen einige unter das Strafrecht fallen würden, sind zwei Menschen tot, etliche in diese Todesfälle verstrickt, doch ist niemand tatsächlich Schuld. Deshalb leben sie am Ende weiter als wäre nichts geschehen, wahrscheinlich bis zur nächsten Katastrophe, wie sie Menschen anrichten, die einfach nicht erwachsen werden können oder wollen.

Die Geschichte der Lehrerin Anja, geschieden und ziemlich frustriert, die von einem Häuschen in Grünen, einer glücklichen Familie und Kindern träumt, und ihrer Freundin und Kollegin Birgit, die nie Kinder wollte und Jahrzehnte lang glaubte, auch keine bekommen zu können und dann unverhofft schwanger wird, ist eine Geschichte aus gezielten Indiskretionen, die schlussendlich zwei Figuren in den Tod treiben und die anderen zu dem Ziel führen wird, das sie angestrebt haben.

In den Romanen ist dann Schluss, so auch bei Ingrid Nolls "Kuckuckskind"; in der Realität würde eine solche Verstrickung die Seelen der Menschen bis zu ihrem Ende quälen, und keine Beziehung könnte auf dieser Grundlage gedeihen.

(Winfried Stanzick; 07/2008)


Ingrid Noll: "Kuckuckskind"
Diogenes, 2008. 340 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Hörbuch (ungekürzte Lesung):
Sprecherin: Franziska Pigulla.
Diogenes, 2008. 6 CDs; Spieldauer ca. 468 Minuten.
Hörbuch-CDs bei amazon.de bestellen
Taschenbuch:
Diogenes, 2010.
Buch bei amazon.de bestellen