Robert Neumann: "Die Kinder von Wien"
Die
kurze Zeit der Ewigkeit
Das Jahr 1945/46 in Wien. Einige Kinder hausen elternlos in einer
Kellerruine, bis durch Zufall ein Militärpfarrer der
us-amerikanischen Alliierten zu ihnen vordringt und sie aus diesem
"gemütlichen Inferno" retten will.
Mehr als dreißig Jahre nach seinem Tod ist der Prosaist,
politische Publizist, Parodist und
"P.E.N."-Vizepräsident Robert Neumann (1897-1975), der zu
Lebzeiten wohl mehr Feinde als Freunde hatte, weitestgehend unbekannt.
Seine Mischung aus Witz, Spott und Angriffslust, seine "Sprachmaskenvirtuosität"
- wie sie Ulrich Weinzierl in seinem Nachwort bezeichnet - sind leider
in Vergessenheit geraten. Erst in jüngster Zeit beginnt man
sich - vor allem in seinem Heimatland Österreich - wieder an
diesen produktiven Autor zu erinnern und sich mit ihm zu
beschäftigen.
Seine Parodiensammlung "Mit fremden Federn" begeisterte gar Thomas Mann
- obwohl eines der betroffenen "Opfer" in diesem Buch. "Ihr
Buch, das von witzigster Kunst strotzt, wird großen Erfolg
haben oder hat ihn wohl schon", bescheinigte ihm der
"Prophet" und sollte recht behalten. Obwohl das Exil seinen Aufstieg
als Schriftsteller jäh unterbrach und er von vorn beginnen
musste, reüssierte Robert Neumann gleichfalls als
englischsprachiger Autor.
Auch privat war der Sohn eines jüdischen Bankdirektors eine
schillernde Figur. Als Frauenheld verschrieen, (Neumann war viermal
verheiratet), galt er als Intrigant und Querulant.
Auf Englisch erschien 1946 der vorliegende Roman "Die Kinder von Wien"
das erste Mal, ein Hilferuf Robert Neumanns an die internationale
Öffentlichkeit. Vor allem in Großbritannien und den
USA wurde er wahrgenommen.
Lion Feuchtwanger versicherte Neumann, es
sei "das Beste", was er geschrieben habe. "In
seiner schauerlichen und grotesken Bitterkeit erinnert es an Swift oder
häufiger an Grimmelshausen. Ich bin sicher, dass es unter den
Büchern unserer Zeit eines der wenigen ist, von denen man noch
nach uns sprechen wird."
Die deutsche Übersetzung hingegen wurde, wenn
überhaupt registriert, in Grund und Boden verdammt. Eine "Überfülle
an Widerwärtigem" in einer "abwegigen, oft
auch abstoßenden und unappetitlichen Diktion"
wären in diesem "zynischen Kaleidoskop"
versammelt, wetterte 1948 das "Neue Österreich".
Nach der Lektüre eine völlig abstrus anmutende
Äußerung, die keineswegs nachvollzogen werden kann.
Mehrere Auflagen erfuhr das schmale Werk, und erst 1980 wurde es in der
"FAZ" als "ein Stück großer Literatur"
gewürdigt, was es in der Tat auch ist.
Neumann hat in einer ganz eigenen, wohl unvergleichlichen Kunstsprache
aus Jiddisch, Gaunerrotwelsch und us-amerikanischem "Slang"
mit eingesprenkelten italienischen und russischen Wörtern eine
beklemmende, ja auch radikale, krude und verzweifelte Parabel
über die Zerstörung des Menschen durch den Krieg
kreiert. Gerade diese Sprache macht das Buch so eindringlich. "So
haben diese Besprisorni eben gesprochen, diese
übriggebliebenen Kinder, trotzdemnochimmerlebendig aus allen
Lagern, HJ-Schulungslager und DP-Durchgangslager und
Werwolfausbildungslager und KZ's, zueinandergefunden, weil sie allein
waren, zusammen ist es wärmer", berichtet der Autor
im Vorwort.
Fünf Besprisorni - verwahrloste jugendliche Vagabunden - und
das "Kindl" - ein winziges Mädchen mit
Ballonbauch, das den ganzen Tag apathisch in einem Handwagen liegt -
sind die "Helden" in Neumanns Buch. In einem halb eingefallenen Keller
haben sie sich ein neues Zuhause geschaffen: der
dreizehnjährige gerissene Schleichhändler Jid aus dem
KZ, ("klein wie zehn, mit Augen ungeglänzt wie ein
Mann von fünfunddreißig oder fünfundfuffzg"),
der vierzehnjährige Goy aus einem Kinderverschickungslager,
die fünfzehnjährige Gelegenheitsprostituierte Ewa,
ihre Freundin Ate - eine frühere BDM-Führerin, die
aus überzeugter Gesinnung sogar ihre Eltern verraten hat - und
der siebenjährige blondlockige Curls, der "Besitzer" der
Ruine. Zwar ist der Eingang verschüttet, (das Kellerfenster
dient als Einstieg), und die Decke stark baufällig, ihr "Abort
mit Ziehwasser" ist hingegen ein in der Stadt kaum noch zu
findender Luxus.
Alle Sechs überleben mehr schlecht als recht durch
Diebstähle, Hehlerei, Tauschgeschäfte, Prostitution
oder mit Hilfe der Abfälle der Alliierten. Sie müssen
sich gegen vermeintliche Räumungsbefehle und durch die Stadt
schleichende, liebestolle, brutale ehemalige SS-Schergen, für
die sie nichts Anderes als Dreck sind, wehren. Bis eines Tages
zufällig der schwarze Reverend Hosea Washington Smith aus
Louisiana -
Militärpfarrer - in ihr gemütliches Inferno einbricht
und versucht, den Kindern zu helfen, sie gar aus diesem Elend in die
Schweiz zu retten.
Schnell findet man in den sprachlich
gewöhnungsbedürftigen Rhythmus hinein, wird permanent
vorwärts getrieben. Man ist gefangen und fühlt sich
zeitversetzt in die zerstörte "Wüste Europa", sitzt
fassungslos in einer Ecke des Kellers und verfolgt das Geschehen mit
angehaltenem Atem. Konsterniert, ungläubig lauscht man diesen
Kindern, die krank und fast verhungert in dem düsteren Wiener
Kellergewölbe hausen. Ihren Lebensmut haben sie jedoch nicht
verloren, nur ihre Sprache, die ist wie die ganze Stadt, kaputt und
verdorben. "In Neumanns 'Die Kinder von Wien' ist (...) die
moralische Katastrophe einer Epoche Sprache geworden",
schreibt Ulrich Weinzierl.
Derweil legte Robert Neumann nicht unbedingt Wert auf die
Authentizität seines gewählten Ortes. In jeder
anderen Stadt könnte "Die Kinder von Wien" angesiedelt sein.
Kaputt waren sie alle -
"gebombt" - und die hier geschilderten
Kinderschicksale sicher nicht nur eine Romanfiktion des Autors, "...
es kann jeder Keller gewesen sein überall, damals Anno
fünfundvierzig, jenseits vom Meridian der Verzweiflung."
Der Pädagoge Hartmut von Hentig hat dieses Buch als "Gedankenexperiment"
gepriesen, "über Fragen wie: Was ist Schuld? Wie
kommt sie in die Kinder? Ist ihre Lebenskraft nicht die Amoral? Und
wenn das so ist, was ist zu tun?"
Neben einem persönlichen Vorwort von Robert Neumann und einem
36-seitigen biografischen Essay über den Autor von Ulrich
Weinzierl wartet das Buch noch mit 14 Fotografien des
österreichisch-us-amerikanischen Fotografen Ernst Haas
(1921-1986) auf, aufgenommen in den Jahren 1945 bis 1948 in Wien. Diese
geben eindrucksvoll und beklemmend die Stimmung der Nachkriegszeit
wieder: beinamputierte Kriegsheimkehrer, wartende Frauen, magere
Kinder, zerstörte Straßenzüge, Ruinen und
improvisierte Stätten des Überlebens.
Fazit:
Beklemmend, bedrückend, aber immer mit einem Funken Hoffnung
und auch Humor zeichnet Robert Neumann in einer einzigartigen
Kunstsprache ein Bild des Nachkriegs-Wiens in Gestalt sechs verlorener
und vergessener Kinder.
Ein Aufschrei, dass es so etwas nie wieder geben möge!
Sehr empfehlenswert!
(Heike Geilen; 04/2008)
Robert
Neumann: "Die Kinder von Wien"
Eichborn / Die Andere Bibliothek, 2008. 264 Seiten.
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Robert Neumann, geboren 1897 in Wien, gestorben 1975 in München, gehörte mit seinen parodistischen und satirischen Schriften und Romanen zu den produktivsten Schriftstellern in den späten 20er und frühen 30er Jahren in Österreich. Nachdem seine Werke 1933 von den Nazis verboten wurden, emigrierte er 1934 nach Großbritannien. Als einer der wenigen Schriftsteller im Ausland begann Neumann sofort in der englischen Sprache zu schreiben und zu publizieren; er arbeitete für die "BBC", war Lektor (und Teilhaber) ein Verlages, der Autoren wie Heinrich Mann ins Englische übersetzte, wurde 1947 britischer Staatsbürger und lebte seit 1958 in Locarno. In den 1960er Jahren machte sich Neumann auch als Literaturkritiker und politischer Publizist für linksliberale und satirische Zeitungen und Magazine wie "Konkret", "Die Zeit" und "Pardon" einen Namen.