Irène Némirovsky: "Herbstfliegen"
Erzählung
Nostalgisches
Russland
"Sie gingen hin und her, von einer Wand zur andern,
schweigend, so wie
die Herbstfliegen, wenn die Hitze und das Licht des Sommers
vorüber sind, mühsam,
matt und gereizt über die Fensterscheiben kriechen, ihre toten
Flügel
nachziehend." Gemeint ist eine adlige, ehemals wohlhabende
russische
Emigrantenfamilie, die 1918 durch den bolschewistischen Mob von ihrem
großzügigen
Landsitz und letztendlich aus ihrer Heimat vertrieben wurde und in
Paris eine
neue, wenn auch äußerst bescheidene Bleibe gefunden
hat. Mit ihnen kommt ihr
altes Kindermädchen. Doch in der Fremde findet sich die alte
Frau nicht mehr
zurecht. Ihr fehlt der russische Winter und vor allem der Schnee.
Ein leises, melancholisches Werk der französisch-russischen
Autorin Irène Némirowky,
deren Name der Rezensentin bis dato nicht bekannt war. Die 1903 als
Tochter
eines reichen russischen Bankiers in Kiew geborene Autorin floh mit
ihrer
Familie gleichfalls vor der Oktoberrevolution nach Paris, heiratete
dort einen
wohlhabenden Weißrussen und bekam zwei Töchter. Mit
ihrem ersten Roman
"David Golder" wurde sie schlagartig berühmt und zum Star der
Pariser
Literaturszene. 1942 starb sie im Konzentrationslager Auschwitz.
Hinterlassen hat Irène Némirowky ein kleines
Oeuvre (u. a. "Der
Ball", "Der Fall Kurilow", "Die Hunde und Wölfe" sowie
ihr viel beachtetes "Suite française"), das nach sechzig
Jahren
wieder neu entdeckt wird. "Herbstfliegen", ein schmales
Büchlein,
welches die Autorin 1931 schrieb, hat - wie schon ihre vorangegangen
Werke - die
Sehnsucht nach der alten Heimat zum Inhalt und ermöglicht
wunderbar, sich der
Autorin und ihrem feinen, zarten und melancholischen Schreibstil zu
nähern. Auf
nur knapp 100 Seiten umreißt sie die russische Revolution,
Angst, Tod, die
Flucht über Odessa, Konstantinopel, Marseille, nach Paris, wo
man ein neues
Leben aufbauen muss.
Melancholie entwurzelter und wandernder Seelen
Die historischen Daten und ihre dramatischen Verwicklungen bilden dabei
nur den
Hintergrund eines Einzelschicksals, das der Tatjana Iwanowna, des
siebzigjährigen
Kindermädchens und der ehemaligen Amme der Familie Karin. Sie
folgt ihren Herrn
auf deren Flucht in grenzenloser Treue. Obwohl es keiner von ihr
erwartet hat,
begräbt sie zuvor die Toten und verhilft mit dem im Saum ihres
Kleides eingenähten
Schmuck der Hausherrin, der Familie in der Fremde zu
überleben. Beklemmend
zeigt die Autorin in dieser Symbolhaftigkeit nicht nur die Spaltung der
Generationen, sondern setzt den Verbannten ein würdiges
Denkmal: der Geist der
alten Tatjana überlebt die Flucht, das alte Russland jedoch
nicht.
Letztendlich machen die Russen in Paris ihr Leben. Tatjana jedoch
bleibt in
ihren alten, anachronistischen Erinnerungen gefangen. Sie kommt mit der
neuen
Welt nicht zurecht. "Soll ich die Koffer der Kinder wieder
auspacken?
Wann reisen wir wieder ab? (...) Wie konnten all diese Leute nur in
diesen
schwarzen Häusern eingesperrt leben? Wann würde der
erste Schnee kommen? (...)
Diese niedrigen Decken erstickten sie."
Durch die ungezwungene Leichtigkeit, mit der Irène
Némirowky ihre Figuren
zeichnet und die mit großer Sensibilität
wiedergegebenen Gefühle der alten
Dame - sicherlich bereichert durch ihre eigenen Erfahrungen
während der Flucht
und des Exils ihrer Familie - fängt die Autorin die
Melancholie der
entwurzelten und wandernden Seelen ihren Protagonisten im Gegensatz zu
ihrer
nach außen getragenen unbekümmerten Existenz auf
wundervolle und schmerzliche
Weise ein. Letztendlich lässt sie ihre Geschichte in einem
sublimen und
dramatischen Geheimnis ausklingen.
Fazit:
"Herbstfliegen" zeichnet auf wenigen, aber umso intensiveren Seiten
das Leben getriebener Menschen und ihr Ankommen in der
desillusionierten Fremde,
die ihnen nie zur Heimat werden wird, nach.
Ein wundervoll zartbesaitetes Büchlein einer Autorin, die viel
zu schnell
vergessen wurde, in einer authentischen, den Klang Irène
Némirovskys
vortrefflich aufgreifenden Übersetzung von Eva Moldenhauer.
(Heike Geilen; 09/2008)
Irène
Némirovsky: "Herbstfliegen"
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
Manesse, 2008. 96 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Irène
Némirovsky (1903-1942),
in Kiew geboren, kam
während der Oktoberrevolution nach Paris.
Dort studierte
sie französische Literatur an der Sorbonne. Sie heiratete den
weißrussischen
Bankier Michel Epstein, bekam zwei Töchter und
veröffentlichte ihren Roman
"David Golder", der sie schlagartig berühmt machte.
Während des
Zweiten Weltkriegs floh sie mit ihrer Familie in die Provinz, als
Jüdin erhielt
sie Veröffentlichungsverbot. In dieser Zeit arbeitete sie an
einem großen
Roman über die Okkupation. Am 13. Juli 1942 wurde sie
verhaftet und starb
wenige Wochen später in Auschwitz. 2005 entzifferte
Némirovskys Tochter Denise
Epstein das Manuskript, das als "Suite française"
veröffentlicht und
zur literarischen Sensation wurde.
Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):
"Suite française"
Sommer 1940: Die deutsche Armee steht vor Paris. Voller Panik packen die Menschen ihre letzten Habseligkeiten zusammen und fliehen. Angesichts der existenziellen Bedrohung zeigen sie ihren wahren Charakter ...
Der wiederentdeckte Roman "Suite française" von Irène Némirovsky wurde 2005 zur literarischen Sensation. Über 60 Jahre lag das Vermächtnis der französischen Autorin Jahre unerkannt in einem Koffer - bis der Zufall dieses eindrucksvolle Sittengemälde aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs ans Licht brachte. (btb)
Buch bei amazon.de bestellen
Vera Lourié: "Briefe an Dich. Erinnerungen an das russische Berlin"
Herausgegeben von Doris Liebermann.
"Briefe an Dich" sind die Erinnerungen der letzten Zeitzeugin des "russischen Berlins" der zwanziger Jahre. In einer Mischung aus Tagebuch und Briefen schildert Vera Lourié ihre Kindheit und Jugend in St. Petersburg, wo sie behütet aufwuchs und sich als junge Frau der Schauspiel- und Dichtkunst zuwandte. Sie erzählt von der dramatischen Flucht der Familie nach der Oktoberrevolution ebenso anschaulich wie von den russischen Kreisen in Berlin. Hier verkehrte sie in einer Bohème aus Künstlern und Literaten, erlebte Intrigen und Liebesaffären.
Die Zeit des Nationalsozialismus überlebte sie trotz Kontakten zum deutschen Widerstand, der Festnahme durch die Gestapo und der Inhaftierung ihrer Mutter im
KZ Theresienstadt. Ihre beherzte Geistesgegenwart kam ihr auch zugute, als die sowjetische Armee einmarschierte, die den bürgerlichen russischen Flüchtlingen feindlich gesonnen war. Sie überstand Not und Hunger der Nachkriegszeit und war dann lange vergessen, bis sie als Literatin und Zeitzeugin wiederentdeckt wurde und sich im hohen Alter noch einmal verliebte. Dies beflügelte sie zur Niederschrift ihrer Memoiren, die hier, um autobiografische Texte, Dokumente und Fotos aus dem Nachlass ergänzt, erstmals vollständig veröffentlicht werden. (Schöffling & Co.)
Buch bei amazon.de bestellen
"Die Hunde und die Wölfe"
Als sich Ada und Harry das erste Mal begegnen, fürchtet sich
der behütete Sohn
einer reichen jüdischen Familie in der Ukraine vor der armen
Kusine. Doch Ada
weiß vom ersten Augenblick an, dass sie ihn nie vergessen
wird. Jahre vergehen.
Die junge Ada ist Malerin geworden und mit ihrer Tante Rhaissa, der
schönen
Kusine Lilla und dem umtriebigen Vetter Ben
in Paris gelandet.
Mühsam sucht
jeder seinen Platz in der Fremde. Eines Tages erfährt Ada,
dass auch Harry in
der französischen Metropole lebt und in das
Großbürgertum eingeheiratet hat.
Sie erkennt, dass er nicht glücklich ist, dass aber in seinem
Leben noch immer
kein Platz für sie ist. Erst als Harry in einer Buchhandlung
zwei Gemälde von
Ada entdeckt, sind die Erinnerungen wieder da. Ein heißes
Begehren für diese
wilde, innerlich bedingungslose Frau flammt auf. Beide spüren,
dass sie füreinander
bestimmt sind. Harry wird Adas Geliebter und will sich von seiner Frau
trennen.
Doch Bens waghalsige Geschäfte bringen ihn in höchste
Gefahr. Und Ada muss
eine furchtbare Entscheidung treffen. (Knaus)
Buch
bei amazon.de bestellen
"Jesabel"
Paris, in den 1930er-Jahren: Gladys Eysenach ist eine schöne
Frau und seit
ihrer Kindheit von einem einzigen Wunsch besessen: ihr Leben lang von
allen Männern
bewundert und begehrt zu werden. Für die ewige Jugend und
Schönheit ist ihr
kein Preis zu hoch. Nicht einmal das Leben ihrer Tochter. (btb)
Buch
bei amazon.de bestellen