Boris Voigt: "Memoria, Macht, Musik"
Dissertation, Geisteswissenschaft
Nur
für Leser mit langem Atem
Aus der Danksagung des Autors: "Diese Arbeit wurde im Jahr
2006 vom
Department Kulturgeschichte und Kulturkunde der Universität
Hamburg als
Dissertation zur Erlangung der Würde des Doktors der
Philosophie angenommen. Für
den Druck wurde der Text gründlich überarbeitet und
gestrafft."
Ich bin verständlicherweise zunächst von der
Voraussetzung ausgegangen, dass
es sich bei "Memoria, Macht, Musik" in erster Linie um ein Musikbuch
handelt. Der Titel und nicht zuletzt die Tatsache, dass das Buch im
Bärenreiter
Verlag erschienen ist, legen diese Vermutung ja auch nahe. Dazu passt
ebenfalls,
dass es als Band 16 in der Reihe "Musiksoziologie" integriert ist.
Doch der Schwerpunkt dieser Dissertation liegt mehr auf der
Soziologie,
weniger
auf der Musik. Dies ist übrigens nur der erste von zwei
geplanten Bänden zu
einer "Politischen Ökonomie der Musik", der sich mit der Zeit
von der
griechischen Antike bis zu den Anfängen der
europäischen Neuzeit beschäftigt.
Die Behandlung der Zeitspanne vom Beginn der Neuzeit bis zur Gegenwart
soll dann
dem zweiten Band vorbehalten bleiben, der demnächst ebenfalls
in der Reihe
erscheinen soll.
"Memoria, Macht, Musik" gliedert sich in zwei Hauptteile, die von
einer Einleitung und einem Epilog eingerahmt werden. Im ersten Teil
"Theoretische
Grundlagen" gibt der Autor einen sehr ausführlichen und
weitreichenden Überblick
über die verschiedenen Definitionen der Begriffe "Herrschaft"
und
"Macht". Theorien und Gedanken von
Max Weber,
Hannah
Arendt, Niklas
Luhmann, den griechischen Philosophen und Anderen bis hin
zu
Machiavelli werden
dem Leser vorgestellt und nahegebracht. Boris Voigt holt also weit aus,
bevor er
direkt auf sein eigenes Thema zu sprechen kommt. Für meine
Begriffe hätte der
Text für die Buchausgabe noch wesentlich mehr gestrafft werden
können, vor
allem bei den "Theoretischen Grundlagen". Des Weiteren werden in
diesem ersten Hauptteil die unterschiedlichen Formen des Tausches
definiert.
Aber auch hier holt der Autor mir wieder zu weit aus (zumindest
für ein Buch,
das nicht nur Fachwissenschaftler ansprechen will) und geht dabei zu
sehr ins
Detail, wenn er beispielsweise seitenlang über die drei Typen
reziproker
Tauschbeziehungen doziert. Auch wenn das reziproke Tauschverhalten eine
wichtige
Grundlage von Stiftungswesen und Mäzenatentum darstellen mag.
Und hier sind wir beim eigentlichen Thema des Buches, bei dem, was man
heute
allgemein als Sponsoring, Patronage und
Mäzenatentum bezeichnet, die
Rolle der Musik im Spannungsfeld von Macht, symbolischer Macht und
Wirtschaft.
Dieser zweite Hauptteil gliedert sich wiederum in drei
größere Abschnitte. Zunächst
werden die Verhältnisse in der griechischen Antike beleuchtet.
Der Autor
verschafft uns einen Einblick in das öffentliche Leben,
besonders ins
Musikleben der griechischen Polis. Wir erfahren vom Zweck und vom Wesen
der (Musik-)Stiftungen
im alten Athen. Vom Verhältnis zwischen Wirtschaft und Musik
im römischen
Reich allerdings erfährt man überhaupt nichts. Es
folgt dann der zweite
Abschnitt von Teil 2: Musik und Tausch im Mittelalter. Dieser Abschnitt
nimmt
den mit Abstand breitesten Raum ein. Hauptaugenmerk legt der Autor hier
auf die
"Memoria", damit ist das Totengedächtnis, das Gedenken der
Toten
gemeint, das im Mittelalter eine wichtige Rolle spielte. Die "Memoria"
schuf eine Beziehung zwischen Lebenden und Verstorbenen, die zur
damaligen Zeit
als eine tatsächlich weiterbestehende soziale Beziehung
angesehen wurde. Am
Beispiel der Städte Lübeck und Lüneburg
folgt eine ausführliche Darstellung
nicht nur der mittelalterlichen Stiftungspraxis, sondern des
allgemeinen Lebens
in diesen Städten überhaupt. Im Vordergrund steht
aber mehr die allgemeine
politische Ökonomie, von der Musik ist eher seltener die Rede.
Der Leser erfährt
mehr über Kaufleute, über Kleriker und Kirchenleute,
über Heilige und ihre
Reliquien als über die Musiker dieser beiden norddeutschen
Städte, mehr über
die Sülfmeister der Lüneburger Salinen als
über die dort ansässigen
mittelalterlichen Spielleute. Kirche und Musik waren natürlich
im Mittelalter
aufs Engste miteinander verbunden.
Mit dem Aufkommen der Territorialstaaten zum Ende des Mittelalters aber
schwanden zusehends Macht und Einfluss der Kirche, und die
Musikausübung
verlagerte sich an die Höfe. Davon handelt der dritte und
letzte Abschnitt von
Teil zwei. Die Gedankenwelt der Renaissance-Theoretiker sowie
Martin
Luthers
Reformation und sein Verhältnis zur Musik sind die Hauptthemen
dieses dritten
Abschnitts. Dazu liefert uns Boris Voigt noch ein kurzes
Porträt der
Kaufmannsfamilie der Fugger, die die Musik unter anderem als ein Medium
pflegten, um sich von simplen Kaufleuten zu Aristokraten mausern zu
können.
Voigt zeigt auf, wie die Fugger nicht zuletzt auch durch die Musik ihre
symbolische Macht erweitern und festigen konnten.
Die Überschrift des Epilogs "Irrfahrt der Toten" nimmt Bezug
auf den
Ausschluss der Toten aus der sozialen Wirklichkeit, wie er zum
Übergang zur
Moderne vollzogen wurde, worauf der Autor in seinem Epilog noch einmal
zu
sprechen kommt. Boris Voigt hat mit seinem Buch sicherlich eine
anerkennenswerte, akribische Arbeit geleistet, geeignet, eine breitere
Leserschicht anzusprechen, erscheint es mir allerdings nicht, aber das
lag auch
wohl kaum in der Intention des Autors. Auch für den
Rezensenten war sein Buch
zwar nicht uninteressant, stellenweise aber doch recht langatmig zu
lesen.
(Werner Fletcher; 07/2008)
Boris
Voigt: "Memoria, Macht, Musik"
Bärenreiter Verlag, 2008. 456 Seiten.
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