Hans Stilett: "Von der Lust, auf dieser Erde zu leben"
Wanderungen durch Montaignes Welten
Im
Genuss der Lebensfreuden
Michel de Montaigne und die (Wieder-)Entdeckung der conditio humana
Was gibt es nicht alles an Lebensfreuden, die ein kluger Mensch zu
genießen weiß.
Sind es geistige Genüsse? Sinnliche? Oder beides?
Michel de Montaigne,
1533-1592, Renaissance-Mensch und Humanist, Bürgermeister von
Bordeaux sowie
Schriftsteller und Philosoph, hat darüber eines der
großen Werke der
Weltliteratur geschrieben. Zurückgezogen im Turm des Schlosses
Montaigne schuf
er mit den "Essais" ein Werk, das nicht nur die Jahrhunderte
überdauerte,
sondern auch heute noch fasziniert. Mit seinen Betrachtungen und
Überlegungen,
die auf subjektiven Empfindungen und Erfahrungen, auf Selbstreflexion
und
unorthodoxem Denken basieren und eine breite Palette von Themen
behandeln, gilt
er als Begründer der modernen Essayistik als
eigenständige Literaturgattung.
In der intellektuellen Zwiesprache mit sich selbst entdeckt er die "humaine
condition", "denn jeder Mensch trägt die
ganze Gestalt des
Menschseins in sich." Daher, so seine Schlussfolgerung, sei
es "höchste,
fast göttergleiche Vollendung, wenn man das eigene Sein auf
rechte Weise zu
genießen weiß."
Aber wie in den Kosmos eines humanistischen Freidenkers des
16. Jahrhunderts
eintauchen?
Vor zehn Jahren legte Hans Stilett eine preisgekrönte
Übersetzung der "Essais"
vor. Gefeiert als "Montaignes vollständige
Wiedergeburt in deutscher
Sprache" wurde das Buch aus der französischen
Renaissance zum deutschsprachigen
Verkaufserfolg. Einige Jahre später folgte die
Übersetzung des Reisetagebuchs.
Jetzt erschien mit dem erläuternden Essayband "Von der Lust,
auf dieser
Erde zu leben" ein Kommentar dazu, der aber gleichzeitig ein
selbstständiges
Werk ist, das durch Montaignes literarische Welt führt, sie
vorstellt und erklärt.
Mit Hilfe von "Leitfäden", wie Stilett sie
nennt, oder
thematischen Schwerpunkten werden Montaignes Gedankenwelten
strukturiert und so
leichter zugänglich gemacht. Darüber hinaus bietet
Stilett auch Einblicke in
seine "Übersetzerwerkstatt", die seine Arbeitsweise nicht nur
transparent macht, sondern die Schwierigkeiten dem Leser nicht nur
interessant,
sondern oft genug auf amüsante Weise veranschaulicht.
Auf Montaignes "Lebendigkeit lebendig einzugehen"
lautet das
Motto von Stiletts "Kommentarband anderer Art".
Anschaulich lässt
er Montaigne seine Lebens- und Arbeitsbedingungen reflektieren, seinen
Zugang
zur Religion, seine Ideen zum Sein des Menschen und der Tiere, seine
Vorstellungen von Pädagogik. Was die Lebensgenüsse
betrifft, so kommen natürlich
die Freuden des Essens und Trinkens genauso zu Wort wie Liebe,
Freundschaft und
körperliche Freuden. Seiner Erdverbundenheit
gemäß zu leben und seine eigenen
Körpererfahrungen ins Zentrum zu stellen, macht ihn zu einem
eigenwilligen
Denker. Krankheiten nach Art der Ärzte kurieren, d.h. mit
bitterer Medizin und
schmerzhaften Heilmethoden? Nein, er liebe es nicht, "Übel
mit Übel zu
kurieren. Ich hasse Heilmittel, die beschwerlicher als die Krankheit
sind."
Unerwähnt bleibt allerdings, dass er damit sein Nierenleiden
auch nicht in den
Griff bekommt.
"Ich liebe das Leben und hege und pflege es so, wie Gott es
uns zu geben
gefallen hat", heißt es in den "Essais". Montaigne
war kein
einsamer Denker, der in seinem Schlossturm sich und die Welt in
Nabelbeschau
theoretisch erklärte, wie eines der gängigsten
Klischees suggeriert. Ganz im
Gegenteil. Stilett erinnert daran, dass Montaigne sich selbst
als
Reisenden und sein Denken durch Bewegung, geistiger und
körperlicher Natur,
geformt sieht. "Mein Geist rührt sich nicht, wenn
die Beine ihn nicht
bewegen", befindet er und nutzt vorzugsweise das Pferd als
Fortbewegungsmittel. Mit dem "Hintern im Sattel"
überprüft er
die Welthaltigkeit seiner im Turm unternommenen Gedankengänge,
indem er Land
und Leute erkundet. Und zwar schauend, denkend, schreibend. Gerade
sein
Reisetagebuch über Italien, Schweiz und Deutschland
unterstreicht sein in
den "Essais"
dargestelltes offenes Denken durch sein Eintauchen in
fremde Alltagswelten, wobei er die Landschaft, die er durchreist, als
Bühnenraum
für menschliches Werken und Wirken wahrnimmt und wiedergibt
und in dem die
Sprache unser Menschsein ausmacht und zur Gemeinschaft
befähigt. Somit
erscheint ihm als die "fruchtbarste und natürlichste
Übung unseres
Geistes" Gespräch und Diskussion. "Sich
ihnen zu widmen finde
ich angenehmer als jede andere Beschäftigung im Leben."
Zudem seiner
Meinung nach die Wechselrede die "Wiege der Wahrheit"
ist.
Wobei Witz und Ironie nicht zu kurz kommen sollen, denn nach Montaigne
besteht
das Besondere unseres Menschseins eben darin, dass wir zugleich des
Lachens fähige
und lächerliche Menschen sind.
Um die Montaigne'sche Lebensfreude nicht ins Unverbindliche abgleiten
zu lassen,
fasst Stilett im Schlusskapitel noch einmal alle einzelnen Punkte
zusammen, aus
denen dessen vorbehaltloses Ja zum Leben konkret besteht. Da gibt es
das Ja zur
Liebe,
zu Freundschaft
und Geselligkeit, zum Reisen, zum
Essen und
Trinken,
ein
Ja zum maßvollen Genuss von Mode und Luxus, zum klugen Umgang
mit Geld,
vor
allem aber ein Ja zur eigenen Erfahrung. Und auch ein Ja zu
Krankheit
und zu
einer gelassenen Haltung gegenüber dem
Tod.
Daraus besteht die
Kunst, das Leben
zu lieben, und wir, die wir fast 500 Jahre später leben,
können es kaum anders
machen.
Es ist ein Vergnügen, in diesem vom Eichborn Verlag sehr
ansprechend
gestalteten Buch zu stöbern, einmal hier, dann wieder dort
hängenzubleiben und
sich durch Montaignes Welt führen zu lassen. Der Spaziergang
mit Montaigne, dem
Lebensphilosophen aus dem 16. Jahrhundert, ist so vergnüglich
wie inspirierend,
und wenn es auch nur die unweigerliche Erkenntnis ist, dass, sieht man
einmal
vom technischen Fortschritt ab, die conditio humana damals nicht viel
anders
beschaffen war als in der Gegenwart. Und das wiederum fördert
den Lesegenuss
ungemein.
Friedrich
Nietzsche hat es treffend formuliert: "Dass
ein
solcher Mensch wie Montaigne geschrieben hat, dadurch ist die Lust, auf
dieser
Erde zu leben vermehrt worden. Mit ihm würde ich es halten,
wenn die Aufgabe
gestellt wäre, es sich auf der Erde heimisch zu machen."
Und das gilt
auch im 21. Jahrhundert.
(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 10/2008)
Hans
Stilett: "Von der Lust, auf dieser
Erde zu leben. Wanderungen durch Montaignes Welten"
Eichborn Berlin, 2008. 272 Seiten.
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Lektüreempfehlungen:
Michel de Montaigne: "Die Kunst, sich im Gespräch zu
verständigen"
"Kein Hirngespinst ist so windig und so verstiegen, als dass
ich es
nicht als Ausbund des
menschlichen
Geistes für bedenkenswert
hielte."
Michel de Montaigne
Montaignes Essai "Die Kunst, sich im Gespräch zu
verständigen" ("De
l’art de conferer") ist Ausdruck seiner Skepsis gegen
Dogmatismus und
Fundamentalismus. Es geht im Gespräch nicht um Rechthaberei,
missionarischen
Anspruch und possessive Belehrung, sondern um Verständigung,
auch wenn man
anderer Meinung bleibt. Die neue Übersetzung von Helmut
Knufmann vermittelt gut
Montaignes heitere Gelöstheit, die uns heute noch anspricht.
(C.H. Beck)
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Michel
de Montaigne: "Über
die Freundschaft"
(Insel)
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