John Milton: "Das verlorene Paradies"
Die Faszination Satans
"Ich behaupte nicht, dass Freude sich mit Schönheit nicht paaren könne;
aber ich möchte sagen, Freude sei eine der vulgärsten Beigaben der Schönheit,
während Schwermut sozusagen ihre edle Begleiterin ist, und zwar so weit, dass
ich keinen Typus des Schönen anerkenne, der nicht mit Unglück behaftet ist. Da
ich von diesen Ideen bewegt - man könnte auch sagen: besessen bin, wird man mir
zugestehen, dass es mir schwer fallen würde, auf den Schluss zu verzichten,
dass der vollkommenste männliche Schönheitstypus der Miltonsche Satan ist."
So äußerte sich Charles Baudelaire in seinen Tagebüchern über den Satan aus
John Miltons "Verlorenem Paradies". Und Baudelaires Landsmann
Chateaubriand bezeichnete Miltons Satan als "eine der erhabensten und
erschütterndsten Konzeptionen, welche der Fantasie eines Dichters jemals
entsprungen sind."
Miltons Satan verfügt in der Tat über etwas Erhabenes, über eine majestätische
und gleichzeitig auch über eine rebellische Komponente. Und gerade seine majestätische
Schönheit ist es, in welcher seine verführerische Kraft letztendlich
begründet liegt. Gustave Doré hat diesem Umstand in seinen beeindruckenden
Illustrationen hervorragend Rechnung getragen. Nichts findet sich darin von den
monströsen Teufelsfratzen des Mittelalters, nichts erinnert an die teuflischen
Ausgeburten eines Hieronymus Bosch. Dorés Satan trägt, wie seine literarische
Vorgabe, die Züge eines edlen, aufsässigen, unbeugsamen Wilden. "Lieber
in der Hölle herrschen, als im Himmel dienen", äußert Miltons Satan
an einer Stelle. So wurde er quasi zum Ahnherrn von
Schillers Räuber Karl Moor
und anderen edlen Banditen oder gefallenen Engeln. Auch Ann Radcliffes ebenso
geheimnisvoller wie teuflischer Mönch Schedoni kann gewissermaßen als Enkel
von Miltons Satan betrachtet werden. Ganz unstreitig handelt es sich bei dem
Satan um die ausdrucksstärkste und überzeugendste Figur in John Miltons "Verlorenem
Paradies". Shelley formulierte es am drastischsten: "Nichts vermag
die Kraft und Herrlichkeit von Satans Charakter zu übertreffen, wie er im
Verlorenen Paradies dargestellt ist."
War der im Puritanismus verwurzelte Milton somit - wenn auch vielleicht nur
unbewusst - ein Parteigänger des Bösen? Findet in seinem "Verlorenen
Paradies" eine Umwertung der Werte statt, wie es von der literarischen
Forschung bisweilen behauptet wurde? Milton hat seine persönliche Auffassung
der protestantischen Theologie in seinem Werk "De Doctrina Christiana"
ausführlich dargelegt. Und dieser Text lässt nicht unbedingt auf eine
Umwertung der Werte schließen. Die Bibel genießt für John Milton höchste
Autorität, aber er fordert die Leser immerhin dazu auf, die Heilige Schrift im
Lichte ihrer eigenen Anschauungen zu studieren und auszulegen. Die Willens- und
Entscheidungsfreiheit des Menschen ist überhaupt ein Thema, das vom Dichter in
seinem "Verlorenen Paradies" immer wieder aufgegriffen wird.
Doch ist es nicht allein seinem Satan anzurechnen, dass John Miltons "Verlorenem
Paradies" allgemein der Status eines epochalen Meisterwerkes zuerkannt
wird, das in seiner Großartigkeit und Tragweite nur mit
Dantes
"Göttlicher Komödie" oder
Goethes "Faust" vergleichbar
scheint. Zum Einen gilt John Milton als einer der originärsten Sprachkünstler
der Weltliteratur, er verfügte über eine individuelle Behandlung der Sprache,
die eine Übertragung in andere Sprachen von vornherein problematisch erscheinen
lässt, was aber keineswegs den Wert dieser von Adolf Böttger geleisteten Übertragung
ins Deutsche in Abrede stellen soll. Als Schauplatz seiner Dichtung wählte
Milton keinen bescheideneren Ort als das Universum, als Protagonisten keine
Geringeren als Gottes Sohn, den Satan, die symbolisierten Urahnen der Menschheit
Adam und Eva
sowie die Schar der Engel. Um das Werk in seiner ganzen Tiefe aufnehmen zu können,
wird ein einmaliges Lesen kaum ausreichen. Beim "Verlorenen Paradies"
handelt es sich um ein Werk, das in unbewusster Tiefe wurzelt, das einen alten
Menschheitsmythos, den vielleicht grundlegendsten Mythos abendländischer Kultur
überhaupt, Gestalt annehmen lässt.
Die ungewöhnliche Länge dieser epischen Dichtung bringt es zwangsläufig mit
sich, dass der Leser Gefahr läuft, recht bald zu ermüden. Und es ist in der
Tat ein anstrengendes Lesen. Wer allerdings eine solche geistige Anstrengung
nicht scheut, der wird reichlich dafür entschädigt werden. Der eine oder
andere Leser mag zunächst durch die verwirrende Fülle an Einzelheiten überwältigt
werden, die sich da vor ihm aufbaut und ihm den Blick auf das Ganze versperrt.
Das Erfassen des Textes als ein einheitliches Ganzes wird sich erst allmählich
einstellen. Es ist, als sondere das Werk ein geistiges, sinnliches Sediment ab,
das so nach und nach, von Gesang zu Gesang, spürbarer und schwerer wird und den
Leser die Kraft und Bedeutungsschwere dieses Werkes immer deutlicher fühlen lässt.
Ein Lob ist auch dem Marixverlag zu zollen, der seinen Lesern einmal mehr ein
kaum zu übertreffendes Preis-Leistungsverhältnis bietet. Bei nur ungefähr
zehn Euro für diese reich illustrierte und mit einem Vorwort von Katharina
Maier versehene Ausgabe eines echten "Klassikers" heißt es, nicht
lange zu zögern und zuzugreifen. Wer also noch nicht im Besitz eines "Verlorenen
Paradieses" ist, sollte sich diese günstige Gelegenheit nicht entgehen
lassen.
(Werner Fletcher; 10/2008)
John Milton: "Das verlorene Paradies"
(Originaltitel "Paradise Lost")
In der Übersetzung von Adolf Böttger.
Mit dem Bilderzyklus von Gustave Doré. Mit einer Einführung von Katharina Maier.
Marixverlag, 2008. 480 Seiten.
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John Milton (1608-1674)
war nach seinem Studium in Cambridge zunächst in Italien und
danach für kurze Zeit als Privatlehrer in London tätig. Er
kämpfte auf Seiten von Oliver Cromwell gegen die Royalisten und
unterstützte die Puritaner mit politischen Schriften. Nach
Wiederherstellung des Königtums wurden seine Bücher
öffentlich verbrannt, und er selbst musste für kurze Zeit ins
Gefängnis. Seine bedeutendsten Werke erschienen erst nach 1660.
Völlig erblindet, verarmt und vereinsamt, diktierte er das
größte englische religiöse Epos "Das verlorene
Paradies".
Weitere Buchtipps:
John Milton: "Das verlorene Paradies"
Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Hans Heinrich Meier. Mit
zwölf Illustrationen von William Blake.
Milton fasste schon früh den Plan, eine herrliche, ruhmreiche Dichtung zu
schaffen. Dem Geist seiner Zeit entsprechend konnte dies nur ein Epos sein, und
so trug er sich zunächst mit dem Gedanken eines britischen Nationalepos über
König Arthur - erst später sollte daraus das große christliche Epos über die
Vertreibung aus dem Paradies werden. 1667 erschien "Paradise Lost",
1674 in zweiter, endgültiger Auflage in zwölf Gesänge eingeteilt. (Reclam)
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William Blake: "Eine
Insel im Mond"
Mit der Logik der Überraschung und des Witzes erzählt William Blake in diesem
erstmals auf deutsch erscheinenden Text vom Leben auf einer Insel im
Mond. Er
schildert eine Schar von Narren, die in ihren Unterhaltungen philosophische
Diskurse persiflieren.
In ihrer Kompromisslosigkeit ist diese Schrift aber auch ein
radikal moderner Text.
In dem kaum bekannten Frühwerk führt Blake Themen, die er später in seinen
prophetischen Dichtungen wieder aufgegriffen hat, ein. In Form und Stil erneuert
er die Satire der griechischen Antike. Die eingestreuten Gedichte beeindrucken
durch die Vielfalt der Stimmungen und Formen. Und schließlich rührt der Text
auch an das Geheimnis der eigentümlichen Drucktechnik, mit der Blake seine
heute weltberühmten Grafiken vervielfältigt hat.
Die famose Schrift ist ein Fragment und nur im Manuskript überliefert. Sie ist
ein literarischer Scherz, der einen neuen Blick auf diesen Künstler eröffnet
und deutlich macht, dass Blake selbst unserer Zeit noch voraus ist.
Der Maler, Dichter und Visionär William Blake war ein exzentrischer
Einzelgänger und verschreckte die Zeitgenossen durch die Radikalität seiner
Ansichten zu Religion, Gesellschaft und Sexualität. Seine Gedichte und Versepen
beeinflussten und inspirierten unter Anderem
T.S.
Eliot, Allen Ginsberg, Jim Morrison und Jim Jarmusch. (Matthes & Seitz)
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William Blake: "Zwischen
Feuer und Feuer. Poetische Werke. Zweisprachige Ausgabe"
Eine Neuauflage der in deutscher Sprache bislang umfangreichsten
Werkausgabe William Blakes im Parallelsatz mit den englischen Originaltexten.
William Blake, geboren am 28. November 1757 in London, absolvierte eine Lehre
als Kupferstecher und studierte an der Royal Academy of Art. Zeitlebens
sah er Bild und Text
als Einheit, erfand eine neue Graviertechnik für seine Werke und verdiente sich
mit Illustrationen seinen Lebensunterhalt. Ab 1782 glückliche Ehe mit Catherine
Boucher. Um 1810 weitgehender Rückzug aus der Literatur zugunsten der Malerei.
Blake starb am 12. August 1827 in London. (dtv)
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Herbert Vorgrimler: "Geschichte
des Paradieses und des Himmels. Mit einem Exkurs über die Utopie"
Gegenüber der Hölle als jenseitigem von Angst- und Rachefantasien genährten
Straf- und Vergeltungsort scheinen Himmel und
Paradies vergleichsweise
langweilig. Gerade in der theopolitischen Konstellation unserer Tage hat sich
aber erwiesen, wie stark paradiesische Vorstellungen, himmlische Versprechungen
und utopische Versuchungen das - oft blutige - Handeln von Menschen
beeinflussen. Schon das wäre Grund genug, die Geschichte der Paradies- und
Himmelsvorstellungen und -lehren in allen drei monotheistischen Religionen
nachzuzeichnen.
Der bedeutende Rahnerschüler, Theologe und Religionshistoriker Herbert
Vorgrimler geht aber noch einen Schritt weiter. Nicht nur rekonstruiert er die
Geschichte des Paradieses und des Himmels genau aus ihren religiösen,
dogmatischen, literarischen und kulturhistorischen Quellen, er zeigt auch,
welche Hoffnungen und Ängste sie in den verschiedenen Kulturen binden und warum
alle Versuche der "Eroberung des Himmels" doch immer zu dessen
Gegenteil führen. (Wilhelm Fink Verlag)
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René Girard: "Ich sah
den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des
Christentums"
René Girards Buch verteidigt das Christentum als programmatische Überwindung
der Gewalt. Der Zentralbegriff aus Girards anthropologischer Theorie der Gewalt
ist Mimesis, Nachahmung. Im Fall der Gewaltnachahmung droht eine Eskalation, in
der für Girard das Wesen Satans besteht: der Zerfall der Gesellschaft, der
Krieg aller gegen alle. Girards Buch zielt auf eine Radikalisierung des
christlichen Glaubens, die von den Evangelien selbst vorgedacht wurde. Satan ist
die Verkörperung des mimetischen Begehrens, kein verzichtbarer mythologischer
Rest. (Verlag der Weltreligionen)
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Dietrich Jäger: "Erzählte
Räume. Studien zur Phänomenologie der epischen Geschehensumwelt"
Das Buch unterscheidet sich von vergleichbaren Untersuchungen
vor allem dadurch, dass es sich nicht mit abstrakten und theoretischen Gebilden
wie dem sogenannten sozialen, moralischen oder juristischen ''Raum'' befasst
oder mit dem des Mittelalters oder dem einer literarischen Gattung, sondern von
den einfachsten Kategorien der Wirklichkeitsaufnahme und den grundlegenden erzählerischen
Darstellungsverfahren ausgeht. Philosophisch-psychologische Raumkonzeptionen von
Karl von Durkheim, Eugen Minkowski, Ludwig Klages, O.F. Bollnow und Elisabeth
Ströker werden ausgewertet. Die analysierten Texte reichen vom angelsächsischen
"Beowulf" über die mittelhochdeutschen und mittelenglischen epischen
Hauptwerke bis zu deutschen, englischen und us-amerikanischen Romanen und
Kurzgeschichten des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Rolle von Vers und Strophe bei
der Wirklichkeitswiedergabe in den hoch- und spätmittelalterlichen Epen,
Miltons Stellung zwischen der Vollendung dichterischer Traditionen und
revolutionären Neuerungen, der Anteil des Spatialen an der fiktionalen Welt Ann
Radcliffes und
Eichendorffs, die Wechselwirkung zwischen Naturauffassung und
-darstellung bei
Thoreau
und deutschen und us-amerikanischen Zeitgenossen, Ausführung und Funktion des
''Weges'' in Erzählungen von
Stifter,
K.A. Porter, Hemingway und Eudora Welty, Umweltwiedergabe und moderne Erzähltechnik
(Joseph
Conrad,
Virginia
Woolf und William Faulkner) und die Möglichkeiten geschichtlicher und
nationaler Zuordnung von dieser Art Mimesis sind die Themen. (Königshausen
& Neumann)
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