Clemens Meyer: "Die Nacht, die Lichter"

Stories


"Er hat mir sein Licht gegeben, indem er mir die Dunkelheit gezeigt hat."

Dieser Satz aus "Wagen 29" könnte stellvertretend für alle anderen 15 Geschichten des großartigen Erzählbandes "Die Nacht, die Lichter" von Clemens Meyer stehen. Dunkelheit gibt es fürwahr mehr als genug im Alltag seiner "Helden", aber immer wieder strahlt der kleine Funke Hoffnung, das Licht am Ende des Tunnels.

Wer ist dieser junge Autor, der in Halle geboren wurde und in Leipzig lebt?
"Das ist der, der den Buchmessepreis gewonnen hat. Der, der so gar keinen Respekt vor den Juroren dieser Auszeichnung hatte."
"Meyer? Clemens? Ist der nicht am ganzen Körper tätowiert?"
"Ja genau der! Hast du gesehen, wie er seine Freude über den Gewinn herausgeschrieen hat? Mit Bier hat er angestoßen und sich dabei alles übers Gesicht gekippt. Bisschen komisch war der schon, zu aufgedreht, passte gar nicht ins übliche Klientel."


So oder ähnlich könnte sich eine Diskussion zwischen zwei Besuchern auf der Veranstaltung zur Verleihung des "Preises der Leipziger Buchmesse 2008" angehört haben. Auf einige Gäste wirkte der Autor wie der "Außenseiter der Literaturszene". Er schien geradewegs aus einer seiner Erzählungen entsprungen zu sein. Meyer schreibt von Menschen, die nicht mehr ins sogenannte gesellschaftliche Raster passen, die Drogen nehmen oder im Gefängnis sitzen, die trinken, spielen und sich prügeln: die "Verlierer der Nation".

Der Autor siedelt seine Erzählungen in verwahrlosten Wohnungen, in Bierkneipen, im Boxring oder in stillen nächtlichen Straßen an der trostlosen Peripherie einer Stadt an.
Er berichtet zum Beispiel von einem Arbeitslosen, der - auch noch von der Frau verlassen - seine ganze Zuneigung seinem Hund widmet. Doch dieser erkrankt schwer, und nur eine kostspielige Operation könnte ihm helfen. Also setzt er sein ganzes Geld in eine Pferdewette.
Oder der schwarze Boxer, der seine Gage dadurch aufstockt, dass er bewusst verliert. Bis zu dem Tag, wo er doch einmal gewinnt ... im Ring.

In einer anderen Erzählung soll der Langzeithäftling beim Freigang der Tochter seines Mithäftlings Geld übergeben. "Nimm es und gib's ihr. Is 'ne Überraschung. Sie macht doch jetzt Lehre, hat nicht viel." Doch als er bei ihr in der Wohnung auftaucht, wird er von deren Zuhälter zusammengeschlagen.

Oder der alte Mann in dem verlassenen Dorf, dessen Frau schon lange tot ist, der all seinen Lebensmut verloren hat, die Hühner auf seinem Hof tötet und seinen Freund bittet, ihm dessen Pistole zu geben, um seinen kranken Hund zu erschießen, aber dazu mindestens zwei Patronen haben will. Intensiv auch die Geschichte des kranken, drogensüchtigen Malers, der nicht nur entfernt Ähnlichkeit mit Jörg Immendorff aufweist, und dessen Leben im letzten Rausch in einem Hotelzimmer an ihm vorbeigleitet.

Vage Hoffnung durchströmt seine Nachtgestalten
Trotz der Dunkelheit, in die seine Protagonisten abgerutscht sind und die sich durch alle Erzählungen zieht, setzt Meyer immer wieder Lichter. Lichter, die zeitweise nur flimmern und kaum zu erkennen sind. Lichter, die sich bewegen, heller werden und manchmal auch wieder verschwinden. Doch niemals zerstört Clemens Meyer den Traum von einem besseren Leben, niemals die Illusionen seiner Figuren, auch wenn es der oberflächlichen Gesellschaft vielleicht so scheint.

"Das wird schon, das wird schon wieder". Dieser Satz durchzieht als Leitmotiv alle fünfzehn Geschichten. Vage Hoffnung durchströmt seine Nachtgestalten, die meist schon mit einem Bein im Abgrund stehen. Immer wieder setzt der Autor das sogenannte Licht am Ende des Tunnels: "In diesem Augenblick dachte ich, dass es da so was wie ein Glück geben müsste, irgendwo, und die Angst und die Kälte, die ich mit mir rumschleppte (...) waren weg." (aus "Wir reisen"), oder "Und dass das alles ein gutes Ende nimmt, daran glaube ich, daran glaube ich so fest, dass es fast schon wehtut." (aus "Die Flinte, die Laterne und Mary Monroe").

Eine Lösung, ein gutes Ende gibt es jedoch nicht. Alles ist offen, könnte sich so oder so weiterentwickeln. Meyer erzeugt einen atemberaubenden Schwebezustand.

Eigene Intensität ungesagter Wörter
Daneben entfaltet der Autor eine unglaubliche Dynamik. Er treibt den Leser mit einer permanenten Sogwirkung durch den Text, durch sein Wechselspiel zwischen Hell und Dunkel, zwischen Licht und Schatten, erzeugt eine suggestive Wirkung, lässt die Gedanken und Empfindungen seiner Protagonisten wirbeln, springt in die Vergangenheit und noch im selben Satz wieder zurück in die Gegenwart oder gar die Zukunft. Grenzen verwischen. Alles ist in Bewegung. Es gibt keinen Moment des Stillstandes. Wahrnehmung, Erinnerung und Traum fließen nahtlos ineinander.

Das Nichtgesagt ist dabei Meyers Stärke. Eine ganz eigene Intensität unausgesprochener Worte zwischen den Zeilen zeichnet seine Erzählkunst aus. Gut und Böse gibt es nicht, alles verschwimmt. Zuweilen Entsetzen, aber kein Befremden, Hoffnungslosigkeit, aber auch Hoffnung: die Nacht, aber auch die Lichter.

Meyer wertet nicht, schreibt ohne Pathos und Larmoyanz über seine sympathischen Anti-Helden, denen er dadurch so etwas wie Würde verleiht. Er dokumentiert, dies jedoch passgenau und mit einem exzellenten Blick auf intime Kenntnisse für diese Verhältnisse. Er selbst sagte einmal in einem Interview: "Émile Zola ist durch abgewrackte Gegenden gewandert, um Stoff zum Schreiben zu finden. Ich wohne dort."

Clemens Meyer zeichnet in seinen Geschichten ein scharfes Bild der sozialen Verhältnisse in Deutschland und lässt in ihnen eine ganze Lebenswelt erkennen.

Seine großartige Erzählkunst zeichnet sich auch dadurch aus, wie er alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner herunterbricht. Kurze Sätze, die alles sagen. Mit Kleinigkeiten, zudem meist unausgesprochen, verrät er mehr, als es seitenfüllende Abhandlungen tun würden. Er verdichtet auf ein Maximalmaß und erzeugt dadurch immensen inneren Druck sowie enorme Kraft. Seine präzise Unschärfe, seine wenigen Andeutungen eröffnen komplexe Zusammenhänge.

Fazit:
Fünfzehn großartige Geschichten eines verdienten Gewinners des "Buchpreises der Leipziger Buchmesse 2008".

(Heike Geilen; 05/2008)


Clemens Meyer: "Die Nacht, die Lichter. Stories"
S. Fischer Verlag, 2007. 272 Seiten.
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Hörbuch:
Sprecher: Michael Hansonis. Regie: Marlene Breuer.
DAV, 2008.
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Clemens Meyer, geboren 1977 in Halle/Saale, lebt in Leipzig. Nach dem Abitur arbeitete er als Bauhelfer, Möbelträger und Wachmann. Von 1998 bis 2003 studierte er am "Deutschen Literaturinstitut Leipzig". Clemens Meyer gewann 2001 den "MDR-Literaturwettbewerb" und wurde für seinen ersten Roman "Als wir träumten" mit dem "Rheingau-Literatur-Preis", dem "Märkischen Stipendium für Literatur", dem "Förderpreis zum Lessing-Preis" sowie dem "Mara-Cassens-Preis" ausgezeichnet:

"Als wir träumten"
Sie träumen vom Aufstieg ihrer Fußballmannschaft, von einer richtigen Liebe und davon, dass irgendwo ein besseres Leben wartet. Rico, Mark, Paul und Daniel wachsen auf im Leipzig der Nachwendejahre, in einem Viertel, dessen Mittelpunkt die Brauerei ist. Jede Nacht ziehen sie durch die Straßen. Sie feiern, sie randalieren, sie fliehen vor den Glatzen, ihren Eltern und der Zukunft. Sie kämpfen mit Fäusten um Anerkennung und schlagen die Zeit tot. Sie saufen, sie klauen, sind scheinbar gelassen und fertig und träumen vom eigenen Leben. Alle ihre Fluchtversuche enden auf den Fluren des Polizeireviers Südost.
Leidenschaftlich, wild und mutig verspielen sie ihr Leben in einer aussichtslosen Rebellion. Darum lassen einen die Bilder des nächtlichen Leipzig, die Boxkämpfe, die Hoffnungslosigkeit und die Hoffnung dieses Romans nicht mehr los. (Fischer)
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