Barry McCrea: "Die Poeten der Nacht"


"Die Poeten der Nacht" ist der erste Roman des Iren Barry McCrea. Dieser entführt den Leser mit insgesamt 426 Seiten in die Welt eines geheimen Kults.

Niall hat es geschafft, einen Studienplatz am Trinity College zu ergattern. Dabei ist er einer von nur zwei Stipendiaten, und entsprechend groß sind seine Pläne. Doch schon an seinem ersten Tag in Dublin passiert etwas Merkwürdiges: Ein Fremder singt vor seinem Fenster und jagt ihm damit eine gehörige Angst ein. Doch die ist bald vergessen, denn Niall knüpft erste Kontakte, schließt Freundschaften und verbringt seine Freizeit in Bars und auf Partys, während er mit Fionnula, der anderen Stipendiatin, viel Zeit verbringt, privat wie auch hinsichtlich des Studiums. Die Freundschaft zwischen den beiden ist platonisch, denn Niall ist schwul, auch wenn er das geheim hält, und während sich um ihn herum Paare bilden, verdaut er noch die unerwiderte Liebe eines früheren Mitschülers und Freundes.

Von diesem noch in der Entwicklung begriffenen Aspekt seiner Persönlichkeit einmal abgesehen, könnte für Niall alles wunderbar laufen, aber auf einer Party macht er in den frühen Morgenstunden die Bekanntschaft von John und Sarah. Im Rahmen eines Partyspiels erklären sie Fionnula die Sortes, die sie gern nutzen, als Partyspiel: Man stellt eine Frage und greift dann ziellos nach einem Buch in irgendeinem Bücherregal, schlägt irgendeine Seite auf, fährt mit dem Finger entlang und liest den Inhalt der ausgewählten Zeile und der nachfolgenden vor. Diese Textstelle gilt es dann als Antwort auf die gestellte Frage zu interpretieren. Während Fionnula diesem Spiel überhaupt nichts abgewinnen kann, versucht Niall es selbst, sehr zum Missfallen von John und Sarah. Die Antworten sind verblüffend, und Niall erkennt sofort, dass es sich hierbei um mehr als nur ein Partyspiel handelt. Er fragt John und Sarah aus, folgt ihnen, stellt sie immer wieder zur Rede, obwohl die beiden ihm offensichtlich keine weiteren Informationen geben wollen.

Irgendwann jedoch wird Nialls Hartnäckigkeit belohnt, und die beiden nehmen ihn in ihren Kreis auf. Von da an ist Nialls Existenz nur noch geprägt von den Sortes, nichts geschieht mehr ohne Orakel, ja, selbst Personen spürt er mit Fragen an die Bücher und der Interpretation der Antworten auf. Aus den Treffen der drei Studenten werden irgendwann nächtelange Séancen, und Niall erfährt, dass Sarah, die "Chefin" des kleinen Clubs der Literati, ihrerseits Anweisungen zu deren Durchführung von einem geheimnisvollen Luis per Mail erhält. "Pour Mieux Vivre" nennt sich der Kult, bei dem immer nur ein Mitglied ein anderes unterweist, und alle drei, Niall, Sarah und John, wollen mehr wissen, mehr erfahren.

Die Suche nach Wahrheiten, Weisheiten, spiritueller Erfahrung und den Hintergründen der "Pour Mieux Vivre" nimmt Niall immer mehr gefangen. Vorbei sind die Zeiten von Partys, Studium, Freunden und sogar Familie. Niall befindet sich inmitten eines Strudels, der ihn nach unten zieht, ohne dass er dies auch nur bemerkt ...

"Die Poeten der Nacht" ist ein bemerkenswertes und zugleich sehr eigenartiges Buch. Mit seinem Umfang und all den Zitaten aus diversen Büchern ist der Roman geradezu ein potenzieller Klassiker für alle Bücherfreunde. Der Roman ist allerdings auch sehr verstörend.

McCrea hat sich nicht darauf beschränkt, einen konspirativen Roman zu schreiben, sondern fordert den Leser bei der Interpretation des Ganzen. Wie dem vorangestellten mehrseitigen Interview mit dem Autor zu entnehmen ist, war McCreas Beweggrund vor allem der, zu beschreiben, wie groß die Sehnsucht sein kann, den eigenen Alltag und die erlebte Realität zu mythologisieren und welche Gefahren davon ausgehen können. Dennoch ist "Die Poeten der Nacht" weitaus mehr. Es ist die Geschichte der Suche eines Helden, (auch wenn Niall wenige Züge eines echten Helden besitzt), und damit im Ganzen selbst ein geradezu klassischer Mythos. Der Roman ist sehr mystisch und konspirativ, aber auch ebenso psychologisch wie psychotisch. McCrea präsentiert keine Auflösung auf dem Silbertablett, sondern zwingt den Leser, sich mit dem Dargestellten selbst auseinanderzusetzen und eigene Schlüsse zu ziehen. Diese Mischung erreicht, dass "Die Poeten der Nacht" ein Roman ist, der lange im Gedächtnis haften bleibt und deutlich nachwirkt.

Etwas Besonderes ist auch das geografische Element des Romans. Fast die gesamte Handlung spielt in Irland, davon ein Großteil in Dublin. McCrea hat viel Zeit darauf verwendet, Straßen zu benennen, Bauten und Sehenswürdigkeiten einzubringen und diese sehr detailliert zu beschreiben. Dabei gelingt ihm die Gratwanderung, all diese Beschreibungen nicht als reinen Füllstoff wirken zu lassen, sondern ihnen eine Bedeutung innerhalb der Handlung zu geben. Manch ein Ort hat Wiedererkennungswert und ist beim weiteren Auftauchen durch die detaillierten Beschreibungen gleich viel plastischer im Kopf des Lesers; insgesamt gibt es viele Orte mit Bezügen zu Büchern, zum Lesen und derlei, und zu guter Letzt verdoppeln alle geografischen Beschreibungen und auch sonst sehr lokale Phänomene wie typische Dialekte innerhalb Irlands beispielsweise die Probleme Nialls. Oft streift er durch die Straßen, fühlt sich durch bestimmte Gebäude oder andere Orte an ein Buch erinnert, oder ein Ort bekommt innerhalb einer Séance eine bestimmte Bedeutung.

"Die Poeten der Nacht" ist ein wirklich besonderes Buch und ein erstaunlicher Erstling, der den Leser gefangen nimmt und ihn den beklemmenden Weg und die ängstigenden Erfahrungen Nialls mitverfolgen lässt. Man hat nicht nur länger etwas von der Geschichte auf Grund ihres Umfangs, sondern Nialls Erlebnisse wirken auch noch lange nach. Außerdem ist "Die Poeten der Nacht" ein Roman, den man tatsächlich mehrmals zur Hand nehmen kann, denn bei allen enthaltenen Details gibt es immer wieder Neues zu entdecken - auch ohne, dass man selbst das Buch als Orakel nutzen würde. Die vorangestellten Informationen zu Buch, Dublin und den Sortes sowie das enthaltene Interview mit dem Autor bieten zudem einen hohen Mehrwert.

(Tanja Thome; 03/2008)


Barry McCrea: "Die Poeten der Nacht"
(Originaltitel "The First Verse")
Aus dem Englischen von Bettina Stoll.
Aufbau-Verlag, 2008. 426 Seiten.
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Barry McCrea, geboren am 15. Oktober 1974, wuchs in Dalkey bei Dublin auf und studierte am Trinity College Sprachen und Literatur. Seinen Doktortitel erwarb er an der Universität Princeton. Seit 2004 ist er Professor für vergleichende Literatur an der Universität Yale.

Leseprobe:

Prolog

Schließlich gab ich mein neues Leben und die Menschen auf, die mir geholfen hatten, es aufzubauen, und kehrte zurück in die Welt der rätselhaften Spiele und geheimen Systeme, aus der sie mich zuvor befreit hatten. Nachdem ich den Kult hinter mir gelassen hatte, waren zuerst alle froh gewesen, wie ich mich wieder an das tägliche Leben gewöhnte: Ich wurde zusammen mit meinem ältesten Freund in einer Wohnung in der Stadt untergebracht, hatte einen Teilzeitjob bei einer Bank, wo ich Daten in den Computer eingab, und bereitete mich darauf vor, im Oktober auf dem Trinity College das Jahr nachzuholen, das ich verloren hatte. Aber an den Takt, dem die Tage seit meiner Rettung folgten, hatte ich mich nie wirklich gewöhnt, und in stillen Augenblicken wanderten meine Gedanken zurück zu den gefährlichen Fragen und Rätseln, zu den verschwundenen Figuren und dunklen Machenschaften, die ich für immer zu vergessen versprochen hatte.
Meine Rückkehr zum Kult fand an einem warmen Sommerabend des Jahres 2004 statt. Ich saß da und wartete auf eine SMS von meinem neuen Lover. Ich war unruhig und nervös. Die Wohnung mit ihren Vorhängen und Kissen bedrückte mich. Ich starrte auf das Handy, dessen Display nicht aufleuchten wollte, und hoffte, dass mich die SMS erreichen würde, solange noch Zeit dazu war. Als das Telefon dann tatsächlich summte und aufleuchtete, ging ich - anstatt es in die Hand zu nehmen und die Nachricht zu lesen - wie auf einen Befehl hin in Patricks Zimmer und stellte mich vor das Bücherregal. In einer plötzlichen Eingebung, so jäh und hell wie das Aufblitzen und Klirren einer durchbrennenden Birne, wusste ich, dass mein neues Leben vorbei war. Eine Weile verharrte ich so und heuchelte Widerstand, während ich gelegentlich aus dem Fenster schaute und die Autos beobachtete, die in regelmäßigen Abständen die Baggot Street entlangfuhren, nahtlos aufeinanderfolgend, wie die Tage, die Minuten, die Jahre. Doch ich wurde nicht gegen meinen Willen verfolgt oder gejagt. Nicht Liebe, Erschöpfung oder meine Nerven machten mir zu schaffen. Aus freien Stücken hatte ich mich aufgegeben, und längst war ich verloren.
Ich knipste Patricks Leselampe an, um die Buchrücken im Regal erkennen zu können. Als ich den ersten verbotenen Band herausnahm, hatten sich der Verkehr, das Summen des Kühlschranks, die Stimmen des streitenden Obdachlosenpärchens draußen, das Ticken von Patricks Wecker, vielleicht sogar das Läuten meines Telefons, bereits zu einem feinen Netz von Klängen verwoben, dem bezwingenden und gefährlichen lateinischen Gesang, der mich am Anfang verführt hatte und mich nun wieder entführen würde:
Ecce enim veritatem dilexisti
Incerta et occulta sapientiae tuae manifestasti mihi
Asperges me hysopo et mundabor
Lavabis me, et super nivem dealbabor

Siehe, du hast Lust zur Wahrheit, die im Verborgenen liegt,
Du lässest mich wissen die heimliche Weisheit
Entsündige mich mit Isop, dass ich rein werde,
Wasche mich, dass ich schneeweiß werde.

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