Patrick McCabe: "Winterwald"
Verstörend und begeisternd gleichermaßen
Der von Hans-Christian Oeser gut und einfühlsam
übersetzte Roman des am 27. März 1955 in
Irland geborenen, in Sligo lebenden Schriftstellers Patrick McCabe
umfasst einen Zeitraum von Anfang der 1980er-Jahre bis zur Gegenwart
und damit genau jene Zeitspanne, in der sich sein Heimatland auf
dramatische Weise modernisierte und veränderte.
Patrick McCabe erhielt für "Winterwald" im Jahr 2007 die
Auszeichnung "Irish Novel of the Year".
Über viele Jahre hatte Irland, vormals ein Land, in dem auch
schon einmal Tausende verhungerten, die höchsten
Wachstumsraten in der ganzen
Europäischen Union, zog IT-Unternehmen und Andere an wie der
Honig
die Bienen, senkte seine Arbeitslosigkeit auf nie für
möglich gehaltene Prozentsätze und steigerte den
Wohlstand weiter Teile der Bevölkerung in ähnlichen,
fast traumhaften Sprüngen. Für die meisten Beobachter
aus der Ferne wurde dabei nicht deutlich, was bei diesem enormen
Modernisierungsprozess verloren ging; der Preis, der für den
sogenannten Fortschritt gezahlt wurde, ist nicht zu beziffern.
Patrick McCabe beschreibt diese Veränderungen, obwohl er sie
an keiner Stelle deutlich ausspricht. Er tut es, indem er im Rahmen
seiner Hauptgeschichte, auf die gleich zu kommen sein wird, alte
mörderische Balladen und Märchen aus Irland aufgreift
und sie mit den aktuellen Fragen und Motiven im Irland der Gegenwart,
das nach dem zweifelhaften Höhenflug mittlerweile vor
erheblichen Problemen steht, verbindet.
"Winterwald" lebt von der Spannung sowie der geheimnisvollen, zeitweise
befremdenden Anziehung zwischen den beiden Hauptfiguren des Romans, dem
Journalisten Redmond Hatch und dem Fiddlespieler, Sänger und
Kenner der alten irischen Sagen, Mythen und Traditionen, Ned Strange.
Als Redmond Hatch im Herbst 1981 von seiner Zeitung den Auftrag
erhält, einen Artikel über Folklore zu schreiben, vor
dem Hintergrund der großen Veränderungen, die in
Irland damals schon stattfanden, denkt er sofort an seinen Heimatort
Slievengeeha, den er schon seit Jahren nicht mehr besucht hat.
" ... wie sich herausstellte, war zufällig gerade
Festwoche, und als ich in die Stadt hineinfuhr, fing eben ein
céilí an. Auf einem roh gezimmerten Podium mitten
auf dem Platz schrammte eine Slapp-Bass-Combo, was das Zeug hielt,
darunter ein backenbärtiger Alter, der auf seiner Fiddle
sägte und Hornpipes hervorstampfte, als
gäb’s kein Morgen mehr. Er musste an die siebzig
gewesen sein, mit kupferrotem gelockten Haarschopf und einem dichten,
widerspenstigen rostroten Bart, der von silbernen Strähnen
durchzogen war. Er schlug sich auf die Schenkel, juchzte und pfiff und
ermunterte alle, die es kannten, in das traditionelle ’Come
All You’ einzustimmen."
Dieser Mann ist Ned Strange, und die Begegnung mit ihm wird Redmond
Hatch prägen bis zu seinem eigenen Ende. Schon damals hatte
Redmond Hatch Catherine Courtney kennengelernt, und noch
während er für seinen Folkloreartikel recherchiert,
heiraten die beiden 1981.
Eine Tochter wird geboren, der sie den Namen Imogen geben.
Unter dem Titel "Verzauberte Tage. Junge Liebe im Irland der tiefsten
Vergangenheit" erscheint 1982 Hatchs Artikel über das Leben
von Ned Strange, der für einiges Aufsehen sorgt und ihn
berühmt macht. Die Familie zieht 1983 nach London, eine neue
Stellung ist ihm angeboten worden. Redmond ist glücklich, doch
das Glück währt nicht lange. Seine Ehe zerbricht,
auch infolge seines Verhaltens, und wird 1989 geschieden.
Er ist ziemlich heruntergekommen, wohnt zunächst in einem
Zimmer in Portobello, dann sogar im Männerwohnheim.
Ein Artikel im "Sunday Independent" im Oktober 1989 bringt ihn
zurück zu Ned Strange. Ned Strange hat einen Buben, dessen
Vertrauen er mithilfe von Musikunterricht erschlichen hatte,
fortgelockt, schändlich missbraucht und getötet.
Sofort ist alles wieder da, und Ned Strange verfolgt Redmond in seinen
(Wach-)Träumen, erst recht, nachdem sich der Inhaftierte in
seiner Gefängniszelle erhängt hat.
"Inzwischen bereute ich, je dorthin zurückgekehrt zu
sein, um einen Artikel über Folklore oder sonst was zu
verfassen. Und war unsäglich betreten, wenn ich an die
einfühlsamen Sätze dachte, die ich in der
Vergangenheit geschrieben hatte, verführt von Ned Stranges
honigsüßen Worten und meinen eigenen unaufrichtigen,
rosaroten Erinnerungen."
Verführung ist ein großes Thema in diesen
Erinnerungen und Erscheinungen, wenn Redmond immer wieder "an
diese widerwärtigen, lüsternen,
selbstsüchtigen Augen" denken muss.
"Here we both lie in the shade of the trees
My partner for ever just him and me
How long will we lie there O Lord who can tell?
Till the winter snow whitens the high hills of hell."
An diese Zeilen erinnert Ned Strange Redmond immer wieder, wenn er ihm
in den folgenden Jahren mit kaltem und feuchtem Geruch erscheint.
Langsam wird deutlich, dass Ned und Redmond eine Missbrauchsgeschichte
verbindet, die sowohl Redmonds Ehe als auch die Beziehung zu seiner
Tochter zerstört.
Redmond erzählt nun im Folgenden seine Geschichte bis zur
Gegenwart, seine Versuche, von seiner Vergangenheit loszukommen, mit
veränderter Identität neu anzufangen. Doch nichts
wird ihm helfen. Im letzten Kapitel der "Ewigkeit" hat Ned Strange das
letzte Wort.
"Winterwald" ist eine Geschichte, die verstört und
gleichzeitig begeistert. Sie erzählt vom modernen
ländlichen Irland, seinen Traditionen und Leiden. Gleichzeitig
ist es eine Geschichte darüber, wie der Missbrauch eines
Kindes dessen Leben für immer zerstören kann,
insbesondere, wenn das Opfer nicht aus der Verdrängung
herauskommt, sondern in der Wiederholung seines eigenen Schicksals nach
Hilfe zu rufen versucht.
Der Leser, der das Buch wegen der gut aufgebauten Spannung lange Zeit
nicht aus der Hand legen kann, bleibt dennoch ratlos und etwas
erschöpft zurück. Zu ausweglos erscheint die
erzählte Geschichte, als dass man etwas Positives bilanzieren
könnte.
(Winfried Stanzick; 09/2008)
Patrick McCabe: "Winterwald"
(Originaltitel "Winterwood")
Übersetzt von Hans-Christian Oeser.
Berlin Verlag, 2008. 223 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Die heilige Stadt"
Wenn es stimmt, was Chris McCool von seiner Jugend in den "Swinging Sixties"
erzählt, machte er seinem Namen alle Ehre. Er tanzte in Samthosen und
Rüschenhemden auf den Tischen des angesagtesten Clubs der Stadt und war begehrt von
den Frauen und von den Männern beneidet. Wenn es stimmt.
Chris McCool ist siebenundsechzig Jahre alt und so richtig zufrieden. Seine
Freunde sagen, er sehe aus wie Roger Moore, und seine halb so alte, attraktive
Freundin liest ihm jeden Wunsch von den Lippen ab. Sicher, als verstoßener,
unehelicher Bastard einer Protestantin aus besserem Hause und eines katholischen
Bauernlümmels war er für die Protestanten Katholik und für die Katholiken
Protestant. Das ist durchaus ein Problem in Irland.
Aber wenn er in seinem Ford Cortina durch die Straßen kreuzte, waren ihm alle
Blicke sicher, die begehrlichen wie die neidischen. Doch dann waren da dieser
Zwischenfall mit Ethel Baid, die geschändete katholische Kirche, die
Missverständnisse mit Marcus Otoyo und die unangenehmen Geschichten aus der
Irrenanstalt.
In "Die heilige Stadt" präsentiert Patrick McCabe einen Erzähler, dessen
Geschichte mit jeder Seite fadenscheiniger und löchriger wird. Es sind wohl
kultivierte Löcher in der Erinnerung eines Mannes, der gegen die Wut, die Trauer
und den Wahn anredet. (Berlin Verlag)
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Eine weitere Lektüreempfehlung:
Ralf Sotscheck: "Gebrauchsanweisung für Irland"
Sind Iren wirklich rothaarig, haben ein sehr individuelles
Zeitgefühl und
verwechseln Pubs gerne mit Wohnzimmern? Der
Irlandkenner Ralf Sotscheck spielt
augenzwinkernd mit den Klischees über die Grüne Insel
und zeigt dem Leser den wahren Iren.
Irland, die grüne Insel in Europas
äußerstem Nordwesten: vielleicht der
Flecken Erde mit den meisten Klischees pro Quadratmeter. Was aber
erwartet den Irlandreisenden wirklich? Doppelt so viele Schafe wie Menschen,
"Tullamore Dew", der irische Geist in der Flasche, und die
Größen der Weltliteratur
von James Joyce bis
Frank
McCourt. Hier sind
Sagen und Legenden bis heute lebendig - die Feenfrau Banshee schwebt immer noch durch verwitterte
keltische Ruinen. Und es war der Dubliner Schriftsteller Bram Stoker, der
Graf
Dracula weltberühmt gemacht hat. Ralf Sotscheck erzählt mit
irisch inspirierter Fabulierlust, sodass das bunte Mosaik einer Insel zwischen Tradition
und Wirtschaftswunder entsteht. (Piper)
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