László Márton: "Das Versteck der Minerva"
Zeitfenster in den Vormärz
"Endlich hatte die Wiener Polizei jene Straftat, nach
der sie so lange vergeblich gesucht hatte. Nur das Auftreiben des Täters ließ
noch auf sich warten."
(Seite 85)
Wie einst Adalbert Stifter beginnt László Márton, der Autor, Germanist und Übersetzer
deutscher Klassiker, die Natur und die Geografie von Linz und seinem Umland zu
schildern. Episch breit und mit großer Freude am Erzählen werden die Menschen,
ihre Moden und Vorlieben in den 1840er-Jahren beschrieben, führt er die Leser
in das Lebensumfeld des greisen ungarischen Aufklärers, Dichters und vielleicht
Revolutionärs János B. ein.
Dieser hegte in seiner Jugend Sympathien für die Ideale der
Französischen
Revolution, lernte in der wahrscheinlich unverdienten Festungshaft in Kufstein
einen späteren Minister
Napoleons kennen und wird später in seinem Auftrag die
"Schönbrunner Deklaration", einen Aufruf an die Ungarn zur Loslösung aus
dem Habsburgerreich, verfassen. Man könnte auch sagen, er war Zeit seines Lebens
zur falschen Zeit am falschen Ort - wie eine Sonnenfinsternis, deren Trubel
und Menschenauflauf die Befreiung B.s aus dem dreißigjährigen Exil in Ungarn
verhindern.
Selbstbewusst greift aber Márton in den historischen Hintergrund ein, verlängert
für seinen Roman das historische Leben von János B.s Gattin um einige Jahre
und verlegt sogar eine Sonnenfinsternis zu Gunsten eines logischen und
konsistenten Erzählstrangs. Immer wieder öffnen sich Beschreibungsfenster in
die Gegenwart von Linz, einmal auch in die Zeit des Nationalsozialismus. Das
Schicksal des politisch Verfolgten, aber auch seine Abhängigkeit und
Verwobenheit in das Linzer Stadtleben, erhalten dadurch neue assoziative Bezüge.
Einer seiner Wege führt auch zum Platz eines heutigen Einkaufszentrums.
Eines der literarischen Motive, das den ganzen Roman durchzieht, ist Minerva,
sei es als Name einer literarischen Zeitschrift oder Göttin der Weisheit und
Aufklärung, auch als deren Begleiterin, die Eule, und als Büste, ist sie während
der ganzen Handlung präsent - auch im Versteck.
Überhaupt ist das Spiel mit dem Versteck, der Leugnung von Vernunft, auch dem
Wegstecken von János B. ins Exil, und der Weigerung, Wahrheit anzuerkennen,
Hauptthema dieses Romans, in dem der Autor László Márton kundig in die österreichische
und ungarische Geschichte einführt, um gleichzeitig sich und seinen
lesenswerten Roman über simple Historizität zu erheben.
(Wolfgang Moser; 11/2008)
László Márton: "Das Versteck der Minerva"
Aus dem Ungarischen von Eva Zádor und Wilhelm Droste.
Folio Verlag, 2008. 232 Seiten.
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László Márton wurde 1959
in Budapest geboren. Er studierte Literaturwissenschaft, Germanistik und
Soziologie. 1983 bis 1990 Verlagslektor, seitdem freier Schriftsteller und Übersetzer. Seit 1984 literarische Veröffentlichungen. Er hat sich als Übersetzer deutscher Literatur einen Namen gemacht. Zwei seiner Erzählungen hat er im Original auf Deutsch verfasst: "Die fliehende Minerva oder Die letzten Tage des Verbannten: Eine Erzählung" (1997) sowie "Im österreichischen Orient" (2005). Bislang sind zwei seiner Romane in deutscher Übersetzung erschienen: "Die wahre Geschichte des Jakob Wunschwitz" (1999) und "Die schattige Hauptstraße"
(2003):
"Die wahre Geschichte des Jacob Wunschwitz"
In seinem beeindruckenden historischen Panorama führt Márton den Leser in das
an der Neiße gelegene Städtchen Guben, das sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts
zu einem Handelszentrum innerhalb der Hanse entwickelt hat. Er erzählt die
unheilvolle Geschichte des rechtschaffenen Jacob Wunschwitz, der unversehens zum
Spielball weltlicher und geistiger Mächte wird. Virtuos spielt der Autor mit
Personen, Zeitebenen und Namen, er spinnt ein Netz aus mysteriösen Vermutungen,
falschen Fährten und borgesianischer Fiktion. Eine historische Parabel über
Macht und Ohnmacht in Zeiten der Willkür.
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"Die schattige Hauptstraße"
Ignác Halász hieß der Fotograf der ungarischen Kleinstadt, die László Márton
dem Leser in seinem Roman vorstellt. Seine Porträts von Menschen und Landschaften, die er
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anfertigte, sind verschwunden wie er
selbst. Geblieben sind die Schemen der Erinnerung, sind die Schatten, die sich
wie Gestalten entlang der ehemaligen Hauptstraße bewegen. Márton erweckt diese
Gestalten zum Leben. Anhand des Schicksals zweier Mädchen beschreibt er, wie es
den Freunden, Verwandten und Nachbarn von Aranka Róth und Gaby Göz ergangen
sein mag, wie in das friedliche, bürgerliche, jüdische Milieu die Geschichte
eindrang, wie Menschen verfolgt und diskriminiert wurden und ihnen allmählich
nichts Anderes mehr blieb als Flucht und Verderben. Ein präziser Bilderreigen
von einem der einfallsreichsten Erzähler. (Zsolnay)
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