Berta Marsé: "Der Tag, an dem Gabriel Nin den Hund seiner Tochter im Swimmingpool ertränken wollte"
Kurzprosa
Eine Bombe mit Zeitzünder
Die spanische Autorin Berta Marsé debütiert erfolgreich mit ihrem Erzählband
"Der Tag, an dem Gabriel Nin den Hund seiner Tochter im Swimmingpool ertränken
wollte"
Es ist oft ein kleiner Tropfen, der das Fass zum Überlaufen oder eine Situation
zum Eskalieren bringt. Und manches Mal entsteht aus einer unbedachten Äußerung,
einem falsch verstandenen Satz, ein gewaltiger Tsunami. Die ursprünglich kleine
Amplitude wächst beim Auftreffen auf das Land zu einem riesigen Wellenberg, der
eine Schneise der Verwüstung hinterlassen kann.
Analoges scheint mit dem Titel des Erzählbandes passiert zu sein. Besteht er im
Spanischen noch aus zwei Wörtern, so entfaltet er sich im Deutschen zu dem
unorthodoxen Konvolut "Der Tag, an dem Gabriel Nin den Hund seiner Tochter
im Swimmingpool ertränken wollte". Derweil bringt es das weit weniger
aberrante Original auf den Punkt. "En jaque" - zu Deutsch "Im
Schach" - ist einem Begriff aus dem rund tausend Jahre alten Brettspiel
entnommen und bezeichnet die Situation des hilflosen Königs, dessen ausweglose
Spielposition den Verlust der Partie andeutet.
Von der Aporie menschlicher "Figuren" erzählen die sieben
Kurzgeschichten, mit denen Berta Marsé, die Tochter des großen spanischen
Autors Juan
Marsé, 2006 in Spanien debütierte. Die im gutbürgerlichen Milieu
angesiedelten Handlungen der Autorin offenbaren tiefgreifende Tragödien. Eben
jener Tropfen zu viel lässt stabil und sicher scheinende Grundfeste
zusammenbrechen wie ein Kartenhaus, und nicht selten sind Kinder die
Leidtragenden. Marsé lockt zunächst an, spielt mit den Wörtern wie ein
leichter Sommerwind. Doch die Wolken ziehen bereits auf. Dann ein Blitz, ein
Donner, und das trügerische Idyll wird gespalten. Jetzt gibt es kein Halten
mehr. Nach und nach enthüllen ihre Protagonisten den vermeintlichen
"Hinterhalt", "wie die ineinander verschachtelten Würfel in
einem Baukastenspiel für Kleinkinder."
Mamas Zaubermuschel gefällt auch Onkel Edu
So wie in der titelgebenden Geschichte "Die Zaubermuschel". Ein
Familienvater durchfährt von einem auf den anderen Moment eine
psychisch-moralische Wandlung und mutiert vom liebenden zum gewalttätigen
Menschen. Was ist passiert? Es ist der Tag vor Patricias Geburtstag. Vater und
Tochter sitzen zusammen im Garten. Töchterchen hält die traute Familie mit
Buntstiften auf Zeichenkarton fest. Der Papa hingegen entwirft ein Charakterbild
seiner Tochter für ein Schreiben an die zuständige Schulbehörde. Mit der
zeichnerischen Darstellung hat Patricia ihre liebe Not. Ein eigenartiges Gebilde
schwebt über Mamas Kopf. Es ist Mamas Zaubermuschel, verkündet die kesse
Kleine ihrem Vater. "Und wenn du mir nicht glaubst, dann frag Onkel Edu.
Er weiß, dass Mamas Muschel zaubern kann, deshalb will er sie immer von ihr.
Und Mama hat sie ihm schon oft gegeben!" Peng! Das sitzt. Der
offensichtlich gehörnte Ehemann sieht rot. Das Schlimme daran, Patricia
versteht überhaupt nicht, was sie da eigentlich gesagt hat, warum sie in ihrer
Unschuld brutal bestraft wird.
Ähnliche fatale Erschütterungen, denen eine diffuse trügerische Harmonie
vorausgeht, offenbart Berta Marsé in allen folgenden Erzählungen. Sie
berichtet von einem Schildkrötenmalwettbewerb, aus dem sich ein Grafiker mit
Ideenblockade Inspiration erhofft. Tatsächlich fördern die Kleinen
fantasievolle Echsen zu Tage. Bis, ja bis eine Zeichnung zu deutlich an ein
erigiertes männliches Geschlechtsteil erinnert.
Auf einer Paddelboottour wiederum macht die adrette Hostess ihrem kurz vor dem
Durchbruch stehenden Fußballamateur ein so schier unsagbares Geständnis, das
wiederum eine Menge weiterer erstaunlicher Enthüllungen aus den Tiefen der
verschleierten Erinnerungen nach sich zieht.
Familiäre Geheimnisse
Bildhaft und plastisch skizziert Berta Marsé ihre Protagonisten, um sie
anschließend schamlos zu sezieren. Die Nähe zu ihrem Autoren-Vater ist ihrem
schriftstellerischen Debüt anzumerken. "Der Apfel fällt nicht weit vom
Stamm" wäre ein treffender Vergleich. Doch nicht immer wirkt sich
genetische Verwandtschaft vorteilhaft aus. Ein Übervater kann gleichwohl
hemmend sein. Aber Berta Marsé hat sich wohltuend gelöst. Vielleicht ist ihre
Geschichte "Ursprung" gar eine sinnbildliche Metapher dieses
Abnabelungsprozesses. In ihr dringt die schwangere Ana "Schlag um
Schlag" zu den Jugendsünden ihres Vaters durch. Der erfährt dadurch
nicht nur, dass er einen unehelichen Sohn hat, sondern dass jener auch noch der
Vater von Anas ungeborenem Kind ist, welches mit Down-Syndrom zur Welt kommen
wird. Außerdem wollen Ana und ihr Halbbruder demnächst heiraten.
"Es heißt, dass Familiendramen, die Schläge, von denen eine solche
Institution getroffen werden kann, ihren Ursprung oft in feinen alten Fissuren
haben, die irgendwann auf einen Schlag alles zum Einsturz bringen. Und es heißt
auch, dass es vielerlei Anzeichen für so eine nahende Katastrophe gibt: ein
fast unmerkliches Beben, flüchtige fremdartige Gerüche, unsichtbare Stimmen
hinter einem", sinniert Anas Vater und hat damit Berta Marsés Duktus
aufs Feinste beschrieben. Denn auch diese hat in ihren Texten Fährten
ausgelegt. Kleine unscheinbare Worte, die beim aufmerksamen Lesen bereits den
fatalen Köder erahnen lassen. Einer Lösung all ihrer kumulierenden Dramen
verweigert sich die Autorin jedoch konsequent.
"Hunde, Muscheln, Sehnsüchte, Enttäuschungen, Ungewissheit",
ist einer der letzten Sätze in der "Zaubermuschel", der
stellvertretend über allen Erzählungen der Spanisch schreibenden Katalanin
stehen könnte. Wie ein roter Faden webt sich
das Thema "Familiäre
Geheimnisse" durch alle Geschichten. Berta Marsé hüllt familiäre
Dramatik in wundervollen Humor, der zwar die Kontraste des Gezeichneten mildert,
dessen inhaltlicher Schärfe jedoch keinen Abbruch tut.
Fazit:
Aus einer hochexplosiven Mischung, aggressiv und ironisch zugleich, voller
Sprachwitz und Situationskomik auf der einen Seite, tiefem Entsetzen und
Offenlegung menschlicher Abgründe auf der anderen, ist der Autorin ein
glanzvoller erster "Seitenhieb" gelungen. Mehr davon!
(Heike Geilen; 11/2008)
Berta Marsé: "Der Tag, an dem Gabriel
Nin den Hund seiner Tochter im Swimmingpool ertränken wollte"
(Originaltitel "En jaque")
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Verlag Klaus Wagenbach, 2008. 171 Seiten.
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