Kirsten Jüngling: "'Ich bin doch nicht nur schlecht.' Nelly Mann

Die Biografie


Eine unglückliche Frau mit vielen Facetten

"Du hast mir oft Unrecht getan." Diese Worte schrieb Emmy Johanna Westphal, genannt Nelly, in einem späten Brief an Heinrich Mann. Fünf Jahre lang, bis zu ihrem Selbstmord, war sie seine Ehefrau, 15 Jahre seine Partnerin. Bereits 1929 hatte der fast Sechzigjährige berühmte Schriftsteller die 27 Jahre jüngere, üppig-weibliche und blonde "Strandschönheit" kennen- und liebengelernt.

Dass sie als Tochter einer Dienstmagd aus dem holsteinischen Ahrensbök unehelich geboren wurde, war "damals weder eine Ausnahme - 1898 kamen in Ahrensbök von hundertzehn Kindern fünfzehn mit diesem Prädikat zur Welt"", so die Autorin, noch zwingend von Nachteil, aber dass sie sich ihren Unterhalt als Animierdame in einem Berliner Nachtlokal am Kurfürstendamm verdiente, machten es ihr im Umfeld der Familie Mann von vornherein schwer.

Heinrich jedoch liebte dieses Milieu, "das wenig Reputierliche, das Unordentliche zog ihn an. (...), vermittelte ihm ein Gefühl von Kontinuität, von Heimat, wie er es tatsächlich nicht im Elternhaus, nicht in den zahllosen Pensionen, Hotels und Kurheimen, ja auch nicht mit Frau und Kind in der gutbürgerlichen Münchner Etagenwohnung [Anm. er war in erster Ehe mit Mimi verheiratet und hatte eine Tochter; Goschi] empfunden hatte."
Für den Rest der Familie blieb Nelly jedoch zeitlebens das "Schmuddelkind", für Thomas Mann gar die "schreckliche Trulle" und "eine arge Hur'", für Katia einfach "das Stück".
Doch war die Schwägerin tatsächlich so ordinär, wie sie immer dargestellt wurde?
Dies versucht die 1949 geborene Publizistin Kirsten Jüngling in ihrer Biografie "Ich bin doch nicht nur schlecht" zu ergründen.

Wer war Nelly?
In seinem Roman "Ein ernstes Leben" hat Heinrich Mann Nellys Leben ziemlich getreu wiedergegeben, allerdings ohne die uneheliche Geburt einzubeziehen. Wie die Romanfigur Marie scheint sich auch Nelly schon früh durch Männerbekanntschaften ihr Leben angenehmer gemacht zu haben. Sie heiratete in Berlin einen Bankier, ein ungewolltes Kind wurde (wahrscheinlich) weggegeben. Heinrichs Geliebte und dann seine Frau zu werden, musste für sie die Erfüllung ihrer Träume gewesen sein. Doch der Traum war kurz.

"Anpassungswilligkeit und -fähigkeit sind ihr unbedingt zu attestieren; auch wenn es darum ging, sich Menschen anzuschließen, die oft, so wie sie, Grenzgänger waren und ihr Heil in Lösungen suchten, die ihnen zum Schaden gereichen konnten. Das war das eine. Das andere: der nicht ganz so leicht zu verwischende Unterschied. Für jemanden, der den Ehrgeiz hat, zu den 'besseren' Leuten zu gehören, fehlte es ihr an Herkunft, Bildung und an der Selbstsicherheit, die daraus erwachsen kann. (...) In den kommenden Jahren würde sie sich äußerlich weiter verbessern, innerlich aber herunterkommen", stellt Kisten Jüngling treffend fest.

Die dem Leben zugewandte, neugierige und durchaus amüsante Nelly zerbricht nach und nach an der Sehnsucht, ohne Wenn und Aber anerkannt zu werden, sowie an Heinrich, dem "Mann der Kontraste", von dem sie glaubte, dass er diese Sehnsucht erfüllen könnte, doch für den Liebe genauso Einbildung wie alles Andere war.

Alkohol-, Drogen- und Medikamentenmissbrauch
1933 folgt Nelly Heinrich in die Emigration, zunächst nach Frankreich, dann in die USA. Doch anders als sein Bruder Thomas konnte der ältere Bruder im Ausland nicht Fuß fassen. Materiell und psychisch ging es ihm und Nelly vor allem in den USA sehr schlecht. Nelly trank, nahm Drogen und Psychopharmaka, wurde zunehmend psychisch instabiler. Thomas Mann unterstützte zwar seinen Bruder finanziell, sah jedoch weiterhin auf dessen - wie er fand - ordinäre Lebensgefährtin herab und riet Heinrich, sich von ihr zu trennen. Dem entzog sich Nelly selbst: Am 17. Dezember 1944 stirbt sie an einer Überdosis Schlaftabletten.

Kirsten Jüngling zeichnet ein äußerst einfühlsames Bild dieser zerrissenen und sicher auch labilen Frau, die an zu hoch gesteckten Zielen zerbrach. Wohltuend durchstößt sie die würde- und weihevolle Aura, die die Lübecker Senatorenfamilie und ihre berühmten zwei Schriftstellersöhne umgibt, und schildert mit wenig Respekt den Weg der Emmy Johanna Westphal an der Seite Heinrich Manns und dessen Umfeld.
Ihre Biografie ist gleichzeitig eng mit der Vita ihres Lebens- und späteren Ehepartners verknüpft, die sie ebenfalls umreißt und an Schnittstellen tiefgründig ausleuchtet.

Ihre Recherchen stützen sich auf eine Unmenge verschiedenster Dokumente, die im Text mit Fußnoten versehen und in einem 44-seitigen Anhang näher erläutert sind bzw. die Quellen benennen. 25 Schwarz-Weiß-Fotos ergänzen diese sorgfältig recherchierte und trotz ihrer "Mann'schen Entweihung" stilvolle Biografie.

Fazit:
Lange hat sich niemand, Familie Mann wohl am wenigsten, die Mühe gemacht, nachzuforschen, wer diese Nelly eigentlich war. Kirsten Jüngling hat es versucht. Sie geht den Realien nach, wenn auch nicht erschöpfend, so doch zumindest derart intensiv, wie es sich nur machen lässt.
Entstanden ist ein spannendes Buch über ein ungleiches Schriftstellerpaar und ein Leben im Exil.

(Heike Geilen; 03/2008)


Kirsten Jüngling: "'Ich bin doch nicht nur schlecht.' Nelly Mann. Die Biografie"
Propyläen Verlag, 2008. 240 Seiten.
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Weitere Buchtipps:

Helmut Koopmann: "Thomas Mann - Heinrich Mann. Die ungleichen Brüder"
Man hat in vergangenen Jahren das Werk Thomas Manns oft aus seiner homoerotischen Neigung und dem Zwang, diese im Werk gleichsam verstecken zu müssen, erklärt - aber nicht weniger wichtig ist die Auseinandersetzung mit den Gedanken und dem Werk seines Bruders Heinrich Mann, ein Gegeneinander-Anschreiben beider in Rivalität und Konkurrenz. Helmut Koopmann, profunder Kenner Thomas und Heinrich Manns, erzählt in diesem Buch die spannungsreiche Geschichte eines Konflikts, der tiefe Spuren im literarischen Werk der beiden Brüder hinterlassen hat. Kaum ein Roman ist frei davon.
Für Thomas Mann wie auch für Heinrich Mann ist der Bruder lebenslang die wichtigste literarische Bezugsperson gewesen. Beide orientieren sich in ihrem Selbstverständnis aneinander, und beide nutzen das Werk des Anderen, um daraus zu übernehmen, oder, wichtiger noch, dagegen anzuschreiben. Es war eine brüderliche Konkurrenz, die nicht selten zu brüderlicher Rivalität wurde.
Während "Buddenbrooks" entstand, schrieb Heinrich an seinem Berliner Großstadtroman "Im Schlaraffenland", der gegen den Familienroman Thomas Manns konzipiert war. "Im Schlaraffenland" war für Thomas Mann wiederum Anlass zu einem "Gegenroman": Felix Krull, ein Stoff, der ihn fünfzig Jahre lang beschäftigen sollte. Auf "Buddenbrooks" antworten auch "Professor Unrat" und "Die kleine Stadt", auf Heinrich Manns Roman "Die Jagd nach Liebe", der zu dem entsetzlichen Brüderstreit 1903 führte, "Der Tod in Venedig" mit einem ganz anderen Liebeskonzept und neuen literarischen Maßstäben. Es war Thomas Manns Ziel, die Werke des Bruders zu übertreffen, es besser zu machen als dieser lebenslange Rivale.
Helmut Koopmann führt in seinem Buch den Leser durch Leben und Werke der beiden Protagonisten. Die großen Kapitel zur wechselvollen Lebensgeschichte der beiden Brüder fügen sich zu einer faszinierenden Doppelbiografie. Es sind parallele, aber doch sehr ungleiche Leben. Die beiden waren zeitweise Verbündete, doch immer wieder erbitterte Gegner. Koopmann schildert mit souveräner Meisterschaft Stationen einer Familiengeschichte, die zugleich bedeutende Stationen der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts sind. (C.H. Beck)
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Manfred Flügge: "Heinrich Mann. Eine Biografie"
Manfred Flügge erzählt die Geschichte eines großen Deutschen, der Sternstunden und bittere Momente erlebte, große literarische Erfolge feierte und dennoch ins Abseits geriet, im politisch gebotenen Kampf Irrtümer beging und fatal in Anspruch genommen wurde, und der doch im Grunde ein großer Fantast war, ein Unzeitgemäßer: der allerletzte Romantiker. Sein Leben war voller Widersprüche und erscheint doch so anrührend und grotesk wie das mancher seiner Figuren. Dieser kundige Führer durch das Gesamtwerk weckt Lust auf eine neue Auseinandersetzung mit der Erbschaft dieses großen Unzeitgemäßen. "In Wirklichkeit habe ich mehr als nur den Helden des Blauen Engel und den vorweggenommenen Nazi des Untertan gemacht: Schöneres, meine ich, und näher der Vollendung, die ich nie erreichte." (Heinrich Mann, 1946). (Rowohlt Reinbek)
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Willi Jasper: "Die Jagd nach Liebe. Heinrich Mann und die Frauen"
"Mein Hauptinteresse war die Frau. Ich habe mit meiner Naivität, die Du - scheint es - verkannt hast, so lange es irgend ging, nur meine Sinnlichkeit gelebt." Heinrich Mann an seinen Bruder Thomas.
Heinrich Manns "Jagd nach Liebe" galt vor allem Frauen aus Bohème und Halbwelt - Schauspielerinnen, Sängerinnen, Prostituierten. Sie beeinflussten nicht nur sein Leben, sondern dienten ihm als Rohstoff seiner Literatur. Willi Jasper erzählt von den entscheidenden Frauen im Leben Heinrich Manns - der Schwester Carla, der "argentinischen Verlobten" Nena, den Ehefrauen Mimi und Nelly. Er schildert ihr tragisches Schicksal vor dem Hintergrund einer bewegten Epoche und zeigt, wie sie Eingang gefunden haben in sein Werk. Bisher unveröffentlichte Briefdokumente informieren aber auch über "emanzipierte" Beziehungen von Autorinnen und Künstlerinnen zu Heinrich Mann, die zwischen schwärmerischer Verehrung und intellektuellem Einspruch schwanken. So wird eine neue Sicht auf Heinrich Mann frei, der sich selbst als "Féminist" bezeichnete, literarisch aber für "undisziplinierbar" hielt, "weil ihm immer eine Frau dazwischenkommt". (S. Fischer)
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Jindrich Mann: "Prag, poste restante. Eine unbekannte Geschichte der Familie Mann"
Die siebzehnjährige Leonie, einzige Tochter Heinrich Manns, flieht 1933 mit ihrer jüdischen Mutter in deren Heimatstadt Prag. Doch die Gewalt der Nazi-Herrschaft wird sie einholen: Maria "Mimi" Kanova stirbt 1947 an den Folgen der Haft im KZ Theresienstadt. Im selben Jahr lernte Leonie den beliebten tschechoslowakischen Geschichtenerzähler Ludvik Askenazy kennen. Dies sind die Eckdaten einer Spurensuche, die ein ganzes Jahrhundert umspannt. Dabei erzählt Heinrich Manns Enkel Jindrich von der eigenen privilegierten Kindheit in einem kommunistischen Regime der 1950er Jahre, von Nachbarn, die verschwinden, und der Mutter, die "in keine Kategorie passt" und geheimnisvolle Reisen nach Ostberlin unternimmt. Bis der "Prager Frühling" 1968 die Familie in den Westen zurücktreibt und der zwanzigjährige Jindrich, nun selbst Emigrant in dritter Generation, im studentenbewegten Berlin Fuß zu fassen versucht. Das Buch enthält die gänzlich unbekannte, so träumerisch wie präzise rekonstruierte Geschichte der "anderen Manns" - und eines kleinen Jungen an der Hand seiner Mutter in einem märchenhaften Prag. 
Jindrich Mann, geboren 1948 in Prag, ist ein Enkelsohn Heinrich Manns. Seine Mutter Leonie war die einzige Tochter von Heinrich und Maria "Mimi" Mann; Jindrichs Vater war der in der Tschechoslowakei erfolgreiche Schriftsteller Ludvik Askenazy. 1968, nach der gewaltsamen Niederschlagung des "Prager Frühlings", emigrierte Jindrich Mann mit seinen Eltern und dem jüngeren Bruder Ludvik nach Westeuropa. 1990 kehrte er in seine Heimatstadt zurück. (Rowohlt Reinbek)
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Leseprobe:

"Die Bar war ein ernstes Geschäft. Pünktlich halb acht trafen die Mädchen ein." Schon in ihren Abendkleidern, räumten sie auf, aßen zu Abend, warteten auf die ersten Gäste und legten sich die Karten, während Eintänzer und "Verkehrsdamen" auf der Tanzfläche Betrieb mimten. So und durch die Beflissenheit des Portiers wurde Flaneuren das Eintreten erleichtert. Gegen elf war die Bar besetzt. Wenn Heinrich Mann kam, fand er sich schnell von freundlichen Frauen umgeben. Er sah "lange seidene Beine in Schuhen mit roten Absätzen" und ein glitzerndes Etwas, das die Arme freiließ. Schöne Arme um ihn herum aufgestützt, gepudert, seidig matt schimmernd auch die Schultern: Davon umringt zu sein, das genoss er. "Nackte Schultern, mild vom Licht überzogen", die hatten es ihm ja schon als Kind angetan. Und deshalb liebte er diesen für das Berlin der Goldenen Zwanziger so typischen Ort: die Bar. Wo so vieles inflationär war, das Flüchtige sicher, der Werteverfall eine fixe Größe. Die Mädchen hier waren jedermann gegenüber von verlässlicher Liebenswürdigkeit, was viel umfassen konnte, aber in der Regel aufs Animieren zum Dableiben und Mittrinken hinauslief. Eine von ihnen - war es in der Bajadere oder im Kakadu oder anderswo, egal -, sie nannte sich Nelly, vermittelte ihm ein Gefühl von Kontinuität, von Heimat, wie er es tatsächlich nicht im Elternhaus, nicht in den zahllosen Pensionen, Hotels und Kurheimen, ja auch nicht mit Frau und Kind in der gutbürgerlichen Münchner Etagenwohnung empfunden hatte. Diese Nelly machte alles richtig. Der Typ Mann, der da vor ihr saß, war ihr vertraut. Der träumte von Nestwärme für Erwachsene. Und wollte erforschen, zuschauen, mit eigenen Augen sehen, wie Frauen funktionierten, was sie erregend fanden. Ein paar gezielte Berührungen zu gewähren, das kam immer gut an, damit sollte Nelly auch in diesem Fall kein Problem haben, das war im Repertoire einer Bardame durchaus drin. Auch hatte sie genügend Erfahrung, um seinem Spleen, erotisch aufgeladene Situationen in Zeichnungen festzuhalten, verständnisvoll zu begegnen. Der Lebensraum Bar im Berlin der zwanziger Jahre hatte viele Facetten und ein Motiv: Frau macht Mann das Leben angenehm - zum eigenen Vorteil.
Und als das Wohlbehagen Heinrich Mann langweilig zu werden begann, da konnte Nelly mit der Geschichte ihres bisherigen Lebens aufwarten, die den Gast aufhorchen ließ. Gerade das wenig Reputierliche, das Unordentliche zog ihn an, das spürte sie. Einiges wusste sie auch von ihm. Er hatte den Gazetten ja reichlich Stoff geliefert; über die Trennung von seiner Ehefrau und die Affäre mit Trude Hesterberg war lang und breit berichtet worden.
Auf seinen Streifzügen durch die Etablissements um den Kurfürstendamm begleitete ihn in diesen Tagen Wilhelm Herzog, der dreizehn Jahre jüngere Bekannte aus Münchner Zeiten und irgendwie auch Schicksalsgenosse - Ex-Ehemann einer Schauspielerin, auch er und Vater einer Tochter etwa in Goschis Alter. Und so saßen sie eines Tages Nelly gegenüber. Sie nahm sich den Älteren der beiden vor, der mit seinem dunklen Teint, länglichen Zügen, verhängten Augen, dunkelblondem Schnurr- und Knebelbart wie ein spanischer Grande aussah. Ach, wie gut ihm sein Anzug mit Weste stand. Wie hübsch der Ring an seinem leider etwas dicklichen Finger saß. Mit welcher Eleganz er sein Lorgnon handhabte, wenn er die Weinkarte studierte. (...)

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