Jürg Liechti: "Magersucht in Therapie"
Gestaltung therapeutischer Beziehungssysteme
Ein
aktueller Überblick über
Theorie, klinische und ambulante Therapien bei Anorexia nervosa
Aufgrund von Medienberichterstattung und Schicksalsberichten von
Betroffenen meinen viele Menschen, sie hätten eine ziemlich
klare Vorstellung davon, was Magersucht eigentlich ist, wo sie
herkommt, und eventuell sogar, wie sie therapiert werden
könnte. Insofern scheint dieses Thema - außer
für Elendsvoyeure, die gerne Krankheitsberichte lesen -
weitestgehend geklärt zu sein. Was sich für
betroffene Kinder und Angehörige, die meinten,
grundsätzlich Bescheid zu wissen, schnell als Fehler
herausstellt, wenn plötzlich doch eine Anorexie oder eine
Bulimie auftritt.
Der Berner Spezialist Jürg Liechti und seine Mitstreiterinnen haben in diesem Buch die "offizielle" Sicht der verschiedenen Ausprägungen der Magersucht näher unter die Lupe genommen und dabei sehr deutlich wahrnehmbare Realitäten von populärwissenschaftlichen Ideen getrennt, was ja an sich schon ein Verdienst ist. |
"Nicht erst seit den umstrittenen Nacktaufnahmen eines magersüchtigen Models durch den italienischen Benetton-Fotografen Toscani rückt Magersucht immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Fachliteratur setzt sich seit Jahren mit dem Thema auseinander und sucht nach Wegen aus dem oft tödlichen Kreislauf. (...) Die Kernthese lautet, dass die Therapie von Magersucht idealerweise systemische, Verhaltens- und Familientherapie kombiniert. Besonderes Augenmerk wird auf die ressourcenorientierte Kontaktaufnahme mit der Patientin und auf die Gestaltung der Beziehungen aller Beteiligten innerhalb der Therapie gelegt." (Aus dem Klappentext) |
In der Folge stellt der Autor anhand eines Fallbeispiels die vier
grundlegenden Phasen einer Therapie vor, wobei er auch aus anderen
Verläufen exemplarische Momente hinzuzieht, um dem Publikum
auf diese Weise kompakter und überschaubarer einen solchen
Verlauf näher zu bringen. Hierbei spricht er auch einer etwas
längeren Form der systemischen Therapie das Wort. Die Kurz-
und Ultrakurztherapien, in den letzten Jahren mehr und mehr in Mode
gekommen, sind eigentlich nur in einigen Bereichen anwendbar - was ihre
Schöpfer auch immer gesagt haben - aber infolge einer
grundlegenden Hektik und der finanziellen Realität, dass
weniger Sitzungen die Kassen auch weniger Geld kosten, sind diese in
den letzten Jahren immer beliebter geworden, was zum Teil mit
höheren Rückfallquoten "bezahlt" werden musste.
Magersucht ist nicht "billig" beizukommen, und das wird in diesem Buch
ziemlich deutlich.
An diese Beobachtung knüpft ein längeres Kapitel zur
Diagnostik und Differentialdiagnostik an, die auch
Ko-Morbidität mit einschließt, so dass Praktiker und
Berater, die sich noch nicht vertiefend in die Materie eingearbeitet
haben, zumindest Anhaltspunkte bekommen, nach denen sie eine Empfehlung
zur Überweisung an eine geeignetere Hilfsperson machen
können.
Da es sehr viele verschiedene Schulen der Psychiatrie und
Psychotherapie gibt, an die Betroffene geraten können, stellt
Jürg Liechti zunächst einmal verschiedene
Erklärungs- und dann verschiedene Veränderungsmodelle
zur Magersucht vor und geht kurz auf ihren jeweiligen Wert in
Darstellung und Behandlung dieser Krankheitsbilder ein. Diese
Betrachtungen werden mit einer längeren Darstellung zu einem
systemisch orientierten Esstraining im Rahmen einer Gruppentherapie
abgeschlossen.
Das Buch endet mit einer sehr umfänglichen Falldarstellung,
die wiederum exemplarisch aus unterschiedlichen Fällen
zusammengebastelt wurde, mit deren Hilfe ein Therapieverlauf mit
Einbrüchen, Rückschritten, Umorientierungen etc.
verlaufen kann. Eingeschobene Kommentare erläutern das gerade
einfach Dargestellte. Die Konzentration auf eine Bezugsgruppe
erleichtert dabei das Mitdenken, da man sich nicht jedes Mal auf einen
neuen Fall einstellen muss. Weil die Beispieldichte zuvor stellenweise
doch ein wenig hoch erscheint und anekdotische Darstellungen vielleicht
den Lesefluss weniger gehemmt hätten, ist dies ganz gut.
"Elendsvoyeure" werden an den wenig
spektakulären
Fallbeschreibungen keine Freude haben, und insgesamt handelt es sich
bei "Magersucht in Therapie " tatsächlich um eher ein
wissenschaftliches Buch im eigentlichen Sinn als um eine
populärwissenschaftliche Betrachtung. Deswegen kann man das
Buch dem Laien eigentlich nicht zum "Nebenherlesen" empfehlen.
Wer selbst mit der Thematik zu tun hat, als Betroffener,
Angehöriger, Behandelnder oder Lernender, wird durch dieses
Buch und seinen Aufbau viele wichtige Informationen in sehr kurzer Zeit
aufnehmen können und vor allen Dingen feststellen, wo die
Wissenschaft - anders als die Populärwissenschaft - wirklich
noch keine Antworten geben kann.
"Magersucht in Therapie - Gestaltung therapeutischer Beziehungssysteme"
sollte in jeder Fachbibliothek stehen.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 03/2008)
Jürg
Liechti unter Mitarbeit von Monique
Liechti-Darbellay, Sandra Schärer und Corinna Hermann:
"Magersucht in Therapie. Gestaltung therapeutischer Beziehungssysteme"
Carl-Auer Verlag, 2008. 247 Seiten.
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Jürg Liechti, Dr. med.; Studium der Humanmedizin, Experimentellen Medizin, Biologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Systemtherapie. Seit 1985 freiberufliche Praxis in Bern. Supervisor und Lehrbeauftragter an verschiedenen Kliniken und Instituten (Universitäten Bern, Zürich, Basel). Lehrbeauftragter für systemische Therapie an der Medizinischen Fakultät der Universität Bern seit 1998. Gründungsmitglied der "Schweizerischen Gesellschaft für systemische Therapie und Beratung" ("SGS"). Aufbau und Geschäftsleitung des "Zentrums für Systemische Therapie und Beratung" ("ZSB") Bern seit 1995.