Gerhard Markert: "Menschen um Luther"
Eine Geschichte der Reformation in Lebensbildern
Martin
Luther und eine Epoche im Wandel
Dass die europäische Geistesgeschichte wesentlich spannender
ist als die Chemie, dürfte eine Binsenweisheit sein. Doch nun
stellt sich ein Chemiker ein, uns eine entscheidende Epoche deutscher
und europäischer Geschichte zu erklären. Da darf man
gespannt sein ...
Einordnung
Das 15. Jahrhundert kulminierte in "Deutschland" (mit aller
geografischen und politischen Unschärfe) eine Reihe von
Strömungen, die für eine leicht entzündliche
Gemengelage verantwortlich zu machen sind. So ließ die Kraft
der jenseitigen Versprechungen nach, und die Menschen forderten ihren
Anteil am Leben hic et nunc, den jedoch die weltlichen und kirchlichen
Mächte nicht bereit waren preiszugeben. So entstanden in den
1490ern im Südwesten die Bundschuhbewegung und daraus erste
Bauernaufstände, Vorläufer des Deutschen
Bauernkrieges von 1525/26. Kaum von dieser Bewegung zu trennen sind die
Hussitenaufstände, die 1415 auf dem Konstanzer Konzil
sprichwörtlich entzündet wurden. Die als Folge einer
fehlenden Rechtsordnung anzusehenden unsicheren Verkehrsverbindungen
verhinderten den freien Handel und Wandel und somit auch den Wohlstand
dauerhaft; erst das 1495 beim Wormser Reichstag beschlossene
Reichskammergericht setzte dem ein Ende und brachte den lang ersehnten
Landfrieden. Und dann kam - etwas vereinfacht gesagt - 1456 noch ein in
Italien infizierter badischer Wanderprediger namens Peter Luder (Luther
hieß ursprünglich übrigens auch Luder) nach
Heidelberg und öffnete die kulturellen Schleusen der Antike,
und die
Renaissance begann die Reste der
spätmittelalterlichen Unkultur aus den deutschen Landen zu
spülen.
Dieses Mitteleuropa der Renaissance war reif für die
Widerstand, Reformation und Veränderung. Fünfzig
Jahre früher hätte vermutlich niemand den
Augustinermönch in Wittenberg ernst genommen, und
fünfzig Jahre später hätte es seiner nicht
mehr bedurft. Natürlich ist Luther so etwas wie der rote Faden
der Reformation, doch ohne seine Freunde und ohne seine Feinde
hätte er kaum etwas erreicht. Und trotz der fehlenden
politischen Einheit - denn das Kaiserreich war kaum mehr als eine
formale Klammer - zündete dieser Funke der Auflehnung einen
Flächenbrand des Widerstandes, der die Intellektuellen ebenso
wie das einfache Volk erfasste. Zeigte sich hier erstmals der Schatten
einer Nation, 350 Jahre vor ihrem Entstehen? Soweit die Sicht des
Rezensenten auf diese Epoche.
Das Buch
Das vorliegende Buch zeichnet nun das Leben Martin Luthers nach und
bettet darin, teils chronologisch, teils thematisch geordnet, 53
biografische Skizzen von Personen aus dieser Zeit ein, Freunden wie
Gegnern, und sieht man von Jan Hus ab, auch Zeitgenossen.
Die (vatikanische) Kirche der Zeit Luthers zeigte einige Ausformungen,
die sich nach Luthers Ansicht nicht aus der allein
maßgeblichen Schrift (sola scriptura) ergaben, der groteske
Züge annehmende Ablasshandel ist wohl die berühmteste
Untugend. Es entstand die bekannte Generalabrechnung der 95 Thesen, die
im Oktober 1517 an das Hauptportal der Schlosskirche in Wittenberg
angeschlagen wurden.
Die Städte mit ihren mündigen und rechtlich
gleichgestellten Bürgern bildeten die ersten Keimzellen des
Protestantismus, der auch deshalb so attraktiv war, weil er das
bischöfliche Recht ablehnte. "Weil die Ehe als
Sakrament galt, unterstand auch das Familienrecht bis hin zu
Erbstreitigkeiten der bischöflichen Jurisdiktion, die
obendrein über das geistliche Instrumentarium des Kirchenbanns
verfügte. Dadurch blieb dem Rat einer Stadt kaum noch
Spielraum, in den eigenen Mauern für Recht und Ordnung zu
sorgen. Deshalb war die Eindämmung der bischöflichen
Rechtsprechung für die Städte ein Kernpunkt der
Reformation. Akute Probleme gab es bisweilen mit den Klöstern
in der Stadt. Die Bettelmönche lebten von den Almosen der
Bürger und erbrachten dafür Leistungen in der
geistlichen Versorgung und Armenvorsorge. Die Klöster genossen
zwar den Schutz der Stadtmauern, rechtlich waren sie aber
extraterritoriales Gebiet, in dem ein auswärtiger
Ordensprovinzial das Sagen hatte, der sich auch in höchster
Instanz auf den Papst berufen konnte."
Luthers innere Logik formuliert der Autor so: "Eigentlich war
Mutter Kirche immer noch Luthers Heimat. Wenn er nun, was er kommen
sah, ausgestoßen würde, dann musste er sich einen
Reim darauf machen: Ein Bann war nur dann gerecht, wenn er durch die
Schrift begründet werden konnte. Ein ungerechter Bann, der
sich auf Dekrete stützte, die der Schrift widersprachen,
können nur vom verhängt sein vom Antichrist."
Eines der Kernprobleme dieser Zeit beschreibt der Autor wie folgt: "Aus
religiösen Gründen mussten sie (die
Reichsstände, also die Reichstagsdelegierten) Luther
zuneigen, der mit dem 'klaren Wort Gottes' die Unmoral und Machtgier
der römischen Kirche in die Schranken wies und ihnen aus dem
Evangelien heraus religiöse Mündigkeit zusprach. Der
Haken war nur, dass auch der gemeine Mann diese Freiheit für
sich in Anspruch nehmen konnte. Nur wenige erkannten die volle
Reichweite der religiösen und politischen Mündigkeit
unter dem Evangelium." Darin, dass er seinen
Anhängern - und in Folge nicht nur diesen - den Weh aus der
Unmündigkeit heraus aufzeigte, liegt Luthers geschichtliche
Größe. Doch seine geschichtliche Tragik entstand in
dem Moment, als sich große Teile der Mittelschicht in den
Bauernkriegen genau darauf beriefen und Luther ihnen die
Unterstützung verwehrte und den Fürsten empfahl, die
Bauern totzuschlagen wie tolle Hunde. Das blendet man bei der
Betrachtung Martin Luthers vorzugsweise aus.
Fazit
Das Buch kann wegen der fehlenden Quellenangaben nur als Lesebuch
gelten und wird auch als solches vom Verlag angeboten. Doch darin
alleine steckt noch kein Urteil, denn es kommt allein auf den Text an:
ein spätes sola scriptura, gewissermaßen. Und dieser
Text ist sprachlich exquisit, was natürlich auch von einem
ausgezeichneten Lektorat und Korrektorat zeugt. Die wichtigsten
Strömungen der Zeit sind aufgezeigt, auch wenn man einzelne
Aspekte durchaus hätte vertiefen können. Die
Befürchtung, dass es sich insgeheim um eine Luther'sche
Hagiografie handeln könnte, hat sich nicht bewahrheitet. Denn
selbst mit einem ausschließlich historischen oder
kulturhistorischen Fokus liest sich das Buch sehr gut, auch wenn sich
noch ein paar kleinere formale und inhaltliche Anmerkungen ergeben
haben. Man erhält ein Bild Luthers, der Reformation und
Porträtskizzen einer ganzen Reihe von Akteuren dieser Zeit.
Letzteres nicht ganz überraschend, denn Paul Schmidts
"Humanisten im deutschen Südwesten", eine Sammlung
lesenswerter biografischer Porträts dieser Zeit, erschien
ebenfalls bei Thorbecke. So ergab sich womöglich aus dem
Interesse des Autors an Luther und dem Vorbild der Schmidt'schen
Porträtsammlung die Idee zu diesem Buch.
Als vorbildlich sind die im Text platzierten und typografisch
hervorgehobenen Definitionen einzuordnen, die kontextuell Begriffe
erklären oder aber im Stil von Anmerkungen
Hintergründe behandeln. Das kaum zu
überschätzende Reichskammergericht, das in einem
Nebensatz zu Franz von Sickingen auftaucht, wäre wohl einer
kleinen Würdigung wert gewesen. Man darf gespannt sein, was
uns der Jan Thorbecke Verlag in Zukunft noch aus dieser Zeit
präsentieren wird ...
(Klaus Prinz; 03/2008)
Gerhard
Markert: "Menschen um Luther.
Eine Geschichte der Reformation in Lebensbildern"
Jan Thorbecke Verlag, 2008. 376 Seiten, mit zahlreichen
Schwarz/Weiß-Abbildungen.
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