Bernard Stiegler: "Die Logik der Sorge"
Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien
Aufmerksamkeitsverluste
Das vorliegende Bändchen enthält die Kapitel 1 - 6
der französischen Originalausgabe 'Prendre Soin. De la
jeunesse et des générations'
vom selben Autor - und möchte uns eigentlich den 'Verlust der
Aufklärung durch
Technik und Medien' (Untertitel) erläutern. Im globalen
Kapitalismus führt die
Übermacht der Medien in eine "Infantilisierung der
Gesellschaft,
strukturelle Verantwortungslosigkeit und gesamtgesellschaftliche
Aufmerksamkeitsstörung" (vgl. Klappentext) - so die
Ausgangsthese
Stieglers, Leiter der Abteilung 'Kulturelle Entwicklung' im Centre
Georges
Pompidou.
Was ist nur aus dem Wahlspruch der Aufklärung "Habe
den Mut, dich
deines eigenen Verstandes zu bedienen!" geworden?!
Mündigkeit setzt
den Mut und den Willen zum Wissen voraus. Kant sieht "Faulheit
und
Feigheit" als Ursachen der (freiwilligen)
Unmündigkeit. Stiegler macht
sich nun so seine Gedanken, wie sich private und öffentliche
Vernunft
vermitteln lassen und welche rolle die Intelligenz und das Buch
respektive das
Lesen spielen im Prozess der Aufklärung. Denn dass
Aufklärung ein Prozess ist,
steht für jeden vernünftig denkenden Menschen fest.
Allerdings hat für
Stiegler die Telekratie die Demokratie abgelöst - und
Untersuchungen belegen,
dass erhöhter Fernsehkonsum die Studierfähigkeit
vermindert! Überdies wird
unser Bewusstsein zusehends von Verwirrung und
Gleichgültigkeit dominiert -
Stiegler plädiert hier für eine "Ökonomie
der Aufmerksamkeit".
Die Frage nach dem in der Moderne praktizierten sogenannten multitasking
und seiner Effektivität stellt sich ebenso wie die Gefahr der
Übersteigerung
in eine hyper attention, die sich
eigentlich durch zapping
und switching
auszeichnet. Die Synoptogenese der jüngeren Generationen
unterliegt den "Psychotechnologien
der Programmindustrien als Instrument der Liquidierung von
Aufmerksamkeit".
Konzentration und Konsumtion sind sich im Wege, Filterung und
Symbolisierung
sind Stadien des Aufmerksamkeitsprozesses. Man betrachtet heute nicht
mehr die
Welt sondern ihre Reproduktion. Die Wahrnehmungsprozesse sind
digitalisiert, was
eine neuartige Grammatikalisierung der Umweltobjekte bedeutet. Stiegler
stellt
die Frage nach der "Erhöhung des allgemeinen
Bewusstseinsniveaus",
indem er die "Ökologie des Geistes" mit
der "Ökologie
des politischen Milieus" verknüpft. Er
problematisiert den Unterschied
zwischen Mündigkeit und Unmündigkeit als den
permanenten "Horizont der
kommenden Menschheit" - denn er befürchtet, dass die
Menschen "niemals
vollends mündig" werden, weil eine "Verschwörung
der Faulheit
und Feigheit" alle befallen hat. Vielleicht stellt sich ja
heute schon
zum letzten Mal die Frage nach den Möglichkeiten der
Entwicklung des
Individuums und der Gesellschaft, weil es im Prozess der
Globalisierung
und
Digitalisierung dieses Kriterium (der Entwicklung) gar nicht mehr geben
wird.
Stiegler registriert "vielfältige Formen der
Aufmerksamkeitszerstörung"
- was für ihn ein "kollektives Krankheitsbild"
darstellt. Es
herrscht ein "cognitive overflow
Syndrom" - wobei die verfügbare "Aufmerksamkeitsquantität"
begrenzt ist und die Aufmerksamkeitsqualität rapide abnimmt.
Letztendlich sind
wir zu "Kontrollgesellschaften geworden, deren
Psychotechnologie das
Zentralorgan im Dienst des Marketing ist." Die erschreckende
Folgerung
daraus ist, "dass das Marketing den jugendlichen Nihilismus
und die
Infantilisierung der Erwachsenen organisiert." Wahrnehmung
und wissen
werden zunehmend "an
Maschinen
delegiert". Wenn man
bedenkt, dass
Mündigkeit eigentlich eine Form der Aufmerksamkeit und der
Bildung ist, müsste
man tatsächlich befürchten, dass wir eine "allgemeine
Situation der
Gleichgültigkeit: eine vollständige Abwesenheit der
Sorge" als künftigen
Existenzrahmen bekommen. Auch diesbezüglich gibt es eine
Verantwortung den
folgenden Generationen gegenüber. Wenn wir weiterhin die
kritische Vernunft zurückdrängen
zugunsten einer funktionalen Disziplin, wird zwar rein
äußerlich ein
gesellschaftliches System zelebriert werden - aber man
bräuchte keine Menschen
mehr dazu, es würden Roboter genügen.
Mündigkeit ist nur ein anderer Begriff
für Menschlichkeit - und wir dürfen uns von der
Technologie nicht entmündigen,
ja entwürdigen lassen. Aufmerksamkeit ist in vielfacher
Hinsicht geboten!
(KS; 06/2008)
Bernard
Stiegler: "Die Logik der Sorge.
Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien"
Aus dem Französischen von Susanne Baghestani.
Suhrkamp Verlag, edition unseld 6, 2008. 191 Seiten.
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Weiterer Buchtipp:
Michel Foucault: "Schriften zur Medientheorie"
Michel Foucault war Philosoph und Historiker, Begründer einer bestimmten Spielart der Diskursanalyse, aber kein Medienwissenschaftler. Nie empfahl er seine Schriften als "Rezepte" für irgendeine Denkweise oder gar Fachdisziplin, sondern nannte sie lieber "Werkzeuge" und sogar "Träume".
Darin kommt eine von Foucault kultivierte "experimentelle Haltung" zum Ausdruck, die sowohl für seine großen Abhandlungen als auch für seine Essays, Vorträge und Gelegenheitsäußerungen zu Malerei und Fotografie, zur Musik und zum Kino, zur Ordnung des Diskurses und zum Rauschen der Informationstechnologien prägend war. Der Band versammelt erstmals all jene (kürzeren) Texte, in denen Foucault die Entstehung und den Wandel der heutigen Medienkultur beleuchtet.
Paul-Michel Foucault wurde am 15. Oktober 1926 in Poitiers als Sohn einer angesehenen Arztfamilie geboren und starb am 25. Juni 1984 an den Folgen einer
HIV-Infektion. Nach seiner Schulzeit in Poitiers studierte er
Philosophie und
Psychologie in Paris. 1952 begann seine berufliche Laufbahn als Assistent für Psychologie an der geisteswissenschaftlichen Fakultät in Lille. 1955 war er als Lektor an der Universität Uppsala (Schweden) tätig. Nach Direktorenstellen an Instituten in Warschau und Hamburg (1958/1959) kehrte er 1960 nach Frankreich zurück, wo er bis 1966 als Professor für Psychologie und Philosophie an der Universität Clermont-Ferrand arbeitete. In diesem Zeitraum erschien 1961 seine Dissertationsschrift "Folie et déraison. Histoire de la folie à l'âge classique" (dt.: "Wahnsinn und Gesellschaft"). Er thematisierte darin die Geschichte des Wahnsinns und das ustandekommen einer Abgrenzung von geistiger Gesundheit und Krankheit und die damit einhergehenden sozialen Mechanismen. 1965 und 1966 war er Mitglied der Fouchet-Kommission, die von der Regierung für die Reform des
Nach einem Auslandsaufenthalt als Gastprofessor in Tunis (1965-1968) war er an der Reform-Universität von Vincennes tätig (1968-1970). 1970 wurde er als Professor für Geschichte der Denksysteme an das renommierte Collège de France berufen. Gleichzeitig machte er durch sein vielfältiges politisches Engagement auf sich aufmerksam. In diesem Kontext entstand die Studie Surveiller et punir" (dt.: "Überwachen und Strafen").
1975-1982 unternahm er Reisen nach Berkeley und Japan sowie in den Iran und nach Polen. (Suhrkamp)
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