Günter Kunert: "Auskunft für den Notfall"

Herausgegeben von Hubert Witt


Kultur ist unverzichtbar!
Günter Kunerts persönliche Anmerkungen zur Lage


Günter Kunert schreibt kein Tagebuch und keine Autobiografie. Gleich zu Beginn dieser Essaysammlung betont er, dass er, vorsichtshalber, kein Tagebuch schreibe. Denn auch wenn das sogenannt "Private" ausgesprochen wird, bleibt es doch unausgesprochen, weil es eben unaussprechlich ist und durch Aussprechen in trostloser und oft lächerlicher Weise nichtig wird. Was aber nicht heißt, dass jemand, der seit einem halben Jahrhundert schreibt und zu den produktivsten Schriftstellern Deutschlands, Ost wie West, gehört, keine privaten Spuren hinterlässt. Sein literarisches Werk ist nicht nur eine Chronik seiner Existenz, sondern vor allem eine "Chronik der laufenden Ereignisse", die immerhin fast die gesamte Zeitspanne nach 1945 umfasst.

1950 erschien Kunerts erster Gedichtband, welcher der Beginn eines kaum noch überschaubaren schriftstellerischen Werks werden sollte, das allein schon durch seine Vielseitigkeit beeindruckt. Zu der Lyrik gesellten sich Kurzgeschichten und Erzählungen, Essays, Glossen und Satiren, Märchen und Sciencefiction, Hörspiele und Drehbücher, Reden, Reiseskizzen, eine Vielzahl von Vor- und Nachworten zu Veröffentlichungen von anderen Autoren, Libretti, Kinderbücher, ein Roman, ein Drama und Anderes mehr. Kunert, der in Ost-Berlin lebte und arbeitete, war zwar SED-Mitglied, jedoch kein Ideologe. Auch dieser Umstand machte ihn zu einem der meistgelesenen DDR-Autoren. Seit den 1960er-Jahren wurden Kurzprosa und Verse merklich skeptischer, was zu Problemen mit den DDR-Kulturbehörden führte, Kunert aber im Westen bekannt machte. 1976 gehörte er zu den Erstunterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann, worauf ihm 1977 die SED-Mitgliedschaft entzogen wurde. Zwei Jahre später ermöglichte ihm ein mehrjähriges Visum das Verlassen der DDR. Er ließ sich in Schleswig-Holstein nieder, wo er bis heute als freier Schriftsteller lebt. Nunmehr in der Gewissheit, dass alle transzendentalen Stützen wie Gott, Marx & Co. insofern das Zeitliche gesegnet haben, als wir weitgehend auf uns selbst, unsere eigene Geistigkeit, kurz "Intellekt" genannt, gestellt sind.

"Ich gestehe", so schreibt er 1992, "ich stehe auf unsicherem Boden. Die Fragen häufen sich, und die Antworten bleiben aus." Welche Fragen sich Kunert stellt und wie er sie zu beantworten sucht, darüber erteilt diese  Essaysammlung beredt "Auskünfte für den Notfall". Im Mittelpunkt dieser aus den Jahren 1983 bis 2006 stammenden Essays und Feuilletons, die in sehr unterschiedlichen, weil überregionalen wie regionalen Zeitschriften ursprünglich publiziert waren, stehen Fragen nach Bedeutung und Funktion von Kultur und Geschichte für den Einzelnen im Hier und Heute. Und immer wieder stellt Kunert seinen eigenen Boden, auf dem er gestanden ist oder steht, in Frage. Erstaunt stellt er fest, wie sehr die Brüche und Wandlungen der Epoche in seinen Texten ablesbar sind. Mit Staunen vermerkt er das Übermaß an Hoffnungen in den Nachkriegsjahren, die Wissenschaftsgläubigkeit sowie die Annahme, dass früher oder später doch die Vernunft siegen müsse. Dagegen stellt er die Kultur. Mit Nachdruck, Polemik und Witz analysiert er die Selbstüberschätzung der Künstler und Schriftsteller, die er als eine Folge der historischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts sieht und vermutet in der Populärkultur ein Instrument der Gleichschaltung, da sie das Reflexionsvermögen ausschaltet. Und kommt damit zu seinem eigentlichen Anliegen: Kultur ist unverzichtbar. Das ist Kunerts Kernsatz, der nicht nur diese Essays, sondern sein ganzes Werk durchzieht. Kultur als Mittel und Ausdruck der Reflexionsfähigkeit, als Mittel der Kompensation der täglichen Oberflächlichkeit und als Sinnstiftung - wie können Menschen darauf verzichten? Und was es mit der Literatur konkret auf sich hat, erläutert er in Porträts von so unterschiedlichen Schriftstellern wie Michel de Montaigne, Theodor Lessing, Primo Levi, Günther Anders und Wolf Biermann.

Zugegeben, es sind eher die dunkleren Seiten unserer zivilisatorischen Existenz, die Günter Kunert, wie es einem deklarierten Pessimisten geziemt, unter der intellektuellen Lupe betrachtet und seziert, aber immer dann, wenn er ein besonders bemerkenswert hässliches Detail findet, scheint er von seinem Studierplatz aufzustehen und einen Schritt zurück zu machen, um die Welt um ihn herum mit Witz und Ironie wieder ins Lot zu bringen. Und blickt weiterhin unverdrossen der Realität ins Auge. Wie in seinen "Unorthodoxen Gedanken" zum Alter, wo er allen medialen Aufmunterungen zum Trotz auf seine tatsächliche Wahrnehmung besteht, wonach Alter auch heißt, dass dem Gros der Leidenden, der chronisch Kranken und Altersdepressiven nur eine Minderheit gut gelaunter Greise und Greisinnen gegenübersteht.

Günter Kunert ist Dichter und Intellektueller, der, vorsichtshalber, "Auskunft für den Notfall" erteilt, wie der Buchtitel lautet. Das heißt, wenn jemand daran interessiert ist, sich darüber Gedanken zu machen, was Kultur denn eigentlich ist, wofür sie gut ist, oder auch nicht, wozu Erzählungen, Gedichte, Romane im besonderen und andere Kulturzeugnisse im allgemeinen, nützlich sind. Mit einem Wort, was Kultur für das Menschsein bedeutet. Wer sich jemals diese Fragen stellte, der ist mit diesem Band bestens bedient. In kurzen und längeren Essays erteilt Kunert tatsächlich Auskunft für den (Not-)Fall.

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 06/2008)


Günter Kunert: "Auskunft für den Notfall"
Herausgegeben von Hubert Witt.
Carl Hanser Verlag, 2008. 301 Seiten.
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Günter Kunert wurde am 6. März 1929 in Berlin geboren und studierte Grafik in Ostberlin. Günter Kunert starb am 21. September 2019 in Kaisborstel in Schleswig-Holstein.

Leseprobe:

Und warum noch lesen?

Warum ein Schriftsteller schreibt, ist zur Genüge bekannt. Die Psychoanalyse hat uns das Geheimnis enthüllt. Schreiben bedeutet Kompensation eines Mangels, punktum, basta! Doch das eigentliche Rätsel, nämlich warum der Leser liest, ja, unter den gegenwärtigen Umständen überhaupt noch liest, ist sowohl unerforscht wie ungeklärt.
Zwar liest auch der Verfasser manchmal das von anderen Verfaßte, doch aus ziemlich durchsichtigen Gründen. Er will sich freuen oder ärgern. Er freut sich über die Minderwertigkeit fremder literarischer Produkte und ärgert sich, sobald sie seinen eigenen überlegen sind. Unter anderem will er durch Lesen seiner von Routine erschöpften Phantasie auf die Sprünge helfen. Mit einem Wort: Der Autor liest nicht wie ein Leser.
Aber wie, wozu und weshalb befaßt sich der Normalmensch, der Durchschnittsbürger, der Homo sapiens deutscher Provenienz mit einem Buch? Versetze ich mich in seine Person, ergreifen mich sofort seltsame Vorstellungen und Empfindungen. In der Haut des potentiellen Lesers stehe ich schreckensstarr vor dem Gaurisankar (ein Gipfel des Himalaja; Anm. www.sandammeer.at) von Druckerzeugnissen, die jährlich den Markt sintflutartig überschwemmen, und ich frage mich: Wer zum Teufel soll die Tausende und Abertausende neuer Titel denn noch lesen? Und auf diese stumme Frage antwortet eine laute Stimme von irgendwoher, entweder aus dem Verlagswesen oder aus dem Druckereigewerbe: Du natürlich, mein lieber Leser!
Als Leser erkenne ich betroffen: Ich bin das Opfer einer Zivilisation geworden, einer Kultur, vor der es keine Rettung gibt und die in alle Ritzen dringt, bis in den letzten Winkel des Großhirns und bis in die letzten Falten der Seele, falls man noch einer teilhaftig wurde. Vor allem verblüfft mich die absolute Selbstverständlichkeit jenes Vorganges, der unter Halbgebildeten "Rezeption" genannt wird. Wie man Autos und Straßen benutzt, weil sie vorhanden sind, ohne weitere Bedenken oder Einwände, ist der Leser gehalten, Bücher zu lesen. Und erst im Moment der Selbstbefragung, also jetzt eben, erscheint ihm diese Vornahme als ganz und gar unnatürlich.
Begreiflich immerhin ist der Kauf und das Studium von Sach- und Fachbüchern. Man bildet sich fachlich und sachbezogen weiter, der Karriere halber oder um der Erleichterung des Alltags willen. Heutzutage ist jeder von uns ein Hobbyist: Niemand pflanzt mehr Schnittlauch an, ohne sich sachkundig gemacht zu haben. Wer zehn Kilometer weiter fährt als gewöhnlich, ersteht vorher einen Reiseführer. Alles, was im Hause repariert oder kaputtgemacht werden kann, lernt man aus den entsprechenden Anweisungen, denen die Buchhandlungen wachsende Abteilungen widmen. Aber die Belletristik? Die Erzählung? der Roman? Gar: das Gedicht? Wozu und weshalb heute noch ein Gedicht lesen? Kaum hat man die erste, meist unverdauliche erste Zeile hinter sich gebracht, ist man schon bei der letzten angelangt, ohne dabei etwas Wesentliches über Schnittlauch, Basteln, Kreuzstich oder Rimini erfahren zu haben.
Ich hege den Verdacht, der Autor nimmt mich, den Leser, nicht mehr ernst. Er setzt mir eine Speise vor, die mich nicht satt macht. Und wenn ich mir darauf einen unmodernen Reim machen wollte, ließe sich denken, daß die aktuelle und akute Politisierung des Autors daher rührt - weil er mir sonst nichts mehr mitzuteilen hat. Manchmal möchte man meinen, daß sogar die erstaunliche Anzahl von Schriftstellern als geheime Staatssicherheitsmitarbeiter einzig aus der kreativen Schwäche resultierte. Wer kein Thomas Mann und kein Kafka, kein Paul Celan und Uwe Johnson war, der schrieb eben einen intimen Bericht über einen Kollegen: das war was Handfestes, verbunden mit der Gewißheit von der besonderen Aufmerksamkeit des speziellen Lesers. Wo die Verhältnisse anders lagen und liegen, bieten diverse gesellschaftliche Desaster die allerbeste Gelegenheit, über die Fragwürdigkeit des eigenen Talentes unauffällig hinwegzulavieren. Die Vereinigung oder Wiedervereinigung Deutschlands - hier liegt übrigens noch keine endgültige Sprachregelung vor - bot den einzigartigen, vermutlich leider einmaligen Anlaß, im Schutz der persönlichen Meinung literarische Falsifikate in Umlauf zu setzen. Eine Literatur aus dem Farbkopierer: Die Blüten, die mir, dem Leser in die Hand gedrückt werden, wirken fast echt, sind es aber nicht, wie man viel zu schnell feststellt. Warum liest man das denn noch, wo man bloß diese oder jene Zeitung aufzuschlagen brauchte, um dasselbe unangestrengter "rezipieren" zu können? Glücklicherweise hält die Wirkung von Literatur, selbst der besseren, nicht vor, so daß der Schaden gering bleibt. Was wäre ich, der Leser, ohne die Fähigkeit des Vergessens? Zumindest ein schlechter Kunde, der mit fünf bis zehn Standardwerken der Weltliteratur auskäme, nach deren "Rezeption" er ohnehin kein Bedürfnis verspürte, die meisterhaft und ästhetisch befriedigend dargestellten menschlichen Konflikte in der Fassung für Fastfood-Leser zu konsumieren.
Vielleicht lese ich auch nur, um das Alphabet nicht wieder zu verlernen, obschon man seit der Erfindung des Fernsehens ganz gut ohne auskommt. Freilich setzt auch dieses Medium immer noch das Studium der Programmzeitschrift voraus, damit man eine Entscheidung für den Abend treffen kann. Und sollte plötzlich und völlig unerwartet eine Situation entstehen, die jede Alternative ausschließt, etwa Volksmusik oder Fußball auf allen Kanälen, öffnet sich vor einem ein Abgrund, erhebt sich drohend das Gespenst visueller Leere, und die letzte Möglichkeit, besagter Leere zu entgehen, heißt: Jetzt wird gelesen! Und zwar ein "gutes" Buch! Schließlich: ein "gutes" Buch besitzt jeder. Die Möbelindustrie hat in weiser Voraussicht und in ihrer großen Güte in der Schrankwand ein Fach freigelassen, das just den normalen Buchformaten entspricht. Und Buchgemeinschaften und andere ehrenwerte Gesellschaften, denen man in einem Moment totaler geistiger Abwesenheit unvorsichtig seine Unterschrift überließ, haben einen ja mit dem Stoff versehen, aus dem heute keine Träume mehr sind.
So trete ich denn also vor meine Bücher hin, die doch nur als Dekoration gedacht waren und Gästen gegenüber meinen intellektuellen Anspruch demonstrieren sollten und nun ernstlich aufgeschlagen werden müssen. Mein Gott, man erinnere sich doch nur der langen menschheitlichen Vorgeschichte, dieser gemütlichen Jahrzehntausende der Schriftlosigkeit, wo uns auch nichts fehlte und wir einander unbelasteter totschlagen konnten, ohne buchstäblich dafür oder dagegen Stellung nehmen zu müssen! Aber dann machten sich Ausländer ans Werk, Südländer natürlich, und weil der Mensch in seiner maßlosen Dummheit und Eitelkeit jede Mode mitmacht, verbreitete sich die Schrift sogar bis zu uns, zu den Deutschen, die, weil sie mit dem fixierten Wort derart spät bekannt wurden, vor demselben auch eine extreme Hochachtung hegen. Es bildete sich aber, das weiß man ja als Leser von den Wissenschaftsseiten der Tagespresse her, mit der Aufklärung in Deutschland die Illusion aus, unsere Sprache, insbesondere die aufgeschriebene, sei mit der Vernunft gleichzusetzen, zumindest soweit mit Vernunft zu erfüllen, daß jedermann, der zu lesen imstande sei, ebenfalls vernünftig werde. Diese Geschichte stammt nicht von Hans Christian Andersen oder den Gebrüdern Grimm, wurde aber tatsächlich bis in unsere Epoche geglaubt. Denn noch ein anderer deutscher Märchenerzähler namens Bertolt Brecht beglückte uns mit seiner kleinen Story von der "Widerstandskraft der Vernunft". Die großen Geister in unserem Vaterland, die klugen Köpfe mit dem fehlenden Realitätssinn, haben dem Leser eben diese Vernunft angepriesen und aufgedrängt, als sei es Manna vom Himmel. Und der Leser hat es geschluckt, mit mehr oder weniger Genuß, und es dann wieder ausgeschieden und dieserart vorgeführt, daß zwischen Literatur und Realität ein Unterschied, falls nicht gar eine unüberwindliche Diskrepanz existiert. Und insofern war der Moment abzusehen, da ich, der Leser, mich fragte: Wenn alle Lektüre mir nicht geholfen hat, ein bißchen humaner, ein bißchen einsichtiger zu werden - wozu lese ich dann überhaupt noch? Verlorene Zeit, während welcher ich Besseres unternehmen könnte. Etwa Schnittlauch säen oder basteln oder fernsehen.
Dennoch: ich gestehe, daß ich immer wieder mal zum Buch greife. Es scheint da etwas wie eine immaterielle Anziehungskraft zu geben, die diesen Griff veranlaßt. Und ich merke, daß alle meine Vernunftargumente gegen das Lesen mir das Lesen immer noch nicht ausgetrieben haben. Es sind halt rein rationale Argumente, und wer ist schon rationalen Argumenten zugänglich? Man wird hin und wieder von einem seltsamen Zwang befallen, zieht eine Schwarte aus dem Regal, ein dickleibiges Druckerzeugnis, um sich darein zu vertiefen. Und siehe: es geschieht etwas höchst Eigentümliches: Man verschwindet einfach zwischen den Seiten, ohne es zu bemerken. Ein Gefühl von Leichtigkeit stellt sich ein. Man verliert den Erdenrest, der man gewesen ist und zu dem man nach Zuklappen des Einbandes wieder wird. Dabei weiß man doch, alles ist Betrug und Täuschung, weil ja alles nur erfundenes Geschehen ist, das uns einbezieht, erdachte Figuren, mit denen wir lachen oder leiden. Aber wir wollen ja auch betrogen und getäuscht werden. Aus unserem Dasein oder, pathetischer gesagt: aus unserem Sein ist jede Transzendenz entwichen, wie die Luft aus einem Autoreifen. Unsere irdische Existenz ist heruntergewirtschaftet bis auf die materiellen Knochen, bis auf ein verdinglichtes Überbleibsel, bis auf unser fremdgeartetes Ich, mit dem wir jede nähere Begegnung scheuen. Gott und die Götter haben sich von uns abgewandt oder wir von ihnen. Unsere Visionen von zwischenmenschlicher Harmonie sind in Blutbädern untergegangen. Die großen Ideale sozialen Ursprungs sind von betriebsamen Kleingärtnern ausgejätet worden. Unsere Anwesenheit auf diesem kränkelnden Planeten ist durch kein Prinzip Ethik, durch kein Prinzip Fortschritt und durch kein Prinzip Hoffnung legitimiert. Wir haben all die einstmals tauglichen spirituellen Krücken eingebüßt und hinken nun mühselig durch unsere Gegenwart. Unser Zustand ist bedauernswert, aber keiner bedauert uns wirklich, weil wir zum Mitleid, auch mit uns selber, kein Talent mehr haben. In der Ungunst dieser Stunde, da wir orientierungslos und deprimiert, gelangweilt und verängstigt, nichts Rechtes mit uns anzufangen wissen, da erscheint überraschend, ähnlich wie einst Athene dem Haupt des Zeus entsprungen, eine hilfreiche Dienerin an unserer Seite, um uns ein wenig zu stützen: die Literatur.
Wir hören zwar nicht auf zu humpeln, doch werden wir angenehm darüber hinweggetäuscht, jedenfalls zeitweilig und - last not least - auch kurzweilig. Beim Lesen kommt uns unser eigenes Leben sinnvoll vor, da wir es mit der Sinnfülle unserer Lektüre synchronisieren. In den Erscheinungen rasender Flucht wirkt Literatur unvermutet als Halt, als Fixpunkt, als von übergreifender Bedeutung trächtig. Diese Bedeutung, die selbstverständlich ebenfalls eine Täuschung ist, eine Projektion auf und in den Text durch den Leser höchstselbst, signalisiert wie ein Elmsfeuer die frohe Botschaft von der Unzerstörbarkeit des Menschentums. Lesend erfahren wir uns eingebunden in die Abfolge der Generationen. Indem wir Geschichten lesen, geraten wir unbewußt in die Geschichte, in eine durch Imagination verlebendigte Historie. Ob Grimmelshausen oder Chamisso, ob Defoe oder Dante, Gogol oder Cervantes - sie werden beim Lesen zu Zeitgenossen und rufen, trotz ihres unleugbaren Totseins, die Illusion hervor, sie hätten soeben erst ihr Werk vollbracht. Ihre Begabung, meinetwegen ihre Genialität, ihr künstlerisches Vermögen, erweckt den Anschein von zeitlicher und räumlicher Nähe. Es ereignet sich, was die Science-fiction-Utopien nur behaupten: Zeitschranken fallen, wir wandern durch die Vierte Dimension, durch Epochen und über Kontinente, als seien wir unserer Physis, unserer irdischen Lasten los und ledig. Von der Lektüre gefesselt, fallen die Fesseln der Wirklichkeit.
Was religiöser wie säkularer Glaube bisher angeboten haben, das verspricht nun die Literatur, übrigens ohne ihr Versprechen halten zu können, wie andere metaphysische Schemen gleichfalls nicht. Aber sie schenkt uns die Überzeugung vom Sinn unsererselbst. Und wäre der Ausgang unserer eigenen Geschichte noch so dramatisch und noch so tragisch, mit Hilfe der Literatur vermöchten wir selbst noch im Untergang mehr zu erkennen als nur die Auslöschung eines Ameisenhügels. Ungleich der Lese-Intention des Schriftstellers und seinem Verlangen doch ähnlich: so liest auch der Leser - zwecks Kompensation eines Mangels. Darin besteht wohl des Rätsels Lösung, warum immer noch gelesen wird ...

(16. 5. 1993)

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