Milan Kundera: "Die Unsterblichkeit"
Die Kunst der Vieldeutigkeit
"Wer heute noch so verrückt ist, Romane zu schreiben, sollte wenigstens
darauf achten, dass der Inhalt nicht nacherzählbar ist. Ein Roman ist schließlich
kein Fahrradrennen mit Start und Ziel, er gleicht vielmehr einem Menü aus
mehreren Gängen", erklärt Milan Kundera seinem Freund Prof. Avenarius,
um ihm die ungewöhnliche Struktur seines entstehenden Romans zu verdeutlichen.
Damit hat er gleichfalls den Duktus des Buches umrissen. Dessen Inhalt ist
wahrhaftig schwer nacherzählbar und zum Verständnis der wunderbaren Zeilen aus
der Feder des tschechischen Schriftstellers, der seit 1975 in Frankreich lebt,
auch gar nicht wichtig. Kundera selbst legt die Begründung in seinen zweiten
Satz. Denn wer muss und will schon die exakte Zubereitung, die detaillierten
Zutaten einer genussvollen Speisenfolge kennen. Als solche zumindest kann man
Milan Kunderas Werk ohne Zweifel bezeichnen. "Die Unsterblichkeit" ist
ein vorzüglich "konfektioniertes", mit feinsten Ingredienzien
veredeltes und perfekt angerichtetes Menü in sieben Gängen (Kapiteln).
Schon die "Vorspeise" (1. Kapitel) zeichnet sich als kleine
Delikatesse aus. Kundera platziert sich selbst in einen mondänen Pariser Fitness-Club,
wo er eine etwa sechzigjährige Dame beim Schwimmunterricht beobachtet. Beim
Abschied von ihrem jungen Lehrer fasziniert ihn eine graziöse Handbewegung der
reifen Frau, die beinahe losgelöst von ihrem nicht mehr jugendlichen Körper im
Raum stehen bleibt ("Mit einem bestimmten Teil unseres Wesens leben wir
außerhalb der Zeit. Vielleicht wird uns unser Alter überhaupt nur in außergewöhnlichen
Momenten bewusst, und wir leben die meiste Zeit alterslos."). Diese mit
einer bezaubernden Leichtigkeit ausgeführte Geste - ein Winken - offenbart
solch eine Anmut, dass der Autor das Bedürfnis verspürt, einen Roman daraus zu
machen ("eine von der Zeit unabhängige Essenz ihrer Anmut hatte sich für
einen Augenblick in einer Geste offenbart und mich geblendet").
Seine Protagonistin nennt er Agnes - eine Mittvierzigerin. In den folgenden zwei
Jahren kreiert er häppchenweise seine "delikate Speisenfolge" - ihr
familiäres Umfeld - um sie herum. Dazu gehören ihr Mann Paul, ihre Tochter
Brigitte, die so ungleiche Schwester Laura und deren Lebensgefährte sowie ihr
bereits verstorbener Vater.
Dabei scheinen einige Zwischengänge "geschmacklich" aus der Menüfolge
auszubrechen. Neue Episoden werden scheinbar losgelöst eingeflochten. So
begegnet der Leser in einem Kapitel Goethe
und Hemingway im Jenseits, die sich u. a. über Bettina von Arnim unterhalten,
oder er wird mit den scheinbar völlig losgelösten erotischen Abenteuern eines
Mannes mit Namen Rubens konfrontiert.
Doch der Schein trügt. Alles ist wohlüberlegt, die Grundkomposition bleibt
stets bewahrt. Der sogenannte rote Faden - (Gibt es eine Unsterblichkeit der
Seele? Falls nicht, wenigstens die Erinnerung an eine Seele in der Nachwelt?) -
durchzieht latent metaphorisch die gesamte Romanstruktur.
Kundera verwebt die Rahmenhandlung (der Ich-Erzähler Milan Kundera erfindet,
konzipiert und vollendet seinen Roman "Die Unsterblichkeit") virtuos
mit einer Binnenhandlung (Agnes und ihr direktes Umfeld). Von Zeit zu Zeit
interagieren beide und beeinflussen sich gegenseitig. Fiktion und Realität
interferieren kontrapunktisch, "wie wenn zwei Melodien in einer
Komposition verbunden werden". Diese raffiniert verknüpften
Handlungsstränge variiert der Autor zusätzlich mit kunstvoll eingestreuten Rückblenden,
Vergleichen und "poetischen Zufällen" und setzt damit eine delikate,
in sich absolut stimmige "Speisenfolge" zusammen, der ein lang
anhaltender "Abgang" - um einen Begriff aus der Degustation zu
verwenden - beschieden ist.
Mit dem "Dessert" erhalten letztendlich alle Personen ihre
wohldosierte Bestimmung oder besser: tragen zur vollendeten Würze bei. Kunderas
wunderbares Kaleidoskop findet seine genussvolle Gesamtvollendung.
Aber auch nach dem Zusammenschluss der einzelnen Episoden war es nie so
unwichtig, über die Handlung eines Romans zu diskutieren. Jedes Kapitel ist ein
Amüsement seiner selbst. Der Autor philosophiert auf genussvolle Art und Weise
über die Grundstruktur des Menschseins: einmal melancholisch, dann wieder
durchzogen von einer schwebenden Leichtigkeit, einmal ironisch oder von Zeit zu
Zeit mit einer Spur Bitterkeit. Kundera spricht Themen wie Liebe, Ehe, die
Bedeutung von Gesten, Körper, Geist, das Sein und die Originalität des Ichs
eines Menschen, Schicksal, Tod, Trauer und Glück,
Hässlichkeit und
Schönheit,
gemeinsames Erleben und Alleinsein, ja, die Grenzen der Welt an sich an.
Fazit:
Milan Kunderas Roman offenbart sich als "eine wahre Brandung von
Musik": ein Buch, das philosophisch über die Grundessenzen des
menschlichen Lebens nachdenkt, in die Ferne jenseits von Raum und Zeit lockt,
eine unbestimmte, grenzenlose Sehnsucht verspüren lässt und alle Sinne des
Lesers gefangen nimmt.
Ganz große Literatur!
(Heike Geilen; 01/2009)
Milan
Kundera: "Die Unsterblichkeit"
(Originaltitel "Nesmrtelnost")
Aus dem Tschechischen von Susanna Roth.
Fischer Taschenbuch Verlag. 416 Seiten.
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