Erwin Koch: "Nur Gutes"
Die
Wahrheit
"Der Nachruf ist die letzte Wahrheit. Alle früheren
Wahrheiten hebt er
auf. Denn die Wahrheit, so lange man lebt, ist ein Gedicht, ein
Gespenst, ein flüchtiger
Stoff, haltbar und dingfest erst im Nachruf. Was der Mensch wahrnimmt,
ist nicht
die Welt an sich, sondern ihre Spiegelung. Die Welt erscheint ihm nur
so."
Dies schreibt Simon Mangold, der Ich-Erzähler, der
über den Text einer
Todesanzeige sinniert - jener seiner Eltern. Gleichzeitig
umreißen die zwei Sätze
den Duktus des Buches Erwin Kochs, denn der Autor lässt den
Leser bis zum
Schluss im Unklaren und suggeriert ihm Empfindungen und
Gefühle, die ein
anderes literarisches Ende vorausahnen lassen.
Der bereits zweimal mit dem "Egon-Erwin-Kisch-Preis" ausgezeichnete
Schweizer Autor, dessen Debütroman "Sara tanzt" (2003)
große
Beachtung erfuhr, hat in seinem eigenwilligen, aber unglaublich
intensiven Buch
den letzten Tag von Dagmar und Albert Mangold rekonstruiert. Beinahe
minutiös
schildert er die Begebenheiten im Haus des 64-jährigen Pastors
und seiner 62-jährigen
Frau, die am 11.12. Simon zu einem Besuch erwarten. Doch anstatt ihres
Sohnes
steht dessen ehemalige erste große und einzige Liebe Anna vor
der Tür. Eine
junge Frau, die einst wegen Geiselnahme zu neun Jahren Haft verurteilt
wurde.
Auch Simon war in die Straftat involviert und musste gleichfalls - wenn
auch nur
für zwei Jahre - ins Gefängnis. Während er
die Zeit abbüßt, floh Anna damals
und tauchte unter.
Gekonnter Vorstoß in die Tiefe des Leserbewusstseins
"Ich wollte nur schnell guten Tag sagen. Wenn ich schon hier
bin",
begrüßt sie mit gehetztem Blick und einem roten
Rucksack, den sie keinen
Augenblick aus den Augen lässt, die verdutzten Pfarrersleute.
Was tun? Man
bittet sie herein. Ist doch ihr Vater einen Tag zuvor beerdigt worden.
Aber dann
scheinen sich die Ereignisse zu überschlagen. Albert Mangold,
der am Morgen
seine Predigt in der Kirche hält, kommt mit extremer
Verspätung zurück,
Simon, mittlerweile mit dem Zug in seinem Heimatort eingetroffen, wird
nicht in
die Stadt gelassen; das Quartier ist von Polizisten abgeriegelt. Grund:
Der
Friedhofswächter ist angeschossen worden.
Und Anna sitzt immer noch bei den Mangolds.
Hat sie die Tat begangen? Offensichtlich verbrachte sie die Nacht auf
dem
Friedhof. Was verbirgt sie in ihrem Rucksack, den sie krampfhaft
festhält? Die
Eheleute scheinen mit der suspekten jungen Frau in ihrem Haus gefangen
...
"Nur Gutes" hat in Ansätzen die Struktur eines Psychokrimis.
Erwin
Koch versteht es meisterlich die Spannung zu halten und sie langsam zu
steigern.
Dieses Buch birgt feinste Literatur. In einem anfänglich
gewöhnungsbedürftigen
Stil - kurze, fast stakkatoartige Sätze und ständige
Iterationen - erzeugt
Koch durch sublime Beobachtungen menschlicher Regungen und
Aufspüren scheinbar
nebensächlicher Begebenheiten eine atemberaubende,
unterschwellige Spannung,
die sich mit fortschreitender Zeit immer mehr steigert. Mit dem Einsatz
souveräner
literarischer Mittel stößt er in die Tiefe des
Leserbewusstseins vor.
Imaginationen werden Tür und Tor geöffnet
Rahmengerüst sind die Gedanken des Sohnes (in der Ich-Form)
über den zu
verfassenden Nachruf für seine
Eltern. Offensichtlich hat
Erwin Koch seine
Absichten in die Überlegungen Simons - er redigiert die
Nachruftexte bei einer
Lokalzeitung - impliziert: "... ich versuche mich
hineinzubrüten in die
Intention des Schreibers (...) ich kürze und verdichte. (...)
Deshalb ist es
mir so wichtig zu erfassen, was der Schreiber zum Ausdruck bringt. Was
ist, in
seiner Darstellung oft kaum zu durchschauen, was ist ihm unverzichtbar?
Was
verschweigt oder beleuchtet er aus welchem Grund? Welcher Wahrheit gibt
er den
Zuschlag?" Welcher Wahrheit gibt er den Zuschlag? Dies fragt
sich der
Leser während der gesamten Lektüre. Wird Anna Baumer
auch die Mörderin der
Mangolds?
In die Stimme Simons mischt der Autor die Handlung des Tagesablaufs "zwischen
acht Uhr am Morgen und sieben Uhr am Abend", geschildert von
einem
auktorialen Erzähler. Kindheitserinnerungen der beiden
Mangolds und auch Annas
lassen auf einmal nie Gesagtes zur Sprache kommen. Die Drei sitzen in
einem
nahezu autarken Raum. Die äußeren
Verhältnisse verwischt Koch mit einem
Weichzeichner, blendet sie beinahe aus, um sich
ausschließlich auf die Innenräume
zu konzentrieren. Er benutzt Techniken der Reduktion, der sparsamen
Andeutungen,
der Auslassung, des Verschweigens. Doch gerade dieses literarische
Mittel
schafft einen ungemeinen Freiraum für das Empfinden des
Lesers. Das
Nichtgesagte rückt in den Vordergrund und erzeugt
eigenständige Assoziationen.
Der Text bleibt leise und zurückhaltend, obwohl eine
unterschwellige Bedrohung
und Angst über dem häuslichen Idyll der Mangolds
liegt. Koch öffnet der
Imagination Tür und Tor.
Mit jeder Seite überträgt sich der Reiz dieser
zurückhaltenden Prosa auf den
Leser und zieht ihn in einen magischen Sog.
Fazit:
Mit "Nur Gutes" ist Erwin Koch ein beeindruckendes Buch gelungen, das
weniger an psychologisch eindeutigen Schnittmustern seiner
Protagonisten
interessiert ist, sondern vielmehr auf die Grauzonen menschlichen
Verhaltens
setzt, auch wenn es sich "nur" um eine ganz gewöhnliche
Familie
handelt.
(Heike Geilen; 09/2008)
Erwin
Koch: "Nur Gutes"
Nagel & Kimche, 2008. 176 Seiten.
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Erwin
Koch wurde 1956 geboren. Er
studierte die Rechte in Fribourg und arbeitet seit Jahrzehnten als
Reporter,
etwa für "Die Zeit", den "Spiegel" und "Das Magazin".
Weitere Bücher des Autors:
"Sara tanzt"
Der Cellist Frits, Mitläufer einer brutalen Diktatur,
erzählt in der
Untersuchungshaft die unfassbare Geschichte seiner Liebe. Sara Broffe,
Deckname
Sumatra, übernahm kleinere Aufträge für den
Widerstand. Als sie verhaftet
wird, weiß sie nicht viel zu erzählen. Aber sie
summt Lieder, um die
Einsamkeit auszuhalten. Frits, der den Auftrag erhält, die
Tonfolgen auf
verborgene Botschaften hin zu untersuchen, verfällt Saras
Schönheit und ihrer
berührenden Menschlichkeit. Zwei Leidenschaften bestimmen
seither sein Leben:
seine Musik und der riskante Versuch, Sara zu befreien. Eine
großartige Parabel
über die Grenzen der
Macht
und die Macht der
Liebe.
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"Der
Flambeur"
Dies ist die Lebensgeschichte von Siegfried Kuhn. Am Ende einer
Nachkriegskindheit am Bodensee beginnt er leidenschaftlich zu essen und
zu
kochen. Nach vielen Jahren des Tüftelns und Probierens
entwickelt er ein verblüffendes
Rezept. Bis heute wartet er auf seine Entdeckung. Der Reporter Erwin
Koch, der für
seinen Erstling "Sara tanzt" den Mara-Cassens-Preis erhielt,
erzählt
dieses außergewöhnliche Schicksal in einem Roman.
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