Michael Kleeberg: "Karlmann"
Menschliche
Enttäuschungen
Michael Kleeberg zeichnet in seinem Roman "Karlmann" ein Kaleidoskop
von Bildern und Gefühlen und skizziert großartig die
letzten fünf Jahre vor der Wiedervereinigung der Deutschen.
Als menschlichen Vertreter präsentiert er einen nicht gerade
helden-, vielleicht aber beispielhaften Hamburger.
Kleeberg wählt als Einstieg ein Ereignis, welches am 7. Juli
1985 elf Millionen Deutsche gebannt im Fernsehen verfolgten: das
legendäre Tennismatch auf dem Center Court
in Wimbledon, wo der 17-jährige Boris Becker seinen Grand-Slam-Finalgegner,
den zehn Jahre älteren Kevin Curren, in vier Sätzen
schlug.
"Wo entspringt diese ungeheure Zuversicht, die sich durch den
Bildschirm hindurch auf dich überträgt und
fortpflanzt: Es kann nichts passieren. Es kann nichts schief gehen",
so sinniert der 25-jährige Karlmann "Charly" Renn an seinem
Hochzeitstag, als er sich gemeinsam mit seinen Freunden Kai und Thommy,
von diesem "Kindmann" mit "Schweinswimpern",
"sinnlich aufgeworfenen vollen Lippen" und "weißbeflaumt-weißen,
obszön kräftigen, säulenhaften Schenkeln"
vormachen lässt, was man erreichen kann, wenn man wirklich
alles in die Waagschale wirft. "Das ist der, der unsere
Träume erfüllen wird, das ist der, der dich
spüren lässt, welch grenzenloses, welch
unermessliches Potenzial du selber hast", stellt Charly
voller Zuversicht fest ("Zuversicht fürs eigene Leben
sitzt jetzt so fest auf seinen Knochen wie das Muskelfleisch").
Er, Spross alten und reichen Hamburger Bürgertums und
Geldadels, hat heute seine Traumfrau Christine geheiratet, steht kurz
vor seinem Examen, und "der Alte", (sein Vater), schenkt ihm zur
Hochzeit doch glatt ein eigenes Autohaus, auch wenn die nicht ganz so
prestigeträchtige Marke "Opel" einen gewissen schalen
Beigeschmack hinterlässt. Trotzdem, dieser
denkwürdige Tag könnte der Beginn einer wunderbaren
Geschichte werden.
Onanistische Spannungsentladungen
Könnte ... - doch gerade am Biss des Ausnahmesportlers Becker
mangelt es dem Protagonisten.
Bereits während der abendlichen Feierlichkeiten treibt es ihn
ohne Not - außer dem unabänderlichen Verlangen,
seinen Testosteronstau abzubauen - in die Arme bzw. zwischen die
Schenkel der Brautjungfer.
Der Weg scheint vorgezeichnet, denn was so beginnt, kann eigentlich
auch nicht gut enden.
Charly findet keine Befriedigung in seiner Arbeit, außer
kurzen onanistischen Spannungsentladungen am Abend im Büro, in
der Hand den "Pirelli"-Wandkalender mit seiner "riefenstahlschen
Erotik", der ihm als das "geschmackvollste Objekt
im ganzen Komplex" erscheint. Nebenher lebt er bei
regelmäßigen Besuchen seiner ehemaligen
Klassenkameradin Meret auch noch seine animalischen und
sadomasochistischen Gelüste aus, frei nach dem Motto: "Hier
die Gefühle und die Seele, und da die Bedürfnisse des
Körpers und das Vergnügen (...) Es hat eben was,
einen eigenen Reiz, der mit allem anderen und der Liebe nichts zu tun
hat, aber auch da ist."
So treibt bzw. lässt sich Charly treiben, verliert all seine
hochfliegenden Pläne und hat am Ende kaum noch etwas
Boris-Becker-Haftes an sich. Kapitel für Kapitel - der Roman
hält fünf davon bereit, die jeweils einige Stunden
eines herausgehobenen Tages der Jahre 1985 bis 1989 erzählen -
"entwickelt" sich der einstmals hoch motivierte Bräutigam zum
gewöhnlichen Durchschnittsehemann, der schlussendlich von
seiner Ehefrau verlassen wird - und noch dazu wegen einer lesbischen
Beziehung zu ihrer Chefin - und dessen heile Welt in Trümmern
liegt.
Messerscharfe Analyse
Die mit seinem "Schicksal" vergleichbare und zeitgleiche Entwicklung
der zu Ende gehenden alten Bundesrepublik, (Genscher auf dem Balkon der
Prager Botschaft wird kurz angeschnitten, die "Gulaschkommunisten", die
den Eisernen Vorhang zwischen Ungarn und Österreich
zerschneiden, finden Erwähnung), nimmt er dabei kaum wahr,
geschweige denn weiß er sie zu gewichten.
Charlys weitere Entwicklung lässt Kleeberg jedenfalls im Raum
stehen. Eine "Aufklärung" muss wohl noch warten, ein
Nachfolgeband ist jedoch in Planung.
So weit, so wenig aufregend, meint man. Doch "Karlmann" ist
messerscharfe Analyse, und wie Kleeberg die Geschichte
präsentiert, lässt garantiert keine Langeweile
aufkommen. Verblüffend virtuos spielt der Autor mit der Zeit,
hält sie an, schweift aus, dehnt und staucht sie. Sei es nun
der Protagonist selbst oder seine Heimatstadt Hamburg, die
männliche Psyche, der städtische Alltag, Familie und
Gesellschaft, Geschäft und Politik: der Autor seziert mit
enormer Tiefenschärfe.
Auch verlangt er dem Leser einiges ab. Kleebergs
"Erzählplasma" wechselt teilweise mitten im Satz die
Perspektive: der Autor duzt seinen Helden wie einen alten Freund,
springt kurz darauf in die traditionelle auktoriale
Erzählebene oder fällt von Zeit zu Zeit, wenngleich
etwas seltener, in die erste Person Singular.
Allein mit dieser multiplen Erzählweise ist es noch nicht
abgetan. Auch die Sprachebenen wirbeln wild durcheinander;
pornografische Fantasien stehen neben hoch reflektierenden
Betrachtungen.
Melange aus intellektueller und poetischer Prosa
Michael Kleeberg offenbart eine ungemein reiche Palette literarischer
Farbgebungen und stilistischer Nuancierungen: kühle, ironische
Beschreibungen wechseln sich mit emphatischer oder empfindsamer
Anteilnahme für tragische Momente im Leben des Protagonisten
ab. Der Autor betreibt satirische Analyse genauso wie pointierte Komik.
Alles in allem eine wohldosierte Melange aus intellektueller und
poetischer Prosa.
"Karlmann" ist sozusagen Michael Kleebergs Befreiungsschlag. Zwei Jahre
lang hatte der Autor
Prousts "Combray" und "Eine Liebe Swanns"
übersetzt. Nachdem sein eigener Roman jedoch mehr oder weniger
nur ein Proust'scher Abklatsch zu werden begonnen hatte, nahm er sich
als Kur sechs Monate Proust-Pause
und las US-Amerikaner. Updikes vier "Rabbit"-Romane vor allem,
Don
DeLillo, (mit einer Hommage an dessen "Unterwelt" beginnt er seinen
Roman), und Harold Brodkey. Und Updikes "Rabbit"-Idee der Entwicklung
eines Menschen über mehrere Dekaden gab den Ausschlag
für das vorliegende Buch, das nebenbei auch noch
Thomas Manns
Lübecker Familienepos "Die Buddenbrooks" einfließen
lässt.
In einem Interview sagte Kleeberg, dass für ihn die Frage im
Vordergrund stand, "was einen festhält im Leben,
(...) was einen abhält davon, wahnsinnig zu werden oder Amok
zu laufen". Und so bedienen die fünf Kapitel des 470
Seiten starken Romans die fünf Konstanten im Lebens eines
Mannes: Liebe (Kap.1), Arbeit (Kap.2), Sex (Kap.3), Macht (Kap.4) und
Hoffnung (Kap.5).
Fazit
Von den Höhen und Tiefen im Leben eines "guten
Durchschnittsmannes" erzählt Kleeberg ausgesprochen gekonnt
und entwickelt dabei einen furiosen Zeit- und Gesellschaftsroman.
"Karlmann" ist ein außerordentliches und intellektuelles
Leseabenteuer, ein wuchtiger Roman über die Schwierigkeiten,
ein Gleichgewicht zwischen der eigenen Person und den Anderen zu
finden. Ein Buch, in das man eintaucht, um am Ende erkenntnisreicher zu
entsteigen.
(Heike Geilen; 02/2008)
Michael
Kleeberg:
"Karlmann"
DVA, 2007. 471 Seiten.
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Wie
erwähnt, ist Michael Kleeberg
auch als Übersetzer tätig:
Marc Dugain: "Der Fluch des Edgar Hoover"
Der Roman Marc Dugains widmet sich der faszinierenden Biografie des "FBI"-Direktors
Hoover aus dem Blickwinkel seines engsten Mitarbeiters und, wie
wir heute wissen, Lebenspartners Clyde Tolson. Ein ungleiches Paar, das
Truman
Capote einmal treffend "Jonny und Clyde"
nannte. Dugains
Roman über die "andere", dunkle Seite der us-amerikanischen
Politik
zeichnet ein spannendes Panorama einer bewegten Zeit, eine
skandalöse und
erschreckende Geschichte über zynische Realpolitik, die
Verstrickungen
bekannter Politiker wie JF Kennedy mit den
Mafiagrößen der Zeit und die eines
skrupellosen Mannes. (Frankfurter Verlagsanstalt) Aus dem
Französischen von
Michael Kleeberg.
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Tran-Nhut: "Das schwarze Pulver von Meister Hou. Ein
Kriminalfall für Mandarin Tân"
Der junge Mandarin Tân, Richter in einer Hafenstadt im Norden
Vietnams, hat
alle Hände voll zu tun: Eine Dschunke wird von einer Armada
von Geisterschiffen
angegriffen, der Graf Diêm wird auf unerklärliche
Weise ermordet, durch den
Hafen werden Güter geschmuggelt, der französische
Jesuit ist womöglich ein
Spion, und die geheimnisvolle Madame Eisenhut mit den langen seidigen
Zöpfen
ist auf einmal spurlos verschwunden.
Aber Mandarin Tân bekommt tatkräftige
Unterstützung durch seine Freunde, den
allen schönen Dingen zugetanen Schriftgelehrten Dinh und den
dicken Doktor Porc,
ein so dünkelhafter wie exzellenter Mediziner.
In einer turbulenten Handlung voll
Alchimie
und Kampfkunst entfaltet sich das Vietnam des 17. Jahrhunderts, das
sich ebenso
sehr gegen den mächtigen Nachbar China wie gegen die
europäischen Entdecker
und Eroberer zur Wehr setzt. (Unionsverlag) Aus dem
Französischen von Michael
Kleeberg.
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