Tanja Kinkel: "Säulen der Ewigkeit"
"Was
immer du tun willst, fang damit an."
Eigentlich wollte Tanja Kinkel über einen schottischen Maler
namens David Roberts schreiben, der im 19. Jahrhundert die Wunder der
ägyptischen Geschichte auf die Leinwand gebannt hatte, doch
dann stieß sie bei ihren Recherchen auf einige andere
Personen, die sie gerade wegen ihrer Beziehungen zueinander
faszinierten. Und so wandte sich die Autorin zunächst einmal
diesem Bereich zu.
Sarah
Belzonis Mann Giovanni Belzoni und der von
Napoleon
eingesetzte französische Prokonsul
für Ägypten Bernadino Drovetti liegen innerhalb
kürzester Zeit nach ihrer ersten Begegnung in einen
ständigen Streit um Grabungsrechte,
Eigentumsansprüche und andere Dinge, so dass Herr Belzoni
Herrn Drovetti später in seiner Autobiografie auf das
Heftigste beschimpft.
Denn nachdem der Prokonsul dem den Briten zugewandten italienischen
Landsmann bei seiner Ankunft in Ägypten zunächst
hilfreich zur Seite gestanden ist, sorgen die politischen Spannungen
zwischen Frankreich und Großbritannien schon im Ansatz
für einige Ressentiments - speziell auch von Sarahs Seite aus,
die ziemlich patriotisch auftritt - die sich nach und nach zu einer
offenen Feindschaft entwickeln. Hierzu trägt auch bei, dass
Giovanni und Sarah, die selbst aus sehr einfachen
Verhältnissen stammen und sich eigentlich unter Vorspiegelung
falscher Tatsachen in Ägypten aufhalten, die Welt und ihre
Bewohner meistens sehr schwarz-weiß sehen, was bei Giovanni
zu einer bewundernswert scheuklappenbehafteten Verfolgung seiner Ziele
auf jeder Ebene führt, und bei Sarah nach und nach zu einer
extremen Erweiterung ihrer Wahrnehmung der Umwelt. Reisen bildet eben.
Tatsächlich wird das Gespann aus Mann und Frau, das
zunächst von Malta
nach Alexandria reist, um dort für den Pascha
Ägyptens eine Wasserförderanlage zu bauen, ein
Archäologenpaar, das in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts unter widrigen Umständen Erstaunliches leistet,
wobei nicht nur ihre Gesundheit, sondern auch ihre Ehe auf eine
Zerreißprobe gestellt wird, die den Leser mindestens genauso
fesseln
wird wie die Darstellung der verschiedenen
Grabungskampagnen,
wenn man sie denn schon so nennen möchte, und die Darstellung
der Lebensumstände der Menschen in Ägypten und im
Heiligen Land in dieser Zeit. Man erfährt auch, wie eine Frau
gegen die Vorurteile der Europäer und der Ägypter
trotzdem in einem solchen Umfeld zurechtkommt und sich ungeahnte
Freiheiten erkämpft.
Das Ehepaar Belzoni und der Prokonsul sind aber
nicht die einzigen interessanten historischen Personen, die in diesem
Roman verarbeitet wurden, und so entsteht ein dicht gewebter
Wandteppich einer historischen Erzählung mit den
dazugehörigen dichterischen Freiheiten, der dem Auge
allerorten interessante Dinge bietet und das Buch zur fesselnden
Lektüre macht. |
Als eine der ersten
Engländerinnen kommt Sarah im Jahre 1815 an der Seite ihres
italienischen Mannes nach Ägypten. Noch ahnt sie nicht, welche
Abenteuer dieses geheimnisvolle, gefährliche Land für
sie bereithält, das gerade erst beginnt, sich Europa zu
öffnen. Während Giovanni Belzoni in Abu Simbel und am
Fuße der Pyramiden zum erfolgreichsten Jäger
verlorener Schätze wird, gibt Sarah sich nicht mit der Rolle
der braven englischen Ehefrau zufrieden, die geduldig auf die Heimkehr
ihres Gatten wartet. Stattdessen findet sie fern ihrer Heimat jene
Freiheit, nach der sie sich schon lange sehnt. Dabei kreuzen ihre Wege
immer wieder die des französischen Konsuls Drovetti, der mit
Belzoni um die spektakulärsten Entdeckungen wetteifert. Er ist
fasziniert von der ungewöhnlichen Frau - und setzt alles
daran, sie für sich zu gewinnen ... |
Fazit:
Unbedingt empfehlenswert.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 08/2008)
Tanja
Kinkel: "Säulen der Ewigkeit"
Droemer, 2008. 678 Seiten.
Buch
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Leseprobe:
Was immer du tun willst, fang damit an.
Als Sarah ihrer Arbeitgeberin diesen Satz aus einem Artikel
über berühmte Dichter vorlas, spürte sie,
dass sie ihn niemals wieder vergessen würde. Sie hielt inne,
und Mrs. Stapleton warf ihr einen ungehaltenen Blick zu.
Was immer du tun willst, fang damit an. Es war nur ein Zitat von
vielen, und nichts hatte sich geändert: Die verblassende
chinesische Tapete hinter Mrs. Stapleton war die gleiche, die
große Wanduhr, die Sarah bald wieder würde aufziehen
müssen, tickte weiter, und trotzdem erschien es ihr, als habe
dieser kurze Ausspruch sich direkt an sie gerichtet; er war wie eine
Hand, die in ihre Haare griff, um sie wachzurütteln. Mrs.
Stapleton räusperte sich, und Sarah erklärte, um ihre
Verlegenheit zu überbrücken, der Artikel sei zu Ende.
Sie ging hastig zu dem über, was Mrs. Stapleton "die leidige
Politik" nannte, und zu dem Bericht über Napoleon Bonapartes
Selbstkrönung zum Kaiser der Franzosen, den sie mit
gemessener, sachlicher Stimme vortrug. In Mrs. Stapletons
empörten Ausrufen über die Anmaßung des
Korsen versank der kurze Moment der Stille.
Was Sarah jedoch die ganze Nacht nicht schlafen ließ, hatte
nichts mit dem Korsen und alles mit jenem kurzen Zitat zu tun. Am
Morgen hatte sie ihre Entscheidung gefällt, ihr Leben von
Grund auf zu ändern, selbst wenn sie noch nicht genau wusste,
wie sie das anstellen sollte. Ihr Stubenhockerdasein aufzugeben und
ohne Begleitung die Straßen von London zu erkunden, statt
sich auf das unmittelbare Umfeld des Hauses von Mrs. Stapleton zu
beschränken, wie es von ihr erwartet wurde, schien ein guter
Anfang zu sein.
Sarah hatte eigentlich keinen Grund, sich zu beklagen. Mit der
Ausbildung, die ein Waisenhaus in Bristol einem aufgeweckten,
fleißigen Mädchen geben konnte, war die Stelle als
Gesellschafterin einer alten Dame in London, die sie seit drei Jahren
hatte, das Beste, was jemand wie sie erreichen konnte. Doch es
genügte Sarah nicht. Nicht mehr.
Dabei ging es ihr keineswegs um ein höheres Einkommen. Sie
stammte aus wesentlich bescheideneren Verhältnissen. Bristol
lebte von seinem Hafen, dem Handel und der Kohle, was bedeutete, dass
die Jungen in den Waisenhäusern entweder auf den Schiffen oder
in den Minen landeten, wenn sie nicht genug Intelligenz und Talent
zeigten, um als Schreiber an die Handelshäuser weitergegeben
zu werden. Auch die meisten Mädchen waren für die
Minen bestimmt, wenn sie klein und kräftig genug waren, um
sich in den engen Schächten zu bewegen. Unter der Hand
flüsterte man sich zu, dass die Kinder in den Bergwerken wegen
des Staubs, des Steinschlags und der Gasexplosionen so gut wie nie
älter als fünfzehn Jahre würden.
Nach dem Tod ihrer Eltern hatte man Sarah und ihren älteren
Bruder in das Waisenhaus gebracht, wo sie kurze Zeit später
Abschied voneinander nehmen mussten; mit zehn war er alt genug gewesen,
um unter Tage geschickt zu werden. Sie hatte ihn nie wiedergesehen. Die
Nachricht von seinem Tod war ihr erst ein halbes Jahr später
überbracht worden. "Ein Jammer. Aber er konnte weder lesen
noch schreiben; was gab es da schon für
Möglichkeiten?", hatte der Leiter des Waisenhauses gesagt.
Ja, Sarah hatte ihre Lektion sehr früh und sehr
gründlich gelernt. Sie ließ in ihrem Eifer, gelehrig
und fleißig zu erscheinen, nie nach, hatte Glück und
wurde nach ihrer Ausbildung als Lehrerin für die
Jüngsten im Waisenhaus übernommen. Eifrig, sagte man
von ihr, Miss Banne ist sehr eifrig.
Das Einzige, was dem Vorsteher des Waisenhauses an ihr nicht gefiel,
war, dass sie ihren Eifer und ihre ebenso beunruhigende wie
unschickliche Energie nun auch einsetzte, um ihn davon zu
überzeugen, keine Kinder mehr in die Bergwerke zu schicken. Da
sie bei jeder Gelegenheit ein passendes Bibelzitat zu diesem Thema zur
Hand hatte, konnte er ihr noch nicht einmal vorwerfen, sie
führe respektlose Reden. Schlimmer noch, es gelang ihr, die
übrigen Lehrer und den Archidiakon der zuständigen
Diozöse, der für die finanzielle
Unterstützung des Waisenhauses zuständig war, auf
ihre Seite zu ziehen, so dass der Vorsteher sich schließlich
dazu bereitfinden musste, nachzugeben. Doch er vergaß Sarah
dieses Verhalten nie.
Als die in London ansässige vermögende Mrs. Stapleton
auf der Suche nach einer billigen, gut christlichen Gesellschafterin
aus ihrer Heimatstadt gewesen war und der Leiter des Waisenhauses sie
empfohlen hatte - wahrscheinlich, um sie loszuwerden -, hatte es
für Sarah keinen Moment des Zögerns gegeben. Diese
Anstellung war ihre lang ersehnte Möglichkeit, dem Waisenhaus
den Rücken zu kehren. Eine Ehe hatte sie als Alternative nie
in Erwägung gezogen. Die Männer, die sie ohne Mitgift
genommen hätten, waren ihr zu töricht, zu grob oder
zu alt erschienen, während diejenigen, für die sie
ihr Herz hätte entdecken können, in der Regel selbst
zu arm waren, um auf eine Mitgift verzichten zu können.
Überdies hatte keiner ihre Sehnsucht, die Welt zu sehen,
verstanden. Also hatte sie sich von den Männern ferngehalten,
denn für eine Liebelei zwischen Tür und Angel war sie
sich zu schade.
Sarah hatte nicht damit gerechnet, dass sie in London als
Gesellschafterin in einer ähnlich erstickenden Enge leben
würde, wie sie es in Bristol als Lehrerin getan hatte, nur in
einem neueren, viel prächtigeren Haus. Aber immerhin war sie
nun nicht mehr auf das Wohlwollen einer ganzen Institution angewiesen,
sondern nur noch das einer einzigen Person, auch wenn es sich bei Mrs.
Stapleton um alles andere als eine einfache Dienstherrin handelte.
Zurückzugehen kam selbstverständlich nicht in Frage.
Nein, sie musste vorwärts blicken. Es musste ein
Vorwärts geben. Immer!
Was immer du tun willst, fang damit an. Seit Sarah am Tag vor ihrem
neunzehnten Geburtstag diesen einen Satz gelesen hatte,
träumte sie mit neuer Energie davon, keine Gesellschafterin
mehr zu sein, kein Schatten, der irgendwann nicht mehr von den Tapeten
an den Wänden zu unterscheiden war; kein Mädchen, das
nur noch ein paar Jahre hatte, bis es eine alte Jungfer genannt wurde
und seine Tage damit verbrachte, auf ein Vielleicht zu hoffen; kein
Spielball anderer, der hierhin und dahin geworfen wurde, aber sich
seinen Weg nie selbst aussuchen konnte oder, schlimmer noch, auf ewig
in einer vergessenen Ecke ruhte. Nichts dergleichen. Das war es, was
Sarah sich in jener Nacht vornahm - und ein Jahr später, kurz
nach ihrem zwanzigsten Geburtstag, war die Erfüllung ihrer
Träume in erreichbare Nähe gerückt. Sie
würde ein Leben führen, das sich von allem, was sie
gewohnt war, völlig unterschied. Sie würde nicht
länger ständig an einen Ort gebunden sein. Sie
würde einen Mann heiraten, den sie sich selbst ausgesucht
hatte. Sie war glücklich. Wenn sie abergläubisch
gewesen wäre, hätte sie fest damit gerechnet, dass am
Tag vor ihrer Hochzeit noch etwas schiefging. Aber sie war
entschlossen, nichts dergleichen zuzulassen.
"Sie haben es sehr gut bei mir", sagte Mrs. Stapleton nicht zum ersten
Mal, als Sarah erschien, um ihr die morgendliche Post und die Zeitungen
vorzulesen. Mrs. Stapleton erhielt nicht nur die Tagesblätter,
sondern auch die Monatsschriften diverser Gesellschaften wie der Geological
Society, der Gesellschaft zur Bewahrung britischen Erbes oder
der Patriotinnen gegen Bonaparte, die sich alle Hoffnungen darauf
machten, in Mrs. Stapletons Testament bedacht zu werden, und sie daher
kostenlos schickten. Mrs. Stapleton hatte keine Kinder, denen sie ihr
Vermögen eines Tages vermachen konnte, aber auch nie eine
Neigung erahnen lassen, ihr Geld für etwas anderes als ihren
eigenen Komfort einzusetzen. Oder sich von etwas anderem zu trennen, an
das sie sich gewöhnt hatte.
"Miss Banne, es bricht mir das Herz, mir vorzustellen, wie Sie sich an
einen Neger wegwerfen."
"Er ist kein Neger", entgegnete Sarah, ebenfalls nicht zum ersten Mal,
doch Mrs. Stapleton war alt, und man musste ihr zubilligen, eher
vergesslich als boshaft zu sein. Überdies war sie kurzsichtig;
bei ihrem einzigen gemeinsamen Besuch des Jahrmarkts, auf dem Sarahs
Verlobter sein Geld verdiente, hatte sie ihn als schwarzen
Häuptling in der Pantomime Philipp Quarll, oder: Der Englische
Einsiedler auftreten sehen. Ganz gleich, wie oft Sarah versucht hatte,
zu erklären, dass es sich um eine Maskerade gehandelt hatte,
Mrs. Stapleton beharrte darauf, den zukünftigen Gatten ihrer
Gesellschafterin als Afrikaner und die Verbindung daher als zutiefst
unnatürlich zu bezeichnen.
"Sie haben es mir selbst von dem Programmzettel vorgelesen", sagte sie
jetzt störrisch. "Der patagonische Samson, so stand es dort."
"Patagonien liegt in Südamerika", erwiderte Sarah und konnte
trotz bester Vorsätze nicht verhindern, dass sich eine Spur
Ungeduld in ihre Stimme mischte. "Nicht in Afrika. Außerdem
war es der Veranstalter, der Mr. Belzoni diesen Titel verlieh. Mr.
Belzoni stammt aus Padua, in Italien. Galilei und Kopernikus haben dort
gelehrt. "
"Also ist er auch noch ein Lügner, der sich als jemand
ausgibt, der er nicht ist", sagte Mrs. Stapleton schnippisch. "Woher
wollen Sie wissen, dass diese Behauptung, aus Padua zu kommen, nicht
ebenfalls eine Unwahrheit ist? Im Übrigen sehe ich eine
italienische Herkunft keineswegs als Empfehlung an, und das sollten Sie
auch nicht. Italiener sind ja fast Korsen. Oder ist das umgekehrt?
Einen Landsmann des korsischen Ungeheuers zu heiraten ist in diesen
Zeiten eigentlich Vaterlandsverrat. Ist Nelson dafür bei
Trafalgar gestorben? "
Sarah war durchaus bewusst, dass Mrs. Stapleton sie bereits bei der
ersten Ankündigung ihrer Eheabsichten hätte entlassen
können. Doch Mrs. Stapleton war zu alt, zu zänkisch
und zu einsam, um ohne vertraute Gesellschaft auszukommen, und Sarah
hatte gehofft, auch nach ihrer Heirat zumindest eine Weile noch
für sie zu arbeiten. Giovanni Belzoni musste außer
für sich selbst auch für seinen jüngeren
Bruder sorgen, der bei ihm lebte, und Geld an seine Familie in Italien
schicken. Ein zusätzliches Einkommen, solange sie noch in
England lebten, wäre hilfreich für ihre junge Ehe.
Aber nach Wochen, in denen sie das gleiche Gespräch wieder und
wieder mit der alten Dame führte, Wochen, in denen sie die
Zähne zusammenbeißen und unsinnige Vorwürfe
wie die Gleichsetzung ihres Liebsten mit Bonaparte über sich
ergehen lassen musste, schien ihr das Geld, das Mrs. Stapleton ihr
zahlte, immer weniger zu bedeuten.
"Noch ist es nicht zu spät", sagte Mrs. Stapleton bedeutsam.
"Ich bin gewillt, über Ihre Verirrung hinwegzusehen, wenn Sie
diesem unsäglichen Fehltritt ein Ende bereiten, Miss Banne.
Ehen
mit Ausländern gehen niemals gut; seien Sie
doch vernünftig."
Vernunft in Mrs. Stapletons Sinn bedeutete eine endlose Kette an Jahren
eingesperrt in kleinen und größeren Zimmern mit
einer zeternden alten Frau. Welcher Arbeitgeber ihr auch nachfolgte,
der Höhepunkt eines jeden Tages würde nur das
Vorlesen aus den Journalen sein, für das sie dankbar sein
musste. Nein, dieser Art von Vernunft wollte Sarah nicht folgen. Was
sie auf einen Jahrmarkt wie Bartholomew Fair getrieben hatte - so
gewagt das für eine unverheiratete junge Frau auch gewesen
sein mochte -, war die Sehnsucht nach mehr gewesen. Auch wenn sie nicht
sagen konnte, was genau sie sich unter "mehr" vorstellte.
"Ich werde vernünftig sein", sagte sie ruhig. "Als
verheiratete Frau werde ich meinen Pflichten bei Ihnen nicht mehr zu
Ihrer Zufriedenheit nachkommen können, Mrs. Stapleton. Daher
gebietet es die Vernunft, meine Stelle bei Ihnen zu kündigen."