Thomas King: "Medicine River"


Freunde, Familie und Erinnerungen
Ein komplexer Roman der Moderne über Identitätssuche der Indianer Kanadas


"... diese Leute in Deutschland und Japan und Frankreich und Ottawa wollen (...) Geschichten darüber hören, wie die Indianer früher waren. Ich weiß ein paar wirklich gute und lustige Geschichten, wie es heute ist, aber diese Leute sagen nein, erzähl uns von früher. Und das tue ich dann. " Dies berichtet Lionel - ein alter Indianer - ungläubig dem Protagonisten Will - einem "Halbblut" (weißer Vater, indianische Mutter) - als er von seinen Reisen nach Europa erzählt. Er spricht etwas an, das auch heute immer noch aktuell ist: Karl May und seine Indianerromantik.
Ob in Literatur, Spielfilm, Werbung oder in der Wissenschaft: Die westlich-europäische Gesellschaft ist geprägt von einem bestimmten Klischee der amerikanischen Ureinwohner. In unseren Köpfen herrschen immer noch die Bilder von vor hundert Jahren: Indianer mit Federn auf dem Kopf, mit Mokassins an den Füßen und dem Tomahawk in der Hand.

In seinem bereits 1990 geschriebenen und nun erstmals auf Deutsch erschienenen Roman "Medicine River", der mehrere Auszeichnungen erhielt, auf der Shortlist des "Commonwealth Writer's Prize" stand und 1993 verfilmt wurde, porträtiert der 1943 geborene Wahlkanadier Thomas King das Leben in einer Kleinstadt nahe einem Blackfoot-Reservat im Westen Kanadas. Das Buch des Autors - Sohn eines Cherokee und einer griechischstämmigen Mutter - bewegt sich wohltuend jenseits aller Klischees und Sentimentalitäten.

Auch wenn seine Protagonisten Indianer sind, so könnten sie genauso gut Weiße sein. Es gibt Intrigen und Klatsch, Spekulationen, dumme Streiche und jede Menge liebenswerter und lustiger Charaktere wie überall im täglichen Leben und typisch für eine kleine Gemeinde jeder Nation.

Suche nach individueller Identität
Der Icherzähler Will - ein Fotograf - ist gleichzeitig Hauptfigur des Romans. Nach zwanzig Jahren Abwesenheit kehrt er zur Beerdigung seiner Mutter an den Ort seiner Kindheit zurück - nach Medicine River. Doch was nur als kurzer Besuch geplant war, stellt sich letztendlich als einschneidender Lebensabschnitt heraus. "Schuld" trägt der Indianer Harlen Bigbear, den Will bei der Begräbnisfeierlichkeit kennenlernt und der ständig damit beschäftigt ist, das Leben anderer Leute zu regeln - ob sie das nun wollen oder nicht. Und so nimmt er in Zukunft auch bei Will den aktiven Part ein, der sich in seiner etwas passiven "Lebensresignation" und selbst auferlegten Einsamkeit eingerichtet zu haben scheint.
Er überzeugt ihn, ganz nach Medicine River zu ziehen und als Indianerfotograf zu arbeiten, "verkuppelt" ihn mit der schwangeren, unverheirateten Louise Heavyman, bringt ihn - trotz fehlenden Talents - in die einheimische Basketballmannschaft und zu jeder Menge anderer traditioneller Zusammenkünfte.
All diese gezielten Aktivitäten tragen unbewusst zu Wills langsamer erneuter Annäherung an seine indianische Kultur und seine entfremdeten Wurzeln bei.

"Medicine River" ist gestrickt aus einer Reihe von lose aneinandergereihten Zwischenfällen, die über einen Zeitraum von ca. zwei Jahren in der Gegenwart spielen. Diese Ereignisse sind überschnitten mit Rückblenden auf Wills Vergangenheit - seine Kindheit ohne Vater, seinen Bruder Jamie oder eine Liebe zu einer verheirateten Frau -, die King virtuos in sein Romankonstrukt einzuflechten weiß. Der "rote Faden" geht dabei niemals verloren. Im Gegenteil, diese Erinnerungen offenbaren stets eine gewisse Parallelität zur Gegenwart und treiben deren Handlung geradezu voran.

Dieser "rote Faden" kennzeichnet gleichzeitig Wills Suche nach seiner individuellen Identität. Thomas King gelingt dies durch den Einsatz der fünf Sinne, die langsam das Gedächtnis seines Protagonisten neu erkunden. Erinnerungen an gefühlte, gehörte, gustatorische, olfaktorische und vor allem visuelle Eindrücke durchziehen meisterhaft den ganzen Roman und zeigen, wie sich Wills eigene Identität langsam formt, zusammenfügt und festigt.

Keine Wild-West-Geschichte
Das leise, unaufdringliche und unspektakuläre Buch, geschrieben in einer wunderbaren unprätentiösen und einfachen Sprache, offenbart seinen wahren Charakter erst zwischen den Zeilen. Ruhig und sanft gleitet die Handlung dahin, immer wieder unterbrochen durch Rückblicke in die Vergangenheit.
Die Menschen, die Will während seines endgültigen Sesshaftwerdens in seiner alten neuen Heimatstadt begleiten, sind liebevoll, doch mit ironischer Distanz und herrlich trockenem Humor gezeichnet.

In "Medicine River" erwartet den Leser keine Wild-West-Geschichte, es gibt keine federgeschmückten Indianerhäuptlinge, keine Fährtensucher und auch keine überschwängliche Sozialkritik, sondern ein behutsames Offenlegen der heutigen Sichtweise und Lebenseinstellungen dieser Menschen, ihres Umgangs miteinander, Freund- und Feindschaften sowie jede Menge Familiengeschichten und Liebesepisoden. Auf einen Satz reduziert: Ein Buch über alltägliche Identitätssuche und -wahrnehmung.

Den ruhigen, mit leisem Humor durchzogenen Stil Thomas Kings hat Cornelia Panzacchi wunderbar ins Deutsche übertragen.

Fazit:
King erforscht den Sinn und die Bedeutung hinter Fotos und Erinnerungen. Ein hintergründig-anspruchsvoller, ironischer und raffiniert konstruierter Roman, der überzeugend von den komplizierten Mechanismen indianischen Lebens im Heute berichtet.

(Heike Geilen; 06/2008)


Thomas King: "Medicine River"
Übersetzt von Cornelia Panzacchi.
A1 Verlag, 2008. 261 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Wenn Coyote tanzt"

Coyote, der göttliche "Trickster" der indianischen Mythologie, bekommt eine Geschichte erzählt. Darin geht es um Eli, einen emeritierten Literaturprofessor, der ins Reservat zurückkehrt, um die Inbetriebnahme eines Wasserkraftwerks zu verhindern. Und um Charlie, der als Anwalt der Betreiber ebendiese Inbetriebnahme zu erstreiten versucht. Um Lionel, der mit vierzig Jahren eigentlich zu alt ist, um immer noch für einen verschrobenen Kapitalisten Fernsehgeräte zu verkaufen. Und um Alberta, die um jeden Preis ein Kind haben will, ohne dafür einen Ehemann in Kauf zu nehmen. Um Latisha, die Touristen Rindfleisch als Hundefleisch vorsetzt und dadurch das "Dead Dog Café" in eine Goldgrube verwandelt - und trotzdem den Fehler gemacht hat, den alle Frauen machen.
Kompliziert wird es, weil vier weise alte Indianer aus einer Irrenanstalt ausbrechen, um die Welt wieder in Ordnung zu bringen. Dass Coyote die Geschichte weitererzählen soll und immer wieder alles durcheinander bringt, macht die Sache natürlich nicht besser.
Thomas King beschreibt in seinem originellen, witzigen Roman das Leben moderner nordamerikanischer Indianer und zieht den Leser hinein in eine Welt, die von den Höhen und Tiefen des Alltags im späten 20. Jahrhundert ebenso bestimmt wird wie von überlieferten Bräuchen, von den Vorstellungen, die Nicht-Indianer von Indianern haben sowie wie von den Vorstellungen der Indianer selbst darüber, was es heißt, heute Indianer zu sein. (A1 Verlag)
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