Yaşar Kemal: "Die Hähne des Morgenrots"
Letzter Band der "Inselromane"
Mit "Die Hähne des Morgenrots" hat Yasar Kemal nun den dritten
Band seiner Insel-Trilogie vorgelegt. Diese befasst sich mit den
Gräueln des Ersten Weltkriegs und den Folgen des Vertrags von
Lausanne, der zu einer unerbittlichen, an Opfern reichen
Zwangsumsiedlung von ethnischen Griechen und Türken
führte, wie auch Mitteleuropa sie kennt.
In den ersten beiden Bänden hat der Leser Musa den Nordwind
kennen gelernt, einen jungen Tscherkessen, der im Krieg Schreckliches
erlebt hat und sich auf einer von der ursprünglich
griechischen Bevölkerung verlassenen Insel ansiedelt. Rasch
finden sich weitere Siedlungswillige auf der Ameiseninsel ein, Menschen
mit den unterschiedlichsten sozialen und ethnischen
Hintergründen und Schicksalen. Nordwind verliebt sich in
Zehra, die Tochter eines vertriebenen
türkischstämmigen Kreters, der fest daran glaubt,
bald
nach Kreta und zu seiner Pferdezucht zurückkehren zu
können.
"Die Hähne des Morgenrots" schildert den weiteren Verlauf der
Besiedlung, insbesondere aber die Aufarbeitung der
persönlichen Schicksale einiger Hauptfiguren der ersten beiden
Bände.
Nordwind etwa, der die Insel verwaltet, versucht engagiert, doch
erfolglos, Zehras Vater die Möglichkeit zur Heimkehr zu
verschaffen; gleichzeitig muss er immer damit rechnen, von seinen
Feinden aus früheren Zeiten gefunden und ermordet zu werden.
Und dann kann er plötzlich Zehra nicht mehr ansehen, ohne an
ein furchtbares Massaker an Frauen und Mädchen denken zu
müssen, dessen Zeuge er im Krieg wurde.
Einem seiner Freunde gelingt es endlich, seine Frau zu sich zu holen,
die sich zuvor in den Kopf gesetzt hatte, im alten, verlassenen Dorf
auf ihre drei als tot gemeldeten Söhne zu warten. Und ein
weiterer, Hasan der Deserteur, befreit sich von seinen
Alpträumen, nachdem er offizielle Entlassungspapiere der Armee
erhalten hat, und wird ein sehr nützliches Mitglied der
kleinen Inselgesellschaft.
Aber es gibt auch Neuzugänge, die Nordwinds und der anderen
Toleranz auf eine harte Probe stellen: Eine größere
Gruppe aus Anatolien weigert sich nicht nur, die Toiletten in ihren
Häusern zu benutzen, sondern diese Menschen verwüsten
auch die gepflegten, der Gemeinschaft gehörenden Weinberge der
Insel bei der Ernte. Als ein harter Winter Einzug hält,
müssen die Inselbewohner sich entscheiden - opfern sie die
wenigen Bäume der Insel zum Verheizen, oder riskieren sie den
Tod von Alten, Kranken und Kindern?
Yasar Kemal, Autor mit einer geradezu unglaublichen
persönlichen Biografie, versteht es, die tragischen Lebens-
und Sterbensumstände von ganzen Kollektiven anhand weniger
Einzelschicksale lebendig und geradezu plastisch darzustellen.
Ohne vorherige Lektüre der beiden ersten
Trilogiebände sollte man sich jedoch nicht an "Die
Hähne des Morgenrots" begeben, da die in Band Eins und
Zwei bereits auftretenden Personen, die auch im letzten Band
eine zentrale Rolle spielen, "neuen" Lesern nicht vorgestellt werden.
Wer mit Yasar Kemals opulentem Stil bereits vertraut ist, der an
orientalische Märchenerzähler im besten Sinne
erinnert, wird sich über die vielen breit angelegten
Geschichten in der Geschichte nicht wundern und diese
genießen, zumal ihr tiefer Gehalt unübersehbar ist.
Insgesamt befasst sich die Trilogie, wie auch Kemals weiteres Werk, mit
Lebensläufen entrechteter, entwurzelter, der Willkür
der Obrigkeit ausgelieferter Menschen: in diesem Fall jenen, die durch
die entsetzlichen Wirren
des
Ersten Weltkriegs Angehörige, Gesundheit, Hab und
Gut oder die Heimat verloren haben. Oder alles.
Vor allem in diesem Band zeigt sich, dass ein auf
Solidargemeinschaft
ausgerichtetes Gemeinwesen, und sei es noch so klein, nur unter
Schwierigkeiten existieren kann, es sei denn, ihm stehen charismatische
und begabte Anführer vor, und die Idee wird von allen
mitgetragen. Dennoch gerät das empfindliche Gleichgewicht
zwischen Mensch, Natur und Kultur, auf der kleinen Insel von Anfang an
gefährdet, im dritten Band der Trilogie völlig aus
den Fugen. Das Ende bleibt offen - man erwartet geradezu einen vierten,
abschließenden Band -, sodass der Leser sich selbst ausmalen
muss, wie es weitergehen mag: Erfüllen sich die
Liebesgeschichten? Kehren vielleicht doch noch totgeglaubte
Söhne zurück? Wird Zehras Vater begreifen, dass sein
Kreta ihm für immer verloren ist? Und kann die bunte
Gesellschaft auf der Ameiseninsel ihre Ideale aufrechterhalten?
Die Hähne des Morgenrots" bildet einen würdigen
Abschluss der Trilogie, auch wenn man, wie erwähnt, vergeblich
auf ein klassisches Ende wartet. Und die Trilogie selbst ist eine
großartig gelungene literarische Umsetzung eines in der
Türkei
zumeist verschwiegenen und in Europa übersehenen oder
vergessenen Stücks grausamer Geschichte an einem - aus
eurozentrischer Sicht - Nebenschauplatz des Ersten Weltkriegs und
unmittelbar danach.
(Regina Károlyi; 10/2008)
Yaşar Kemal: "Die Hähne des Morgenrots"
(Originaltitel "Tanyeri Horozlari ")
Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff.
Unionsverlag, 2008. 348 Seiten.
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