Reinhard Marx: "Das Kapital"

Eine Streitschrift


"Marx Brothers" im Herrn

"Dient das Kapital noch dem Menschen, oder dient der Mensch nur noch dem Kapital?" - so könnte heutzutage die zentrale Frage lauten, die im vorliegenden Buch der Erzbischof von München und Freising stellt. Er teilt mit Karl Marx zwar den Nachnamen und den Herkunftsort Trier, nicht aber die Weltanschauung - wobei er durchaus für eine globale Ordnung der Wirtschaft und eine weltweite Solidarität und Gerechtigkeit eintritt. 'Ein Plädoyer für den Menschen' (Untertitel) könnte durchaus als Motto für beide Namensvettern gelten - allerdings bemüht sich hier Bischof Marx im gesamten vorliegenden Buch und in einem vorgeschalteten "Brief" an den Sozialisten Marx die angebliche Überlegenheit der katholischen Soziallehre gegenüber dem Marxismus zu erläutern. Etwas peinlich ist freilich die Unterstellung, "dass sie (= K.M.!) nach Ihrem Tod einsehen mussten, dass Sie sich mit Ihrer Behauptung der Nicht-Existenz Gottes geirrt haben." Glaubt denn R.M. allen Ernstes, dass K.M. im Jenseits Gott begegnet ist?! Damit unterminiert er doch lediglich das mit dem hier vorgelegten Buch angestrebte Niveau. Nun, Ernst und Scherz beiseite - das ist hier nicht das Thema. Festzustellen bleibt, dass es neuerdings ein Zeitvertreib von katholischen Bischöfen zu werden droht, sich mit der Wirtschaft zu beschäftigen - war doch etwa kürzlich von dem Würzburger Bischof Friedhelm Hofmann zu lesen, er habe eine Fabrik bei Aschaffenburg besichtigt und im Gespräch von vielen der Mitarbeiter erfahren, sie hätten Angst vor der Zukunft.

Als Gemeinsamkeit der Namensvettern sieht R.M. nun, dass sie beide "soziale Ungerechtigkeiten aufdecken und anprangern" und "den Armen und Ausgebeuteten, denen, die in der Gesellschaft keine Lobby haben, eine Stimme geben und ihnen zu ihrem Recht verhelfen" möchten. Es entbehrt nicht eines gewissen unfreiwilligen Humors, wie R.M. nun K.M. nachzuweisen versucht, dass seit dem 19. Jahrhundert die Vertreter der katholischen Kirche quasi schon immer die besseren Sozialethiker waren. Immerhin habe der Mainzer Bischof Ketteler damals Gesetze gegen die Ausbeutung sowie die Gründung von Gewerkschaften gefordert. Generell wirkt es freilich amüsant, wenn da ein Wettlauf posthum angekurbelt wird, wer der größere Wohltäter und Heilsbringer für die Menschheit gewesen sei. Immerhin sollte es für die Repräsentanten des Christentums nach der Verkündung des Gebots zur Nächstenliebe selbstverständlich sein, sich beispielsweise sich auch für die Interessen der arbeitenden Bevölkerung einzusetzen. Freilich muss im Lichte des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg die Idee von der Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich dubios erscheinen.

Der Bischof muss jedenfalls dem Kapitalismuskritiker zubilligen, dass er in der Analyse der derzeitigen wirtschaftlichen Entwicklung "beunruhigend viel von dem erkenne, worüber Sie, Herr Marx, geschrieben haben". Und er muss einräumen, dass der Kapitalismus "erkennbar unter Rechtfertigungsdruck" steht. Dennoch beharrt der geistliche Würdenträger unter Berufung auf Professor Ludwig Erhard darauf, dass die Marktwirtschaft als "dezidiert moralische Alternative zum Marxismus" eine Zukunft hat. Dabei setzt er seine Hoffnung auf den 'Bund Katholischer Unternehmer' sowie die 'Katholische Arbeitnehmer-Bewegung'. Der BKU intendiert laut seiner Satzung eine "menschenwürdige Gesellschaftsordnung" und trägt "christliche Werte in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik" und versteht sich als "Bindeglied der Wirtschaft zur Kirche". Man möchte konkrete Wege zeigen, gleichzeitig "fromm und erfolgreich" zu sein. Die KAB engagiert sich für eine "gerechte und solidarische Gesellschaft", wobei "der Mensch und nicht die Wirtschaft im Mittelpunkt der politischen Entscheidungen" stehen soll. Man ist auch für einen "gesetzlich geregelten Mindestlohn"! In diesem Umfeld wirkt z.B. auch der KKV (Katholisch-Kaufmännischer Verein), der sich ausdrücklich auf Bischof Ketteler beruft. Übrigens gibt es auch einen 'Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer' (AEU), in dessen Programm u.a. steht: "Wir wollen unserer Kirche den Zugang zu Unternehmen erleichtern". BKU und AEU sind weiterhin Mitglieder in der UNIAPAC ('Union Internationale des Associations Patronales Catholiques', später umbenannt in: 'International Christian Union of Business Executives'), die sich dem "common good" verschrieben hat. Bei soviel gutem Willen bleibt eigentlich nur das Bedauern darüber, dass Industriebosse nicht generell den Eid schwören müssen: 'So wahr mir Gott helfe'.

Der Bischof muss einräumen, dass die katholische Kirche erst 1963 mit der Enzyklika 'Pacem in Terris' Demokratie und Menschenrechte in ihrer Substanz anerkannte. Und immerhin hatte sich Karl Marx schon hundert Jahre vor der katholischen Kirche für die Freiheitsrechte des Menschen stark gemacht. Im Jahr 2005 forderte Papst Johannes Paul II., Freiheit besteht, "wenn sie die Wahrheit über das Gute verwirklicht" - wenn sie sich, nach R.M., an Normen bindet. Und so möchte er, dass "Kirche und Religion öffentlich präsent" sind. Dabei geht es ihm um den "Dreiklang von lehramtlicher Verkündigung, wissenschaftlicher Reflexion und sozialer Bewegung der Gläubigen." Wir erfahren auch, dass an den 'Lehrstühlen für christliche Gesellschaftslehre' die "sozialethische Dimension des Evangeliums auf der Höhe der heutigen sozialwissenschaftlichen Diskurse" formuliert werde. Der kirchlichen Soziallehre sei eben "die freie menschliche Person" am wichtigsten - Wirtschaft, Staat und Gesellschaft sollen "effizient" und "gerecht" sein. Diesbezüglich spricht R.M. von "Ordoliberalismus".

Der Bischof paart ja durchaus Engagement mit Selbstironie, wenn er sich gern als "Herz-Jesu-Marxist" bezeichnen lässt, wenn er auf die wachsende Armut in Deutschland verweist und dringend staatliche Abhilfe einfordert. Er bemängelt die "Diskrepanz zwischen Reden und Handeln" bei den Politikern - ja er unterstellt sogar, "dass Kinder und kinderreiche Familien in unserer Gesellschaft systematisch benachteiligt werden." Er fordert eine stärkere "Beteiligungsgerechtigkeit" und er erwartet mehr Eigenverantwortlichkeit. Schon nach dem Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen bemisst sich der Gerechtigkeitsgrad einer Gesellschaft danach, "inwieweit ihre Mitglieder die tatsächliche Möglichkeit haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen." R.M. plädiert für eine "solidarische Marktordnung" mit gleichermaßen wirtschaftlicher und sozialer Stabilität. Dabei gilt der inzwischen mehrheitsfähige Grundsatz, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu subventionieren und die Bildung zu fördern.

Bildung soll nach R.M. Menschen "in klaren Werthaltungen verwurzeln, sie zu beziehungsfähigen, innerlich reichen Persönlichkeiten" entwickeln, die nicht nur einen "Job" erledigen. Im Übrigen gilt die Familie nach wie vor als "der wichtigste Ort der Wertevermittlung." Überdies reklamiert R.M. eine moralische Verantwortung der Unternehmer und Manager, es gelte das "Prinzip des Vorranges der Arbeit vor dem Kapital. (...) Kein Profit rechtfertigt entwürdigende Arbeitsbedingungen." Schließlich münden die Auslassungen des Bischofs in sein 'Plädoyer für eine solidarische Weltordnung' bzw. 'Für eine Globale Soziale Marktwirtschaft'. R.M. wünscht sich die UN quasi als Garanten einer "Global Governance" und dass die Industrieländer für die Entwicklungsländer ihre Märkte öffnen. Und er sagt: "Es geht nicht darum, einen vorhandenen Kuchen zu teilen, sondern einen größeren Kuchen zu backen." In den Entwicklungsländern muss Hilfe zur Selbsthilfe geleistet und die Korruption bekämpft werden." R.M. spricht von einer "globalen Schicksalsgemeinschaft" und proklamiert: "Es gibt keine Alternative zur Globalisierung von Gerechtigkeit und Solidarität." Bei K.M. hieß das übrigens die "Internationale".

R.M. wünscht sich eine soziale Marktwirtschaft mit "ethischem Fundament". Weltweit solle sich eine Solidarität entwickeln, "die jedem Menschen eine gerechte Teilhabe an den wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und sozialen Werten eröffnen" kann. Dabei sieht er die katholische Soziallehre als Allheilmittel. Freilich wird diese weiterhin mit dem Kapitalismus und den Erkenntnissen von Karl Marx um die Vernunfthoheit streiten müssen. Immerhin dokumentiert das vorliegende Buch, dass die Theologie zu einem Gutteil in der Gegenwart und in der Realität angekommen ist und sich konkreter für die Belange der Benachteiligten im Hier und Jetzt einzusetzen gewillt ist. Was ja, wie schon bemerkt, selbstverständlich sein sollte. Diese beiden "Marx Brothers" können jeweils ihren Teil zum Gelingen des Menschheitswohls beitragen. Und möge der Bessere dann recht behalten.

(KS; 12/2008)


Reinhard Marx: "Das Kapital. Eine Streitschrift"
Pattloch, 2008. 320 Seiten.
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Dr. Reinhard Marx (geboren 1953) ist seit 2002 Bischof von Trier. Der promovierte Theologe war zuvor seit 1996 Professor für Christliche Gesellschaftslehre in Paderborn. Bischof Marx ist Vorsitzender der "Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen" der Katholischen Deutschen Bischofskonferenz und wurde von Papst Johannes Paul II. in den "Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden" berufen.

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