Ismail Kadaré: "Der Raub des königlichen Schlafs"

Kleine Romane und Erzählungen


Eine knapp unter fünfhundert Seiten starke Sammlung der Kurzprosa Ismail Kadarés

Und diese Sammlung ist eine wirkliche Sternstunde.
Der Weg, den man als Leser in Ismail Kadarés Sammlung von Erzählungen und Kurzromanen geht, ist weit, sehr weit sogar. Doch es ist ein sehr abwechslungsreicher Weg, der von Italien bis nach China führt. Er umspannt mehr als acht Jahrhunderte und führt durch die undemokratischen Herrschaften von Großwesiren, Sultanen und kommunistischen Diktatoren. Man liest über Dekrete, die die Abschaffung des Berufsstands der Verwünscher behandeln, Schönheitskonkurrenzen für Männer auf verwünschten Almen sowie die Geschichte des albanischen Schriftstellerverbands im Spiegel einer Frau.

Ismail Kadaré fabuliert virtuos nach Lust und Laune und eröffnet dem Leser in jeder Erzählung eine neue, ungewohnte und höchst überzeugende Welt. Dass jedes Prosastück in dieser Sammlung weit entfernt und erfrischend anders als die heutzutage in Massen produzierte ich-bezogene Empfindlichkeitsprosa der jüngeren Schriftstellergeneration ist, ist selbstredend.

Die Grenzen zwischen Mythos und Wirklichkeit verschwimmen. Unter den scheinbar harmlosen Oberflächen verbergen sich ungeahnte Tiefen.
So kann ein unbeschwert anmutender Schönheitswettbewerb einen aus obsessiver Eifersucht begangenen Mord am unglücklichen Gewinner dieser Veranstaltung auslösen.
Auch die Erzählung "Der Reiter mit dem Falken", die den milzkranken italienischen Architekten Ernesto Mohr, den durch Ehe mit Mussolini verwandten Grafen Ciao und den jungen Albaner Bardh Beltoja miteinander verbindet, kulminiert in einem gewaltsamen Jahrzehnte umschließenden Tod. Und das, obwohl sich diese Männer am 7. April 1939 auf verschiedenen Seiten der Adria (bzw. diese in einem Flugzeug überquerend, was eine interessante Variante einer symbolischen geografischen Kreuzigung in Hinblick auf die späteren Ereignisse ergibt) befinden und damit jeweils zweitausend Kilometer von dem Bild entfernt sind.

Im Kurzroman "Der Blendferman" hält Ismail Kadaré Befehlsempfängern den Spiegel vor, indem er auf beeindruckende Weise zeigt, was passieren kann, wenn sich unerklärliche Unglücksfälle häufen, diese Vorgänge als Taten des Bösen Blicks abgestempelt werden und der regierende Sultan zum Trotz seiner Berater das Dekret "Blendferman" erlässt, das Blendung als Strafe für die Ausübung des Bösen Blicks vorsieht und verschiedene Blendungsarten für die verschiedenen sozialen Schichten vorgibt. Eine eindringliche Geschichte, die zeigt, wie schnell aus Mittätern und Befehlsempfängern auch Opfer werden können. Das besonders Faszinierende an dieser Erzählung ist, dass Ismail Kadaré eine Liebesgeschichte quasi in den Mittelpunkt (um den herum sich die Blendferman-Geschichte entwickelt) stellt, die in seinem Schaffen als seltenes Beispiel für Erotik eher eine (jedoch sehr überzeugende) Ausnahme darstellt.

In "Die Kirche zur Heiligen Weisheit" erfährt ein junger Architekt nach der Besetzung Konstantinopels des Sultans zweifelhaftes Vertrauen (da im Falle des Misslingens mit dem sicheren Tod zu rechnen sei) und erhält den Auftrag, die Hagia Sophia Kirche in eine Moschee umzuwandeln. Bravourös und feinfühlig, wie hier Christentum und Islam aufeinanderprallen, jedoch allein Intelligenz und Diplomatie siegen.

Parabeln wechseln sich mit report-ähnlichen Narrativen ab. Zu ersterem Genre gehört u. a. der Kurzroman "Der Adler", der magische Parallelwelten suggeriert, in die jeder von uns aus verschiedensten Gründen (die Symbolik der Diktatur in dieser Erzählung ist natürlich nur eine von vielen möglichen Deutungen) fallen kann. Ob Wahn oder Realität, lässt Ismail Kadaré gekonnt der Imagination des Lesers zur Entscheidung offen.
Die Erzählung "Die große Mauer" wiederum offenbart die abwechselnden Narrative des Aufsehers Zhong und des Nomaden Kutluk (bzw. später die des Geistes des Nomaden Kutluk). Hier durchleuchtet der Autor die brutale Ausnutzung der Menschen (beim Mauerbau) aus verschiedenen Blickwinkeln.  Im "wartenden Haufen" der Nomaden wird der Geist des Nomaden Kutluk auf einen Mann aufmerksam gemacht, der Jesus Christus heißen soll, "dessentwegen seit ewigen Zeiten alle möglichen Eingaben gemacht würden", der Ursache und Widmungsträger der vielen Kathedralen ist, "deren Kuppeln sein Zeichen tragen", und so kommt er zu dem Schluss, "dass niemand von uns auf der Erde sehnlicher erwartet wird als er".
Das Trugbild platzt, und Ismail Kadaré schließt diese Erzählung mit den Worten: "Dennoch wird man wohl sagen müssen, dass auch für ihn keinerlei Hoffnung besteht. Wenn er mit den anderen auf die Mauer zuläuft, zeigt er die Wundmale vor, die ihm von der Kreuzigung geblieben sind, aber die Wachtposten stellen sich blind. Oder sie haben, wie stets vermutet worden ist, tatsächlich keine Augen."

"Der Raub des königlichen Schlafs" ist ein großartiges, magisches, literarisches Erlebnis, ein weises und engagiertes Buch, das die Geschichte Albaniens stellvertretend für die Geschehnisse unserer und der vorhergegangenen Zeit in zwölf Prosajuwelen verpackt.
Eine Kurzprosa-Sammlung von einem der wichtigsten Schriftsteller unserer Zeit; einem Schriftsteller, der mit einer klaren, präzisen, ungekünstelten und wunderschönen Prosa fesseln kann, der viel bzw. viel Wichtiges zu sagen hat und das hier auf wunderbare Art und Weise tut.

(Roland Freisitzer)


Ismail Kadaré: "Der Raub des königlichen Schlafs"
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm.
Fischer Taschenbuch, 2010. 528 Seiten.
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Drei weitere Bücher des Autors:

"Geboren aus Stein"
zur Rezension ...

"Die Dämmerung der Steppengötter" zur Rezension ...

"Die Pyramide"
Ismail Kadaré erzählt in diesem "ägyptischen" Roman von der Errichtung der gewaltigen Cheops-Pyramide, die gebaut wurde, um die Herrschaft des jungen Pharao zu festigen und jene rebellischen Kräfte zu binden, die aus Überfluss und Wohlleben entstanden waren. Er zeichnet das hypnotische Bild einer Welt, in der die Zeit nicht in Monaten oder Jahren, sondern in abgezählten Steinen gemessen wird und in den millionenfachen, grausamen Todesfällen, die durch Transport und Bau verursacht werden. Reale wie eingebildete Verschwörungen gegen dieses monumentale Bauwerk werden unnachsichtig bestraft.
Aus Kadarés vielsagender politischer Parabel spricht die Erfahrung totalitärer Herrschaft im 20. Jahrhundert. (S. Fischer)
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